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Es war um Ostern und im Hause Marucci hatte man sich gut auf das Fest vorbereitet. Die Männer gingen am Ostermorgen zeitig nach San Fedele hinauf, um dort der Messe beizuwohnen; aber die Frauen gingen mit den Kindern in das Kirchlein, das nahe Forneta lag, weil der Weg nach San Fedele für die kleinen Kinder zu weit gewesen wäre. Man hatte das Mittagessen zeitig angesetzt, weil die Großen einen Ausflug nach Casella machen wollten. Da blieb denn die Regina mit den Kindern allein. Vezzosa und Cecco hatten sich zwar angeboten, mit den Kindern einen Spaziergang zu machen, doch blieben sie lieber bei der Großmutter. In der Fastenzeit wurde selten ein Märchen am Kamin erzählt. Man pflegte in den Wochen vor Ostern manchmal abends gemeinsam den Rosenkranz oder eine Kreuzwegandacht zu beten. Jetzt aber hatten die Kinder große Lust, wieder einmal ein Märchen zu hören. Doch war es in der Küche trotz des warmen Wetters stets ein wenig kühl, wenn dort nicht ein starkes Kaminfeuer brannte. Darum wurde verabredet, daß die Märchenstunde am Nachmittag im Garten unter dem blühenden Akazienbaum stattfinden sollte, wo es jetzt so warm und sonnig war. Die Maruccikinder 242 hatten viele Kinder aus der Nachbarschaft zu sich gebeten. Es kamen aber nicht nur die kleinen, sondern auch größere Kinder, die schon beinahe erwachsen waren. Die Regina setzte sich auf die kleine Bank unter dem Baum, und die Kinder nahmen auf dem Rasen Platz. Dann wurde sogleich begonnen.
Prinzessin Nachtvogel
serbisches Märchen nach mündlichem Bericht.
Vor vielen Jahren lebte in Serbien ein Fürst aus sehr vornehmem Geschlecht, der zwar bei manchen im Rufe eines Raubritters stand, doch tat dies seinem Ansehen keinen Abbruch. Der Fürst nun besaß eine Tochter, die über die Maßen schön war, aber leider auch ein wenig unsolide. Sie zerriß nämlich jede Nacht ein schönes Sammetkleid und ein Paar weiße Seidenschuhe, die am Morgen wie kleine gestrandete Boote halb unterm Bett lagen, während das Kleid in Fetzen zerstreut sich am Boden umhertrieb. Daß der Fürst mit solcher Ordnung nicht einverstanden sein konnte, wird man ihm nachfühlen können. Die Schneiderin, die täglich ein neues Kleid nähen mußte, kam niemals dazu, auch für andere Leute eine Bluse oder ein Röcklein zu nähen. Sie hatte dreihundertfünfundsechzig Kleider im Jahre zu nähen, von den vielen Festgewändern und Mänteln, die noch dazukamen, wollen wir gar nicht sprechen. Zur Anprobe kam die feine Kundin niemals, was freilich auch nicht nötig war, weil die Schneiderin Maß und Geschmack der Prinzessin auswendig kannte. Doch die ewige Schneiderei für immer dieselbe Person wurde langweilig, und da verlangte die Schneiderin vom Fürsten 243 so viel Lohn, daß er nicht mehr wußte, wie er die hohen Kleiderrechnungen seiner Tochter bezahlen sollte. Der Schuhmacher machte es genau wie die Schneiderin, doch hatten sich die beiden nicht miteinander verabredet. Jeder sorgte für sich, und damit fertig!
Der Fürst sprach mit seiner Tochter, die Unordnung müsse ein Ende nehmen, vor allem die nächtlichen Ausflüge. Die Prinzessin versicherte hoch und heilig, daß sie in ihrem Bette schliefe wie andere Leute auch. »Und wenn die Kleider so mürbe wie Seidenpapier sind und die Schuhe ebenfalls, dafür kann ich nichts.« Das setzte sie noch hinzu, obwohl es nicht stimmte. Da fragte der Fürst die beiden Dienerinnen seiner Tochter, wohin sie denn jede Nacht ginge. Diese schwuren bei ihrer Seligkeit, daß die Prinzessin das Haus niemals verlasse. Der Fürst glaubte ihnen nicht, ließ Wachen aufstellen, die ebenfalls schwuren, sie wüßten von nichts; aber jeden Morgen, den Gott werden ließ, waren die gutbesohlten Schuhe durchgetanzt und die Kleider so zerrissen, daß man die Fetzen kaum mehr für Sofakissen verwenden konnte, und der Lumpenhändler, der die Stoffreste abholen und verkaufen durfte, verdiente so gut, daß er sich in einem Jahr ein Häuschen davon bauen konnte.
So stand es im Schloß, und der Fürst wußte sich nicht anders zu helfen, als einen Boten ins Land zu schicken, der überall verkündete, wer angeben könne, wohin die Fürstentochter nachts gehe, der dürfe sie gern zur Frau haben. Solche Kunde zog manche flotte Burschen zum Schloß. Das einzige aber, was in Erfahrung gebracht wurde, daß die 244 Prinzessin sich in der Abendstunde putzte und dann verschwand, nützte soviel wie nichts. Die Burschen trieben sich ein paar Tage in der Schloßgegend herum. Da sie aber nichts herausbrachten über den nächtlichen Verbleib der Prinzessin, zogen sie bald wieder ab.
Schließlich machte sich ein junger Mann namens Simeonovic auf den Weg, doch, weil der Name so lang ist und wir ohnehin noch viel von ihm zu erzählen haben, wollen wir ihn kurzweg Simon nennen. Ja, also Simon hatte nichts Besseres zu tun, als sein Glück zu versuchen. Auf einer Wiese begegneten ihm drei Burschen, die im Begriff standen, sich zu verprügeln. Er sprach sie als Landleute an und fragte: »Warum seid ihr uneinig miteinander?«
Die Burschen, ohne ihre Prügelei zu unterbrechen, sagten nur: »Was fragst du uns, wenn du doch nicht mitprügeln willst?«
»Aber so wartet doch einen Augenblick! Es ist nicht ausgeschlossen, daß ich mich am Prügeln beteilige. Ich will nur gerne wissen, wofür.«
Die Burschen hielten einen Augenblick inne, denn sie sahen wohl, daß Simon ein kräftiger Kerl war, den sie gut brauchen konnten. Sie sagten: »Wenn du uns beim Prügeln helfen willst, soll's uns recht sein. Wir sind drei Brüder und drei Parteien. Wähle, welcher Partei du dich anschließen willst.«
»Schon recht, aber ich muß doch wissen, warum.«
»Warum? Du bist ein langweiliger Peter mit deinen überflüssigen Fragen. Wir haben keine Zeit, darauf zu antworten. Du siehst doch, daß wir beim Prügeln sind. Nachher können wir immer noch darüber 245 sprechen, wofür, warum, weswegen und wieso. Also zu wem von uns dreien willst du?«
»Mir ist alles dreierlei. Zu allen dreien gleichzeitig will ich, aber erweist mir den Gefallen und sagt mir, um was ihr streitet. Ich will euch helfen und keine Entschädigung dafür verlangen.«
»Ja, das fehlte auch noch«, sagte der eine, und der andere sagte: »Wir streiten um unser Erbe«, während der dritte meinte: »Nicht wahr, wir sind doch im Recht? Du stehst auf meiner Seite, nicht wahr?«
»Nein, ich will's mit euch allen dreien halten oder mit niemandem«, erklärte Simon.
Da ergriff der älteste von ihnen das Wort: »Wir sind drei Brüder und haben von unserem verstorbenen Vater drei Dinge geerbt: einen Knüppel, eine Mütze und eine Bettvorlage. Wir sind jetzt wegen der Verteilung uneins geworden.«
Simon lachte: »Das sind sanfte Sorgen. Wegen solcher Kleinigkeiten streitet ihr?«
»Das sind durchaus keine Kleinigkeiten. Mit dem Stock kann man Granit und Eisen durchschlagen. Setzt man die Mütze auf den Kopf, wird man unsichtbar, und wenn einer sich auf den Teppich setzt, gelangt er sofort, wohin es ihn gelüstet.«
»Das ist freilich etwas anderes, wenn es sich so verhält«, mußte Simon zugeben, »ich fürchte, ihr werdet euch schwer einig werden. Bedenkt, die Prügelei wird euch kaum zu einer friedlichen Einigung bringen. Seid vernünftig. Laßt ab von der Keilerei, die euch nur geschwollene Augen und Rippenschmerzen einbringt, sonst nichts. Wenn es euch recht ist, will ich alles zum Besten für euch einrichten. Ich 246 schwöre euch, der eine wird den andern nicht zu beneiden brauchen, wenn ihr mich zu eurem Schiedsrichter erwählt. Seid ihr einverstanden?«
»Sag, wie es zu machen ist. Schwören kannst du übermorgen.«
»Also, gut so. Geht mal alle drei auf den Berg dort, auf diesen kleinen Hügel, den wir da vor uns sehen. Dort oben stellt ihr euch nebeneinander auf. Wenn ich euch mit der Hand zuwinke, lauft ihr los, und wer zuerst bei mir ankommt, dem gebe ich die Bettvorlage. Wer als zweiter ankommt, erhält von mir die Kappe, und wer zuletzt ankommt, dem überreiche ich den Stock. Wie denkt ihr darüber?«
Die Brüder überlegten sich den Vorschlag eine Weile, einigten sich, und da sie Simon für einen grundehrlichen Burschen hielten, legten sie ihm das Vatererbe zu Füßen und kletterten zusammen den Hügel hinan. Kaum aber hatten sie Simon den Rücken gedreht, als dieser auch schon die Mütze auf den Kopf setzte, die ihm wie angegossen saß und ihn unsichtbar machte. Dann setzte er sich auf den Teppich, nahm den Stock in die Hand, wünschte sich aufs Schloß und flog sofort über die Köpfe der drei Brüder hinweg, doch sahen ihn diese nicht, wie er ihnen von oben herab fröhlich zuwinkte.
Beim Schloß angelangt, nahm Simon die Mütze vom Kopf und steckte sie in die Tasche. Seinen Reiseteppich rollte er zusammen und versorgte diesen in der zweiten Tasche, während er den Stock in der Hand behielt. So ließ er sich vor den Fürsten führen, dem er mitteilte, er wünsche dessen Tochter zu beaufsichtigen. 247
»Bitte sehr, bitte sehr«, sagte der Fürst und gab mit Vergnügen die Erlaubnis. Er wies Simon ein Zimmer an im selben Stockwerk, in dem die Prinzessin wohnte. Es wurde ihm auch die Türe zu ihrem Schlafraume gezeigt, damit er allenfalls Bescheid wisse. Zumal dem Fürsten sehr viel daran lag, hinter das Geheimnis seiner Tochter zu kommen, war er ganz besonders höflich mit Simon und wünschte ihm, er möge sich im Schlosse wie zu Hause fühlen.
Indessen fand Simon es hier in seinem hübschen Zimmer viel schöner als daheim, wo er in einem niedrigen Gelaß auf schmalem, hartem Feldbett schlief, während er im Schlosse ein prächtiges Lager vorfand, auf dem es sich bis gegen Mitternacht herrlich schlief. Dann aber wurde er hellwach, besann sich auf sein Unternehmen, stand rasch vom Bette auf, wusch sich und kleidete sich eilends an. Dann setzte er sein Tarnkäppchen auf, blieb wartend neben der Tür der Prinzessin und konnte unsichtbar auf alles achtgeben, was geschehen würde.
So gegen ein Uhr in der Nacht, als das ganze Schloß im tiefsten Schlafe lag, öffnete sich leise die Türe und die Prinzessin kam heraus, schön wie eine Venus, in luftblauem Sammetkleide, mit kleinen Silbersternen besät. Vor der Tür guckte sie einmal nach oben und einmal nach unten, ob auch niemand sie beobachte, und huschte dann lautlos wie ein Schatten ins Freie. Simon setzte sich auf den Teppich und wünschte sich, neben der Prinzessin zu bleiben.
Sie schwebte nur so dahin, und der Bursche immer hinterdrein. So kam man an eine Blumenwiese, und da sprach die Prinzessin: 248
»Blümlein, macht Platz, daß ich durchgehen kann.«
Die Blumen neigten sich gehorsam auseinander, und die Prinzessin konnte durchgehen, ohne auch nur ein Blümchen zu zertreten. Simon aber pflückte sich ein paar Himmelsschlüssel und ein paar Vergißmeinnicht und steckte sie in seine Tasche. Da begannen die Blumen zu sprechen:
»Prinzessin, bis jetzt bist du gut durch die Wiese gekommen, hast uns nie verletzt, heute nacht aber . . .«
Die Prinzessin erschrak, wußte nicht recht, was die Blumen besagen wollten, und sah sich um. Aber da sie nichts bemerkte, ging sie wieder beruhigt ihres Weges weiter. Als sie an einen Weinberg kam, sagte sie:
»Reben, macht Platz, daß ich durchgehen kann.«
Sogleich bogen sich die Zweige zur Seite, und die Prinzessin konnte ungehindert durch den Weinberg gehen. Simon aber, der die Trauben nicht blau, sondern golden leuchten sah, pflückte sich eine und verbarg sie in seinem Kleide. Da begann der Weinberg zu sprechen:
»Prinzessin, bis jetzt hast du keine Rebe verletzt, heute nacht aber . . .«
Was war das nur? Die Prinzessin blickte sich überall um, aber weil kein Mensch zu erblicken war, ging sie ruhig weiter. Da kam sie bald an ein Meer, in dem die Wellen recht hoch gingen. Die Prinzessin sagte: »Meer schaff Platz, damit ich hindurchgehen kann.« Da wurden die Wellen sanft, neigten sich zur Seite, so daß die Prinzessin trockenen Fußes hindurchgehen konnte wie über ein Feld.
Simon aber hob eine siebenfarbene, schöne Muschel auf, sowie ein Korallenzweiglein, an dem ein 249 niedliches Seepferdchen hing, das nicht größer war als ein kleiner Finger. Ferner fand er noch ein glitzerndes Seesternlein, das aus klaren Perlen bestand. Dies alles steckte er sich in die Tasche, aber das Meer begann sogleich zu sprechen:
»Prinzessin, bis jetzt bist du durch mich hindurchgegangen, und ich habe nichts von meinen Schätzen verloren. Heute nacht aber . . .«
Da wurde die Prinzessin sehr unruhig, sah über das weite Wellenmeer, doch war nirgends ein Schiff zu sehen, und am Himmel standen schimmernd die Sterne in vollkommener Unschuld. Da dachte die Prinzessin, das Meer wird sich geirrt haben, und ging ruhig weiter, Simon auf dem Teppich immer hinter ihr.
Als sie am Ufer angelangt waren, lag ein wundersamer Garten da, in dem die herrlichsten Blumen blühten, Magnolien und Flieder, Lilien und Rosen, und dazwischen die schönsten Obstbäume, die voller Früchte hingen, von denen Simon freilich nichts mehr anrührte. Er bewunderte nur die Pracht. Sie kamen an einen alten Brunnen, der mit einer Steinplatte zugedeckt war. Hier klopfte die Prinzessin dreimal an. Die Platte öffnete sich, und ein unterirdischer Gang, der von einem warmen, gelben Licht unsichtbar erhellt wurde, tat sich auf. Die Prinzessin schlüpfte hinein, und die Platte schloß sich, während Simon draußen im Garten stehenblieb. Aber hier war guter Rat nicht teuer, denn Simon brauchte nur mit seinem Stock einen leichten Schlag auf die schwere Platte auszuführen, und sie tat sich sofort auf, so daß Simon bequem denselben Weg wie die Prinzessin machen konnte. 250
Ja, hier unten, ja, da gab es noch was zu sehen! Hier reihte sich Saal an Saal, und alles schimmerte von Gold und Edelgestein. Das strahlte wie tausendundeine Sonne und tat doch den Augen nicht weh. Da hingen die wundersamsten Leuchter an goldenen Ketten von den Decken, einige in unsagbar sanften Farben, wie die Flügel der lichtzitternden Libelle. Andere wieder schimmerten wie viele Glühwürmchen aus weichem, dunklem Grün, doch war dieses Grün kein Moos, sondern ein besonderer Stein von traumhaft weicher, grünlicher Farbe, die an sich Leuchtkraft zu besitzen schien. Simon war von diesem Anblick so hingenommen, daß er die Prinzessin darüber vergaß.
Der Palast war voll von Menschen, die in langen Seidengewändern auf und ab rauschten, oder an gedeckten Tischen saßen und sich an auserlesenen Speisen und Weinen gütlich taten. Du lieber Gott, dachte Simon, hier sieht ja jeder Diener vornehm wie ein Baron aus, und wie gut ist es doch, daß ich hier unsichtbar bin. Ja, das war schon gut, denn er paßte gar wenig in diese Gesellschaft. Es waren nämlich alles Zauberer und Zauberinnen, die hier versammelt waren, oder nur solche, die es werden wollten. Jedenfalls wurde nur von der Zauberei gesprochen und was mit dieser Kunst zusammenhängt. In jenem Saal, wo besonders köstliche Speisen aufgestellt waren, befand sich die Prinzessin nicht. Simon jedoch, der Hunger verspürte, konnte sich unbemerkt und unsichtbar leicht ein paar Leckerbissen ergattern. Er suchte sich Tische aus, an denen zufällig niemand saß, damit nicht etwa entdeckt wurde, wenn 251 plötzlich einige Speisen fehlten. Es gab jedoch so reichlich von allem, daß Simon sich in angenehmer Verlegenheit befand und nicht wußte, ob er lieber von den herrlichen Früchten oder von den belegten Butterbroten nehmen sollte. Er gönnte sich von beidem, und alles schien einzuladen: Nimm und iß.
Er kostete noch ein paar Lachsbrötchen und wäre auch ohne das Vorbild der Zauberer dahintergekommen, daß man zu Fischen besser weißen Wein trinkt. Es gab ja nicht nur an Speisen, sondern auch an Weinen eine höchst gefällige Auswahl. Simon nahm sich zum Andenken an diese gute Mahlzeit einen goldenen Becher mit. Es war ja für die Zauberer eine Kleinigkeit, sich einen neuen Goldbecher zu zaubern, falls unter den vielen der eine, zierliche Becher ihnen fehlen sollte.
Die Musik ließ alles vergessen. Ein himmlisches Geigenspiel in hellbraun drang an sein Ohr. Eine Sängerin begann ein Lied zu singen, das Lied des Versunkenen, doch befand man sich dabei in reizender Verlegenheit, da man über die entzückende Musik die Worte und über die wundersamen Worte die Musik vergessen konnte. Es schien ein singender Hauch aus den Wänden zu dringen. Es war, als umarmten die Klänge einander. Die Sängerin begann einen hohen Ton leise anzusetzen, ließ ihn anschwellen, stärker werden, und der Klang wurde zur Knospe, die sich zärtlich erschließt. Oh, eine Rose, eine erblühte Rose. Wie schön, wie zauberhaft war das.
So stand Simon lauschend im Saal, als er plötzlich an der Tür einen bildschönen jungen Mann 252 erblickte. Der war hoch und schlank gewachsen, hatte blauschwarzes Haar und dunkle Augen, die wie eine unergründlich tiefe Nacht aus Sammet waren. Du lieber Himmel, die Augen von diesem Manne sind so schön, daß man einzig und allein von diesen Augen müßte leben können. So dachte sich Simon und verlor sich zage im Wunsche, ähnliche Augen zu besitzen. Es war der Sohn des Königs der Zauberer, der hier wartend an der Tür stand. Da kam die Prinzessin Nachtvogel aus einem andern Saale durch die weitgeöffneten Flügeltüren herein, schwebend durch den Raum und zu diesem bildschönen jungen Manne hin, der ihr glücklich zulächelte, das luftblaue Mädchen an der Hand nahm und mit ihr zu tanzen begann. Der Saal verwandelte sich. Das Licht wurde weicher, gedämpfter, floß in breiten, doch immer langsam wechselnden Farbenstrahlen von der Decke herab, die vielen tanzenden Paare beleuchtend. Simon, der die Prinzessin und ihren schönen Tänzer nicht aus den Augen lassen mochte, sah das luftblaue Kleid in die verschiedensten Farben getaucht. Es schimmerte veilchenfarben, dann wieder war es wie in einen Sonnenuntergang gehüllt, rötlich erglühend, dann wieder spielte ein warmes Gelb darüber, ein kühles Blau, ein geheimnisvolles Grün. Die Musik schien aus den Wänden zu strömen, und blickte man zu den Wänden aus mattem Elfenbein, spiegelte sich hier das Fest noch einmal, noch weicher, feierlicher in den sanftesten Farben.
Der Reigen begann langsam, und die Tanzenden bewegten sich wie in einer Harfendämmerung, schwebend leicht. So ging es stundenlang, und Simon 253 wurde nicht müde, sich dieses seltsame Schauspiel anzusehen. Als es gegen Morgen ging, wurden Tanz und Musik leidenschaftlicher, und Simon sah, wie wild die Prinzessin sich drehte, und wie ihr die Kleider zerrissen, da sich alle Tanzenden mit großer Heftigkeit bewegten, obwohl man keinen anderen Laut als die Musik der Geigen und Flöten vernahm. Nach einem stundenlangen Rausch begann sich eine Auflösung bemerkbar zu machen, die ähnlich dem Anfang war. Doch die zögernden Bewegungen der Tanzenden waren nur die selige Erschöpfung. Noch klangen die Flöten zärtlich und eindringlicher. Dann aber machte plötzlich ein greller Hahnenschrei allem ein jähes Ende.
Die Musik verstummte, und die Festgesellschaft ging rasch auseinander und war jetzt nirgends mehr zu erblicken.
Nur die Prinzessin und der Sohn des großen Zauberers blieben bis zum Schluß. »Ach, ich glaube nur an Nächte«, sagte sie zu ihm und sah ihn an. Da küßte er sie auf den Mund und ging dann mit ihr langsam dem Ausgang zu.
Hier blieben sie noch eine Weile stehen, und das war dann der Abschied bis zum nächsten Abend. Der Sohn des Zauberers blieb im Schlosse zurück, aber die Prinzessin nahm ihren Weg durch den unterirdischen Gang und mit ihr Simon.
Auf dem Rückwege jedoch sprach weder das Meer noch der Weinberg, weil Simon nicht mehr daran dachte, Seesterne aufzuheben, noch Trauben abzupflücken. Und auch die Wiese war zufrieden, weil sie ihre Blumen behalten durfte. Kein Wort sagte 254 die Wiese zur Prinzessin, die zwar leicht dahinschwebte, aber doch todmüde war. Es war die höchste Zeit, daß man wieder daheim war, denn der Tag begann schon zu grauen, und auch hier begann jetzt der Hahn zu krähen. Die Prinzessin verschwand in ihrem Zimmer, warf die zerrissenen Kleider und Schuhe von sich und begab sich eilends zu Bette, denn sie mußte wohl ein wenig rascher schlafen als andere Leute, um am Tage wieder frisch zu sein.
Simon dagegen war noch völlig benommen vom Erlebnis der Nacht. Wohl war er glücklich, daß er jetzt über die Prinzessin Bescheid wußte, die ihm in ihrer herrlichen Schönheit so gut gefiel. Dann aber gedachte er des jungen Mannes, mit dem sie getanzt hatte. Noch nie hatte er einen solch schönen Menschen gesehen wie den Sohn des Zauberers. Simon stellte sich vor den Spiegel, um einmal nachzusehen, wie er wohl selbst ungefähr aussah. Er sah in den Spiegel – und sah überhaupt nichts. Nichts, gar nichts war von ihm zu sehen. Er bekam einen Schrecken. Dann aber fiel ihm ein, daß er immer noch die Mütze auf dem Kopfe hatte, die ihn unsichtbar machte auch für sich selbst. Rasch warf er die Mütze vom Kopf. Und jetzt erblickte er im Spiegel, der die ganze Gestalt zeigte, einen ganz netten, jungen Bauernburschen mit einem recht anständigen, treuherzigen Gesicht. Nun ja, es konnte eben nicht jeder so übertrieben schön sein wie der Sohn des Zauberers, und vielleicht wurde das auch gar nicht verlangt. Simon überlegte hin und her, stand stramm vor dem Spiegel und sagte: »Ich bin, wie ich bin. Simon ist mein Name.« 255
Dann legte Simon sich ein wenig aufs Bett, obwohl er gar nicht müde war. Endlich aber schlief er doch ein wenig ein, und als er nach zwei Stunden frisch erwachte, war ihm, als habe ihm vom Glück geträumt. Die Sonne schien freundlich durch die hohen geöffneten Fenster und Simon konnte von seinem Bette aus auf einen wunderhübschen Blumengarten sehen, der ihm Augen und Herz entzückte.
Rasch stand er auf, denn es mochte an der Zeit sein, sich zum Fürsten zu begeben, der sicherlich schon auf Nachricht von Simon wartete. In der Eile hätte er beinahe seine Mütze aufgesetzt, und jetzt war es doch sicherlich nicht am Platze, sich unsichtbar zu machen. Simon steckte sein Wundermützchen sorglich in die Tasche und den unbezahlbaren Reiseteppich ebenfalls. Den Stock dagegen behielt er in der Hand. So ließ er sich durch einen Diener beim Fürsten melden, der ihn sogleich freundlich empfing. Dieser fragte ihn sogleich, ob er jetzt wisse, wo die Prinzessin gewesen sei. Da gab Simon ausführlichen Bericht über alles, was uns bekannt ist, und erzählte von Anfang bis Ende über die Erlebnisse der Nacht.
Der Fürst ersuchte Simon, in ein Nebenzimmer zu treten, da er zunächst allein mit der Prinzessin sprechen wolle. Er hatte schon vernommen, daß das luftblaue Sammetkleid und die weißen Seidenschuhe sich in beklagenswertem Zustande befanden. Der Fürst ließ seine Tochter kommen, die in einem sonnengelben Morgengewand, das mit Sommervögeln bestickt war, vor ihrem Vater erschien.
Er fragte sie: »Wo bist du gewesen?« 256
»Nirgends«, antwortete sie. Da rief der Fürst Simon herbei, er möge seiner Tochter die Wahrheit ins Gesicht sagen.
Da erzählte Simon der Prinzessin alle Einzelheiten, und nicht genug damit, holte er zum Beweise Trauben, Korallenzweige, Seepferdchen und Goldbecher aus seiner Tasche hervor.
Da wurde die Prinzessin bleich und schämte sich sehr.
»Ach, deswegen waren das Meer, der Weinberg und die Wiese mit mir unzufrieden.«
»Ja, deswegen«, sprach der Vater streng, »und auch ich werde unzufrieden mit dir sein, wenn du nicht diesen Burschen zum Manne nimmst, da ich es ihm versprochen habe.«
Die Prinzessin geriet in Verlegenheit und stammelte: »Ach, ich hätte gerne einen jungen Zauberer zum Manne genommen.«
»Oh, wenn es weiter nichts ist, was Ihr wünschet. Ein wenig zaubern kann ich auch, und wenn es Euch Vergnügen macht, will ich es Euch beweisen«, sagte Simon.
»Das möchte ich schon sehen«, entgegnete die Prinzessin, doch lächelte sie ein wenig spöttisch dabei.
Das verdroß Simon, und er sagte nicht ohne Würde: »Ihr müßt nicht meinen, daß ich Euch durch meine Zauberei gewinnen will, denn ich möchte kein Mädchen zur Frau, das mir nicht gern und freiwillig sein Jawort gibt.«
»Und wenn ich Euch mein Jawort nur meinem Vater zuliebe geben würde, lediglich, um ihm gehorsam zu sein?« 257
»Darauf verzichte ich, Prinzessin.«
»Es scheint Euch leichtzufallen, da Ihr so rasch entschlossen seid?« Simon blickte zu Boden wie in tiefes Nachdenken versunken. Dann aber hob er nach einer kleinen Weile seine klaren Augen zur Prinzessin empor und antwortete mit harter, ruhiger Stimme: »Ob mir das leicht- oder schwerfallen wird, das wird meine und nicht Eure Sache sein.«
Die Prinzessin errötete, senkte ihre Augen und blieb so verlegen stehen.
Der Fürst aber sagte zu Simon: »Ich habe Euch meine Tochter zur Frau versprochen, und mein Wort wird gelten.«
»Ich weiß. Doch bin ich bereit, Euch Euer Wort zurückzugeben, und Ihr braucht Euer Versprechen mir gegenüber wahrlich nicht einzulösen.«
»Und warum nicht?«, so fragte der Fürst verblüfft.
»Ich könnte keine Frau brauchen, die mir nicht in herzlicher Neigung angehört, die ich erwidern könnte.«
Diese Worte gefielen der Prinzessin gut, obwohl sie sich recht beschämt fühlte durch die redliche Gesinnung Simons. Dazu kam noch, daß die Ermahnungen ihres Vaters, sich fortan nicht mehr in die Gesellschaft von Zauberern zu begeben und gleich anderen wohlerzogenen Töchtern daheim zu bleiben, einen starken Eindruck auf sie gemacht hatten. Sie war jedenfalls wie umgewandelt, denn sie war ja im Grunde ihres Herzens ein gutes Kind, das sich nur vorübergehend durch falschen Glanz hatte verblenden lassen.
Wenige Tage später, nach der Aussprache mit ihrem Vater durfte sie mit Simon einen Ausflug 258 machen. Was lag näher, als sich auf den Wunderteppich zu setzen, der die beiden schwebend leicht in die schönsten Gegenden führte. So flogen sie denn miteinander über Felder und Wälder, über Dörfer und Städte. Sie bewunderten aus luftiger Höhe das Meer und die Schiffe, sahen auf die herrliche Gotteswelt hinab. Das gefiel der kleinen Prinzessin sehr, und sie klatschte vor Freude wie ein Kind in die Hände. »Oh, das ist köstlich! Welch ein wundervoller Tag! Ich glaube nur noch an Tage!«
Sie hatte recht, denn es kam eine lange Reihe von vielen schönen Tagen, die sie glücklich und zufrieden mit Simon, ihrem künftigen Gatten, verleben durfte.
»So, Kinder«, schloß die Großmutter, »das also war die Geschichte von der kleinen Prinzessin Nachtvogel, die an Tage glauben lernte, und wenn euch das Märchen gefallen hat, gebe ich heute abend noch eines zum besten.« 259