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Die Regina aber ließ sich herbei, am Abend noch ein Märchen zu erzählen.
Gernegroß
Umarbeitung eines italienischen Märchens.
Es war einmal eine Frau, die ein winziges Kindchen zur Welt brachte, das kaum so groß war als ihre Hand. Da nähte sie ihm allerliebste Kleidchen aus feinster, bunter Seide, die so gut wie nichts kosteten, denn so kleine Reste bekam sie von den Nachbarinnen gern geschenkt. Sie kaufte sich eine Puppenwiege, weil diese für das Söhnlein groß genug war. Das sah nun freilich sehr niedlich aus, war auch gesund und munter, aber die Mutter dachte an die Zukunft des Kindes. Was würde aus einem so kleinen Butzen werden, wenn sie einmal krank war oder gar sterben sollte? Und da sie wünschte, es möge mit der Zeit größer werden, nannte sie es Gernegroß. So unendlich zierlich es auch war, konnte man ihm gleichwohl eine gewisse Kühnheit nicht absprechen. Es kletterte in den Zweigen der Zimmerpflanzen umher, die für Gernegroß Riesenbäume waren, und wenn die Mutter sagte: »Brich mir nur nicht die dicksten Äste ab«, lachte das Kind mit seinem hellen Stimmlein voller Übermut und Lebensfreude. 196 Manchmal tat ihm die Mutter den Gefallen, eine Schüssel mit Wasser zu füllen, ein kleines Boot hineinzusetzen, dazu schwimmende Fische und Schwäne, wie Kinder sie zum Spielen haben, doch war dies für Gernegroß eine unabsehbar große Welt.
Die Waschschüssel war das Meer, in dem er umherschwamm, und rief er: »Mutter, mach Sturm«, dann mußte sie die Waschschüssel hin und her bewegen, damit die Wellen ordentlich hoch gingen. Zwei zurechtgeschnittene Hobelspäne waren die Ruder, mit denen Gernegroß sich durch die Wellen zu arbeiten hatte. Das war keine Kleinigkeit für ihn. Gab's Schiffbruch, war's nicht so schlimm. Die Mutter war stets in der Nähe, um Gernegroß und sein gekentertes Schiff zu retten, aber er konnte im lauwarmen Wasser auch ausgezeichnet schwimmen. Hatte er sich einmal einen Schnupfen geholt, steckte die Mutter ihn in die Schürzentasche. Da sank Gernegroß so tief und mollig hinein, daß er nur grad eben Kopf und Händchen herausstrecken konnte. In solchem Nest geborgen, neckte er oftmals seine Mutter. Sie saß nämlich eifrig strickend da, und Gernegroß zerrte mit Vorliebe am Faden, damit die Mutter eine Masche verlieren sollte, denn er war ein kleiner Schalk. Wäre er ein Junge gewesen wie andere auch, von normaler Größe und Stärke, hätte man ihn als einen rechten Wildfang bezeichnet, doch bei seiner Winzigkeit konnte Gernegroß nicht allzuviel Unfug anrichten. Trotzdem war es der Mutter doch manchmal verdrießlich, wenn er in den Milchtopf fiel oder eine gefüllte Kaffeetasse umwarf. Die Mutter mußte die Augen überall haben, wie man zu sagen pflegt, und 197 hatte stets auf ihren kleinen Sprößling zu achten, so daß sie nur wenig arbeiten und kaum das bißchen Brot verdienen konnte, das sie für sich und Gernegroß brauchte, obzwar er weniger als ein Vögelchen aß.
»Ach«, klagte sie manchmal den Nachbarn, »was soll nur aus meinem Gernegroß einmal werden?«
»Eine Stütze fürs Alter gewiß nicht«, sagten einige.
»Du könntest ihn auf dem Jahrmarkt in einer Schaubude ausstellen, da würdest du viel Geld verdienen.«
»Ach nein, ich will mein armes Kind nicht zur Schau stellen.«
»Du solltest bei Neumond in den Buchenwald gehen, oder bei Vollmond, wenn sich die Feen versammeln. Vielleicht ist eine darunter, die dein Kind groß machen kann.«
Die Frau bedankte sich und beschloß, diesen Rat zu befolgen.
So machte sie sich denn eines Tagen gegen Sonnenuntergang auf den Weg und trug Gernegroß in der Schürzentasche, die sie mit Wolle ausgefüttert hatte, damit dem Kinde die Nachtluft nicht schade. Als die Frau in den Wald kam, war es schon dunkel, und der Mond war noch nicht bis zum Walde gekommen. Gernegroß war neugierig, wollte immer das Köpfchen aus der Tasche strecken. Die Mutter aber sagte: »Bleib doch, wo es warm ist. Es ist ja dunkel, beinahe Nacht, und da gibt es nichts zu sehen.«
Gernegroß maulte:»Mutti, ich will die Nacht sehen.«
»Nein, nachts haben Kinder zu schlafen und besonders ein so klimperkleines, wie du eines bist. Wenn 198 du nicht schläfst, kannst du nicht groß werden.« Da schlief Gernegroß ein.
Die Mutter aber ging durch den Wald, und die Leuchtkäfer, die gefälligen Glühwürmlein, zeigten ihr den Weg. So kam sie auf die Waldwiese, auf der die Feen zu tanzen pflegten. Die Frau setzte sich unter einen Baum, und da sie fürchtete einzuschlafen und vielleicht durch eine ungeschickte Bewegung das Kind zu drücken, nahm sie es aus der Tasche heraus und legte es in ein Tüchlein gehüllt neben sich.
Um Mitternacht kamen sieben Feen. Sie trugen helle Kleider, wie aus Nebelglanz und Mondlicht gewoben. Die langen Haare waren wie aus Lichtstrahlen, und die Gesichter erschienen der Frau überirdisch schön. Auch der Mond war wie auf Verabredung zur Stelle und goß sein mildes Licht in großen, weichen Strömen auf die Wiese herab. Jetzt bildeten die Feen einen Kreis, hielten einander an den Händen und begannen zu tanzen, so schwebend leicht. Die Füße schienen den Boden nicht zu berühren. Die Glühwürmchen hüpften auch auf und ab, anzusehen wie ganz kleine Sterne, die sich freuten dabeizusein. Was sangen die Feen mit ihren zart girrenden Stimmen? Die Frau lauschte.
»Wer uns Feen tanzen sieht,
Bleibt verwundert stehn,
Und er mag nicht weitergehn,
Singen wir das Reigenlied.
Und wenn einer traurig ist,
Trösten wir sogleich,
Daß er all sein Leid vergißt
Hier im Feenreich.« 199
Ja, mit dem Trost allein ist mir nicht geholfen, dachte die Mutter. Wie aber wäre es, wenn ich mich an eine der Feen wenden würde, ob sie mir nicht wenigstens einen guten Rat geben kann, was ich mit meinem kleinen Kinde anfangen soll? Aber die Feen tanzten so fröhlich, daß die Mutter sie in ihrem Vergnügen nicht zu stören wagte und lieber abwarten wollte, bis die Feen an den Heimweg dachten. So saß die Mutter stundenlang, und es fiel den kleinen Feen gar nicht ein, ihren Tanz zu unterbrechen. Da kamen plötzlich ein paar Glühwürmchen in die Nähe der Frau, die sehr freundlich fragten, worauf sie hier warte.
»Ach, ich möchte mich so gerne mit einer der Feen besprechen meines Kindes wegen, das leider etwas zu klein geraten ist.«
»Wenn's weiter nichts ist, was du wünschest. Das ist eine Kleinigkeit für uns. Wir fliegen zum Tanzplatz, setzen uns den Feen aufs Haar und flüstern ihnen ins Ohr, daß ein Menschenkind ihre Hilfe sucht.«
»Oh, vielen Dank«, sagte die Frau und sah den davonschwirrenden Glühwürmchen nach, die sogleich den Feen zutaumelten, um sich ihnen aufs Haar zu setzen.
Da plötzlich verschwanden sechs Feen im Dunkel des Waldes, aber eine Fee kam wie ein anmutiger Lichtstreifen auf die arme Frau zu.
»Ach Fee, liebe, gute Fee, du hast mit deinen Schwestern gesungen:
Und wenn einer traurig ist,
Trösten wir sogleich,
Daß er all sein Leid vergißt
Hier im Feenreich.« 200
Du hörst, ich habe mir euer Lied gut gemerkt, und ich möcht' dich fragen, ob es nicht möglich ist, daß du meinem Kinde hilfst.«
»Gewiß, von Herzen gern. Sag mir nur, was deinem Kinde fehlt. Ist es sehr krank?«
»Oh, nein, es ist sehr gesund, aber es ist so winzig klein und wird darum kaum recht vorwärtskommen in der Welt. Sieh, hier liegt es. Wenn du es nur drei bis zwei Hände breit größer machen könntest.«
»Sonst wünschest du nichts? Nun, wie du willst. Ich will's aber doch etwas besser einrichten, weil du es bist und du mir so leid tust. Das Kind wird noch ungefähr zwei Hände hoch wachsen, größer kann man es nicht werden lassen. Nur in bestimmten Stunden der Not wird es so groß werden können, wie es will. Es kann ein Riese werden, wenn es den Wunsch hat und es in Augenblicken der Gefahr nötig ist. Es braucht nur den Daumen der rechten Hand in den Mund zu stecken und auf den Finger zu blasen, als wär's eine Schalmei. Dann erhält es sofort die gewünschte Größe. Nach einer guten halben Stunde wird es wieder klein, und sollte das Kind noch immer eine andere Größe brauchen, muß es nochmals am Daumen blasen. Hast du jetzt verstanden, wie es gemacht wird?«
Die Mutter wiederholte, was ihr die Fee gesagt, um zu zeigen, daß sie wohl begriffen habe.
»Oh, ich danke dir, ich danke dir tausendmal, immer will ich dir danken, gute Fee.«
»Höre, noch eines muß ich dir sagen. Dein Sohn darf sich niemals groß machen um einer bösen Sache willen, nur wenn er in Not und Gefahr ist oder es aus 201 einem anderen guten Grunde angebracht ist. Vor seinem fünfzehnten Lebensjahre kann er von seiner Gabe keinen Gebrauch machen, und es wird besser sein, daß auch du bis zu diesem Zeitpunkt dem Sohn gegenüber schweigst. Sollte er aber mit seiner Fähigkeit Mißbrauch treiben, würde sich dies schwer rächen.«
»Bitte, sag mir alles, gute Fee. Es kann nicht schaden, wenn ich meinen Sohn vor einer Gefahr rechtzeitig warne.«
»Er würde einen Höcker vorne und einen hinten bekommen, nicht mehr, aber auch nicht weniger.«
»O liebe, gute Fee, das wären zwei Höcker zuviel, aber dazu wird es niemals kommen. Ich werde schon dafür sorgen.«
»So, jetzt muß ich aber fortgehen, und du, geh auch du nur mit deinem Söhnlein nach Hause. Ich werde die Glühwürmchen beauftragen, dir den Weg zu zeigen. Komm gut heim.«
»Danke, gleichfalls, gute Fee. Hab nochmals herzlichen Dank.«
Die Fee nickte der Mutter freundlich zu und verschwand alsbald im Schatten der Bäume.
Am nächsten Morgen kam es der Mutter vor, als wäre ihr Liebling schon ein Stückchen größer geworden. Das war nun freilich ein Irrtum. Die Mutter glaubte zu sehen, was sie sich sehnlichst wünschte. Aber mit der Zeit wuchs Gernegroß doch ein Stückchen, genau wie die Fee gesagt hatte. Mit zwölf Jahren war er so groß wie ein Zwei- bis Dreijähriges, und die Nachbarkinder hatten viel Spaß an ihm, wenn er mit ihnen Verstecken spielte. Bei seiner 202 geschickten Beweglichkeit verkroch er sich manchmal in Schlupfwinkel, die den andern Kindern unzugänglich waren, da er sich in Kochtöpfen und Staubtuchkörben, in Schubfächern und Zierschränken verbergen konnte. Es war possierlich anzusehen, wie das winzige Kerlchen umhertollte. Neckten die Kinder ihn, biß er sie ungeniert ins Bein, und seine Keckheit stand in keinem Verhältnis zu seiner winzigen Erscheinung. Wenn die Mutter ihn bei ihren Einkäufen mit auf die Straße nahm, sah Gernegroß, wie sich die Jungens herumbalgten, er wäre gar zu gern dabeigewesen.
»Mutti, ich will mich auch prügeln mit den Jungens.«
»Nein, nein, das ist nichts für dich. Bleib nur schön artig.«
Verspotteten ihn die Kinder, was auch ab und zu vorkam, wurde er sehr böse, biß und kratzte wie ein wildes Tierchen um sich, aber seine Mißhandlungen taten nicht weh, und die Kinder spürten es kaum, und wenn Gernegroß noch so kräftige Ohrfeigen austeilte.
Der Kleine hatte nicht immer unrecht, weil die Kinder stets vergaßen, daß Gernegroß schon zwölf Jahre alt war, sich also nicht mehr jede Neckerei gefallen lassen mochte. Da hatte die Mutter manchmal Mitleid mit ihm und sagte: »Wenn du fünfzehn Jahre alt sein wirst, wird es besser für dich aussehen. Dann wird dir niemand etwas zuleide tun.«
»Werde ich dann die andern prügeln dürfen, Mutter?«
»Nein, das nicht. Ich hoffe, du wirst kein Vergnügen an Raufereien finden.« 203
»Hoffe lieber nicht, Mutti«, sagte der Kleine ausgelassen, wobei er noch im Übermut seine Mutter ins Bein kniff, was die brave Frau in ihrer Einfalt für einen Flohstich hielt, aber auch nicht immer.
Als Gernegroß fünfzehn Jahre alt war, bekam er am Geburtstagsmorgen statt der üblichen Geschenke von seiner Mutter eine Geschichte zu hören, die er sich mit größter Aufmerksamkeit anhörte. Die Mutter erzählte ihm, wie sie mit ihm im Walde gewesen war und wie die Feen und Glühwürmchen geleuchtet hätten. »Ja, und die Feen tanzten, sagst du, Mutter? Haben sie schön getanzt?«
»O ja, sie haben nicht nur schön getanzt, sondern auch gesungen.
Wer uns Feen tanzen sieht,
Bleibt verwundert stehn,
Und er mag nicht weitergehn,
Singen wir das Reigenlied.
Und wenn einer traurig ist,
Trösten wir ihn gleich,
Daß er all sein Leid vergißt
Hier im Feenreich.
»Das war aber schön, Mutter. Und sind die Feen dann später nach Hause gegangen? Und wo wohnten sie?«
»Wo sie wohnten, das geht uns nichts an. Du darfst mich jetzt aber nicht mehr unterbrechen. Warte ab, was ich dir noch zu sagen habe.«
Dann erzählte ihm die Mutter, was die gute Fee ihr geschenkt hatte, und daß er nur auf den Daumen blasen müsse, als wär's eine Schalmei, und dann würde er gleich groß werden. 204
»Mutter, Mutter, wie bläst man auf einer Schalmei? Zeig's mir doch.«
»Hast du dir heute früh auch die Hände gewaschen?«
»Selbstverständlich, ich hab' sie extra gut gewaschen, weil ich heute Geburtstag habe. Sieh doch, sauberer können die Hände gar nicht sein.«
Die Mutter lächelte und dachte, es könne vielleicht nicht schaden, wenn sie ihm gleich an seinem Geburtstage die Freude gönne, groß zu werden. Sie neigte sich daher zum Sohne, gab ihm einen Kuß und versuchte, leicht den Daumen anzublasen – und siehe da – alsbald wurde der Sohn groß, so groß, wie ein Junge von fünfzehn Jahren ist. Gernegroß betrachtete sich befriedigt im Spiegel.
»O Mutter, darf ich jetzt auf die Straße gehen? Ich möchte zu gern den Richetto ein bißchen verprügeln, nur ein ganz kleines bißchen. Darf ich?«
»Nein, nein, du darfst nicht, und du wirst ja auch in einer halben Stunde wieder klein.«
»Das macht nichts. Ich kann mich ja rasch wieder groß machen. Groß wie ein Riese will ich sein. Sieh, so . . .«
»Nein, nein, laß das. Ich fürchte mich sonst vor dir.«
Da nahm Gernegroß Vernunft an, und die Mutter ermahnte ihn, sich doch ja nicht um des Bösen willen zu vergrößern, er bekomme sonst zwei Höcker.
Ach was, das ist nicht sicher. Warum sollte ich grad zwei Höcker bekommen? Das hat die gute Fee wohl nicht so ernst gemeint. Sie wird es nur gesagt haben, damit ich kein ganz schlimmer Junge werde, 205 und das ist ja auch nicht meine Absicht. Aber ein bißchen prügeln wird man sich doch wohl dürfen. Das erhält frisch und gesund, und man rauft sich ja auch nur zum Spaß. So dachte Gernegroß. Weil er aber an seinem Geburtstag die Mutter nicht betrüben wollte, unterließ er es, sich als Raufbold auf der Straße zu zeigen. Er war ja im Grunde kein böser Junge, nur etwas wild und leicht erregbar.
Es war ein paar Tage später. Mutter und Sohn hatten sich schlafen gelegt. Da wurden sie plötzlich mitten in der Nacht durch ein lautes Geschrei im Schlafe gestört. »Hilfe! Zu Hilfe! Räuber und Diebe! Man bringt uns um! Man bringt uns um!«
Gernegroß war sofort hellwach: »Mutter, das ist etwas für mich. Da muß ich eingreifen.«
»Um Gottes willen, mein Sohn, bleib, wo du bist. Du wirst dich doch nicht zu Räubern begeben.«
»Laß mich, Mutter, es ist soweit. Jetzt kann ich zeigen, wer ich bin.« Mit einem Satz sprang er aus dem Bette, blies den Daumen, während er fortstürmte, blies und leistete sich eine Riesengröße und eilte ins Nachbarhaus.
Die Nachbarn, groß und klein, fielen vor Schreck in Ohnmacht. Die Räuber aber ließen ihre Beute fahren und stürmten davon, als wäre ihnen der Teufel erschienen und hinter ihnen her.
Gernegroß rieb die ohnmächtigen Nachbarn mit Essigwasser ein und war so eifrig damit beschäftigt, die Leute wieder ins Leben zu rufen, daß er nicht bemerkte, daß er inzwischen wieder so klein als vorher geworden war. Vater, Mutter und sieben große und kleine Kinder, die an allen Ecken und Enden 206 im Zimmer umherlagen, schlugen die Augen auf und blickten höchst verdutzt auf das Knirpschen, das vor ihnen stand, die Essigflasche in der Hand, die fast ebenso groß war als der kleine Mann selbst.
»Geht's euch jetzt besser oder schlechter?« fragte Gernegroß.
»Ja, ja, ja. Ach ja.«
»Besser?«
»Ja ja ja. Ach ja.«
»Oder schlechter?«
»Jajaja. Ach ja.«
»Besser oder schlechter?«
»Jajaja. Ach ja.«
Die Leute waren völlig benommen, und Gernegroß wurde nicht klug daraus, ob es ihnen jetzt besser oder schlechter ging. Doch um sicher zu gehen, wollte er den Überfallenen nochmals Essig unter die Nase reiben.
»Nein, vielen Dank sollst du haben. Es geht uns ausgezeichnet. Nur glauben wir, daß wir ein bißchen verrückt geworden sind.«
»Ja, dagegen kann ich nichts machen«, sagte Gernegroß, stellte die Essigflasche auf den Boden und empfahl sich mit einem höflichen »Gute Nacht allerseits«. Und weg war er.
Die Räuber aber, es waren nicht weniger als neun, die sich vorgenommen hatten, überall einzubrechen, wo nur etwas zu holen war, wagten nicht wieder zu kommen, weil sie eine fürchterliche Angst vor dem Riesen hatten, der ihnen so kühn entgegengetreten war.
Siegesfroh kam er zu seiner Mutter zurück, die ihn am liebsten auf den Schoß genommen hätte, doch 207 hätte dies ja wirklich nicht zu seinem Heldenstück gepaßt, und die Mutter besann sich noch rechtzeitig genug, daß ihr Sohn fünfzehn Jahre alt war.
»Die Angst hättest du sehen sollen, Mutter. So haben sie gezittert. Sieh, so . . .« Und dann zeigte Gernegroß, wie die Räuber an allen Gliedern geschlottert hatten. Die Mutter lachte.
»Und die Familie hat so gemacht . . . Ah . . . ah . . . ah . . . Und einfach hingeplumpst. Sieh so . . . Genau so haben sie gemacht . . .«
»Und was hast denn du gemacht?«
»Ich habe die Essigflasche geholt, die in der Küche auf dem Boden stand. Es war aber gar nicht leicht, den Kork herauszubekommen. Ich mußte mich eigens groß machen dafür. Aber ich hatte ja nicht die Zeit, auf den Daumen zu blasen, und ich hab' in der Aufregung den kleinen Finger statt den Daumen in den Mund gesteckt. Ich wurde nicht größer, aber geholfen habe ich den armen Überfallenen doch.«
»Das war recht, mein Sohn. Und haben die Nachbarn nicht bemerkt, daß du der Riese bist?«
»Ja, danach habe ich sie nicht gefragt. Sie wurden ja ohnmächtig. Und als sie nicht mehr ohnmächtig waren, wurden sie verrückt.«
»Verrückt? Um's Himmels willen!«
»Nun ja, der Mann hat's gesagt. Vielleicht sind sie jetzt nicht mehr so schlimm verrückt. Sie fühlten sich sehr angegriffen, schien mir.«
»Das läßt sich denken, wenn Räuber, Riesen und Zwerge in der Nacht ins Haus kommen, das muß ja auf die Nerven gehn.« 208
»Ich werde mich morgen nach dem Befinden der Leute erkundigen.«
»Das ist recht, aber mach dich nur nicht zu groß.«
»Nein, nein, nur wenn's dringend nötig ist«, versprach Gernegroß.
Am nächsten Tage sprach man von nichts anderem als vom nächtlichen Einbruch der Räuber, vom Riesen, der sie vertrieben haben sollte, und vom kleinen Gernegroß, der auch im Nachbarhause gewesen war. Einige sagten, der Riese sei ein Werwolf gewesen, der sich in einen Riesen verzaubert habe. Andere meinten, es sei ein echter, richtiger Riese gewesen. So riet man hin und her. Jeder erzählte und erklärte die Geschichte auf seine Weise, doch genau Bescheid wußte niemand. Nur was Gernegroß mit der Geschichte zu tun hatte, war allen ein vollkommenes Rätsel. Die Nachbarsleute, die Familie Piattini, berichteten, daß Gernegroß ihnen zur Seite gestanden sei, als sie ohnmächtig vor Schreck am Boden gelegen hatten. Daran konnte nicht gezweifelt werden, und die Piattinis waren dem kleinen Gernegroß, der sich so hilfreich gezeigt hatte, sehr dankbar. Doch nahmen sie nicht an, daß Gernegroß und der Riese ein und dieselbe Person gewesen sei. Da nun Gernegroß den Riesen so sehr loben hörte, war er doch ein wenig eifersüchtig, da ja eigentlich ihm dieses Lob zukam. Er sagte daher zu den Kindern auf der Straße: »Ich bin der Riese gewesen, und kein anderer.«
Die Kinder lachten ihn aus und ahnten nicht, daß Gernegroß die Wahrheit gesagt hatte. Da begannen sie zu singen: 209
Es war ein Riese Gernegroß,
Zu klein für seiner Mutter Schoß,
Doch alle Räuber fürchten ihn,
Da Riesenkraft ihm ward verliehn.
Das ärgerte Gernegroß über die Maßen, und er mußte sehr an sich halten, um den ungezogenen Jungens nicht zu zeigen, wie groß und stark er sein konnte, wenn er wollte.
Obwohl er ja für gewöhnlich sehr klein war, ging er von dieser Zeit an dennoch ohne Furcht auf die Straße, bereit, sich im Notfalle zu vergrößern. Er benutzte seine Gabe niemals, aber das Bewußtsein, daß er sie besaß, gab ihm eine große Sicherheit.
Einmal in der Abendstunde hielt er sich auf einem einsamen Hof auf, wo er zufällig Zeuge war, wie zwei große, kräftige Jungens ein schwaches Knäblein, das sich nicht wehren konnte, verprügelten. Das empörte Gernegroß so sehr, daß er den Jungens zurief: »Laßt sofort den Kleinen los, oder ihr bekommt es mit mir zu tun.«
Die Knaben brachen in ein unbändiges Gelächter aus, zupften ihn am Ärmel, als wäre er ein Püppchen, gaben auch dem kleinen Knaben noch einen Stoß, um Gernegroß noch mehr in Rage zu bringen, und sangen wieder:
Es war ein Riese Gernegroß,
Zu klein für seiner Mutter Schoß,
Doch alle Räuber fürchten ihn,
Da Riesenkraft ihm ward verliehn.
Bei diesem Spottlied beutelten sie ihn hin und her. Gernegroß knirschte mit den Zähnen: »Ich rate euch, geht eurer Wege. Ihr werdet es sonst bereuen.« 210
»O ja, wir werden es sehr bereuen«, lachten die Jungens und trieben das Spiel weiter. Da blies Gernegroß auf seinem Daumen, doch sehr heftig und nicht sanft, wie man auf einer Schalmei bläst. Da wuchs er in wenigen Sekunden zu einer Riesengröße, ergriff die Knaben, stieß sie mit den Köpfen aneinander und versetzte ihnen eine gehörige Tracht Prügel, doch schrien die Jungens noch mehr vor Entsetzen als vor Schmerzen. Kaum hatte Gernegroß seine Opfer losgelassen, als sie auch schon laut jammernd und schreiend das Hasenpanier ergriffen, während der Kleine, den Gernegroß verteidigt hatte, schon vorher Gelegenheit hatte zu entfliehen. Nun wagten zwar die beiden verprügelten Knaben nichts zu verraten. Sie fürchteten, von ihresgleichen verhöhnt zu werden, und waren fest entschlossen, die Geschichte vorläufig geheimzuhalten.
Gernegroß wurde zwanzig Jahre alt und, was ganz schlimm für ihn war: er verliebte sich in ein schönes Mädchen. Natürlich konnte der arme Bursche nicht daran denken, sich jemals zu verheiraten, und dies betrübte ihn heimlich. Das Mädchen, ein Nachbarskind mit Namen Rosa, war stets freundlich mit Gernegroß, grüßte ihn höflich, wie es sich gehörte, und wenn sie mit ihm sprach, gestattete sie sich nicht die geringste Anspielung auf seine winzige Erscheinung. Rosa besuchte manchmal die Mutter von Gernegroß, doch tat sie dies nicht nur der Mutter wegen, sondern aus Mitgefühl für Gernegroß, dessen hartes Schicksal das junge Mädchen wohl begriff. Wenn er dann Rosa so reizend plaudern hörte, bekam Gernegroß traurige Augen, und das Mädchen 211 fragte ihn einmal, warum er denn so betrübt dreinschaue.
Gernegroß antwortete: »Ach, ich habe niemanden auf der Welt, der mich liebhat.«
»Du hast doch deine Mutter«, sagte das Mädchen.
»Das ist wahr, meine Mutter liebt mich, und ich liebe auch meine Mutter. Was aber kann ich ihr sein? Du siehst, wie ich aussehe. Ich kann nichts Rechtes arbeiten. Und ich möchte gern, daß mich noch jemand liebhat, nicht nur meine Mutter.«
Da sagte Rose leise: »Aber ich hab' dich lieb, Gernegroß, und bin deine Freundin.«
Gernegroß sah sie an wie ein Kind, senkte den Kopf, und schwere Tränen quollen ihm aus den Augen.
»Oh, du darfst nicht weinen. Du weißt nicht, wie gut dein Schicksal noch werden kann. Sei nur nicht so betrübt. Es kann noch alles besser kommen, als du annimmst.« So sprach das Mädchen, und da sie ihn nur noch heftiger weinen sah, sprang sie vom Stuhl auf, neigte sich zu Gernegroß und küßte ihm wie eine große Schwester die Tränen aus den Augen. Gernegroß aber griff mit beiden Hände nach der Hand des Mädchens, die er mit seinen Lippen berührte.
Wenige Tage nach diesem Ereignis ging Gernegroß in der Abendstunde spazieren. Es hatte ihn getröstet, daß Rosa so gütig zu ihm gewesen war, und er dachte während des Wanderns, wie schön es doch sein müsse, wie alle andern Menschen leben zu dürfen. Dabei fiel ihm immer wieder das Mädchen Rosa ein, das ihm die Tränen aus den Augen geküßt hatte.
Er ging am Seeufer entlang. Es begann schon dunkel zu werden. Da sah er plötzlich ein junges 212 Paar vor sich, das ihm entgegenkam. Er sah näher hin, und da sah er, wie ein junger Mann gewaltsam ein Mädchen an sich zog, um es zu küssen. Das Mädchen wehrte sich, und als er näher hinkam, erkannte er Rosa und jenen Burschen, den er einmal verprügelt hatte. Da fühlte Gernegroß sein Blut in den Adern rauschen. Ohne zu überlegen, legte er seine Lippen an den Daumen, zischend vor Erregung. Groß und stark fühlte er sich werden wie ein junger Baum und raste auf seinen Feind los. Das Mädchen entfloh tief erschrocken. Der Bursche aber blieb wie gebannt stehen und starrte in das Gesicht des Gernegroß, doch entschlossen, seine Kräfte mit diesem zu messen. Sie rangen miteinander, aber Gernegroß blieb Sieger. Sein Feind lag am Boden. Kaltblütig ließ er ihn liegen und ging nach Hause.
Wenige Tage danach war Gernegroß verwachsen und anzusehen wie ein Ungeheuer. Die Mutter war unsagbar erschrocken und traurig, doch Gernegroß blieb seinem Unglück gegenüber völlig gleichgültig.
Am nächsten Tag ging er kurz vor Sonnenuntergang an den See, an dieselbe Stelle, wo er Rosa zum letzten Male gesehen hatte, und wo sein Feind besiegt zusammengebrochen war. Gernegroß ging nahe an den Strand, legte sich dort nieder und hatte nur den einen Wunsch, seinem Leben ein Ende zu machen. Er sah die Sonne untergehen, mit ihren Strahlen die Wellen vergoldend. Ach, dachte er, wenn die Sonne jetzt verschwunden ist, möchte ich sie morgen nicht mehr sehen. 213
Da er das Glitzern der Wellen betrachtete, zerriß plötzlich ein Schrei die feierliche Stille. Es war ein Hilferuf, der an sein Ohr drang, und da bemerkte er weit draußen im Wasser eine Frau, die ein Kind bei sich hatte und mit den Wellen kämpfte. Gernegroß riß sich die Kleider vom Leibe, doch wußte er ja, daß er sich nicht mehr vergrößern konnte. Gute Fee, hilf mir, wenn du kannst, rief er aus, doch hatte er nicht die geringste Hoffnung. Klein und elend, schwach wie er war, warf er sich ins Wasser und schwamm den Ertrinkenden zu. Er erreichte sie und löste das Kind von der Mutter. Die Mutter konnte schwimmen. Doch ihr kleines Mädchen hatte sich beim Baden zu weit hinausgewagt. Gernegroß nahm das Kind unter einen Arm und ruderte mit dem andern, sich durch die starken Wellen durchkämpfend, dem Ufer zu. Hier legte er das Kind nieder, begab sich abermals ins Wasser, um die Frau zu retten, deren Kräfte schon nachließen. Es gelang ihm. Doch kaum war er am Ufer angelangt, als er auch schon in eine tiefe Ohnmacht sank. Es kam Hilfe herbei. Gernegroß konnte nur für wenige Augenblicke die Augen öffnen und angeben, wer er sei und wo er wohne, dann sank er wieder in den Schlaf, während er zu seiner Mutter gebracht wurde.
Am nächsten Morgen jedoch – wer beschreibt seine Dankbarkeit und seine Freude? – war Gernegroß wie jeder andere Mensch, nicht zu klein, aber auch nicht zu groß. Die gute Fee hatte Mitleid mit ihm gehabt, weil auch er sich hilfreich gezeigt und sein Leben gewagt hatte, um ein anderes zu retten. 214 Jetzt war er ein schöner, junger Mann geworden, der nicht nur für seine Mutter, sondern auch für eine junge Frau sorgen konnte.
Es wird euch gewiß freuen, noch zu hören, daß jene Frau, die Gernegroß mitsamt dem Kinde gerettet hatte, eine reiche Dame war, die unserem Helden aus Dankbarkeit nicht nur eine schöne Ausstattung für sein neugegründetes Heim schenkte, sondern ihn auch ein Handwerk erlernen ließ, durch das er sich und seine Familie ernähren konnte. Doch zog Gernegroß mit seiner jungen Frau und seiner Mutter an einen andern Ort, und dort lebte er viele Jahre sehr glücklich, freilich unter einem anderen Namen, der hier nicht genannt zu werden braucht. 215