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Am ersten Weihnachtsfeiertag war die Familie Marucci zu den Nachbarsleuten Fumagalli eingeladen, während die Kinder bei der Regina daheim blieben. Ihr werdet es sicher den Fumagallis nicht übelnehmen und es ihnen als Unhöflichkeit auslegen, daß sie die fünfzehn Maruccikinder nicht auch eingeladen hatten; aber die Fumagallis, noch ein junges Ehepaar, hatten ihrerseits allein zwölf Kinder, und darunter zwei Paar Zwillinge, also vier ganz kleine Kinder, von denen zwei noch nicht laufen konnten, während das andere Zwillingspaar sich in den ersten Schritten mit noch nicht allzu großem Erfolg übte. Wenn auch auf dem Lande in der Toscana unglaublich viele Kinder in einer Küche Platz finden können, ohne zu sehr aneinanderzugeraten, läßt sich doch wohl einsehen, daß siebenundzwanzig Kinder beisammen, dazu elf Erwachsene, es ein wenig zu eng gehabt hätten. In einer italienischen kinderreichen Familie darf meistens der einzelne nicht allzu großen Wert darauf legen, sein eigenes Wort verstehen zu wollen, und danach muß sich auch der Gesprächspartner richten. So begnügt man sich damit, miteinander zu lächeln oder miteinander zu singen, was beinahe ein und dasselbe ist. 34
Die Maruccikinder hätten am liebsten gesehen, wenn sie alle miteinander, mitsamt der Großmutter einmal zu den Fumagallis hätten gehen dürfen, doch so ein Wallfahrtszug wäre auch für die Erwachsenen ein sehr zweifelhaftes Vergnügen gewesen. Vielmehr schickte man einen Teil der Fumagallikinder ins Maruccihaus, wo jetzt am Kamin zwanzig Kinder beisammen waren und einstimmig die Regina um ein Märchen baten. Die gute Frau ließ sich nicht lange bitten, zumal sie dem lebhaften Schwalbengezwitscher der Kinder nicht mehr so recht gewachsen war. Um so angenehmer war es ihr, die kleine Gesellschaft lauschen zu sehen. Sie begann also:
Die schöne Gärtnerstochter
dem Italienischen nacherzählt.
In der Gegend von Florenz gab es einmal einen Gärtner, dessen Frau gestorben war und die ihm eine wunderschöne Tochter hinterlassen hatte. Es stand aber recht traurig mit diesem Kind, weil es seit seiner Geburt nicht nur blind, sondern auch etwas verkrüppelt war, so daß es nur mühsam gehen konnte. Bis zu seinem zwölften Lebensjahr war das Kind bei einer Amme geblieben, die es gepflegt hatte. Eines Tages aber brachte die Amme das Kind ins Gärtnerhaus zurück und sagte dem Vater, sie könne das Mädchen auf keinen Fall länger bei sich behalten.
Da es bei der Amme so gut versorgt gewesen war, fragte der Gärtner: »Warum nur bringst du mir die Tochter zurück?«
»Weil sie seit zwei Monaten den ganzen lieben langen Tag über so traurig singt, daß es uns alle im Hause melancholisch macht. Wir können diese 35 Klagen, die einen Stein erbarmen könnten, nicht länger anhören.«
So blieb also das Mädchen daheim bei seinem Vater, der nun seinerseits sich die Klagelieder anhören mußte. Er verstand kein einziges Wort, denn es war mehr ein singendes Weinen, ein leise klingender Gram ohne Worte, der aus dem Kinde wie von selbst hervordrang.
»Was singst du denn eigentlich, mein Töchterchen?« So fragte der Gärtner voller Mitleid.
»Ich singe mein Leben. Mein trauriges Schicksal singe ich. Augen habe ich und kann nicht sehen. Beine habe ich und kann nicht gehen.«
»Liebes Kind, es gibt Schlimmeres auf der Welt. Sieh, du leidest keinen Hunger und kannst haben, was du willst. Du hast mich, deinen Vater, der dich liebhat. Alle Blumen in meinem Garten gehören dir.«
»Wenn mein Vater mich liebte, würde er die Blume längst gesät haben, die mir das Augenlicht gibt. Wenn mein Vater mich liebte, würde er jenen Baum gesetzt haben, dessen Frucht ich essen könnte, damit ich richtig gehen kann.«
»Aber, Kind, wie kommst du nur zu solchen Torheiten?«
»Sind es Torheiten, die ich spreche, laß mich singen.« Damit nahm sie ihr Klagelied wieder auf, das dem Vater noch weher als der Amme ins Herz schnitt. Um einen großen Garten zu betreuen, bedarf es neben dem Fleiß auch der Freude, Freude an der Arbeit, und Freude an den Blumen; aber der Gärtner war auf dem Wege beides zu verlieren, und bald war er beinahe ebenso traurig wie seine Tochter. 36
Da er nicht genügend Zeit hatte, sich um die Kleine zu kümmern, ging er zu einer alten, braven Frau, die in der Nähe wohnte. Diese fragte er:
»Könntet Ihr nicht zu mir ins Haus kommen, um ein wenig nach meiner Tochter zu sehen? Sie ist seit ihrer Geburt blind und kann auch nicht gehen. Ich brauche jemand, der für sie sorgt. Wollt Ihr es wohl sein, gute Frau? Es wäre ein leichter Dienst, und wenn ihr einverstanden seid, sagt mir, was ich Euch zum Lohn geben kann.«
»Gebt mir zu essen und zu trinken, dieselbe Kost, die Ihr gewohnt seid. Gebt mir eine Kammer mit einem Bett zum Schlafen. Gebt mir jeden Morgen einen Strauß schöner Blumen, und mit diesem Lohn will ich zufrieden sein und meine Pflicht treu erfüllen.«
Der Gärtner fand die Forderung der Frau zwar recht bescheiden, doch wunderte er sich, daß sie für jeden Morgen einen frischen Blumenstrauß verlangte. Er dachte, ein oder zwei Blumensträuße in der Woche hätten der Frau genügen dürfen, wenn sie ihr Zimmer damit schmücken wollte. Er fragte daher, was sie mit den vielen Blumen machen wolle.
»Das soll nicht Eure Sache sein«, entgegnete sie, »und wenn Ihr auf diese Bedingung nicht eingehen wollt, kann ich den Dienst nicht antreten.«
Da die Frau offensichtlich eine große Blumenfreundin war, nahm der Gärtner auch an, daß sie eine besonders gütige Person sei, und da er gerade eine solche für seine Tochter suchte, war er einverstanden und sagte der Frau alles zu, was sie für ihren Dienst als Entgelt begehrte. 37
Die Blinde ließ sich nun von der alten Frau willig ankleiden, das Haar kämmen, das Essen vorsetzen, pflegen und spazierenführen, doch blieb sie im übrigen der freundlichen Wärterin gegenüber recht verschlossen. An sonnigen Tagen führte die Frau das Mädchen in einen lauschigen Gartenwinkel, wo es unter dem schattenspendenden Baume stundenlang verblieb, während der leise Sommerwind ihm den Duft der vielen Blumen zutrug, deren süße Schönheit das Mädchen nie gesehen hatte. Da saß die arme Kleine und summte ihre zarten Klagelieder vor sich her. Im Winter sowie an Regentagen ließ die alte Frau das Kind am Fenster sitzen, und ein Vorübergehender hätte meinen mögen, das Mädchen betrachte die schöne Landschaft, die sich weit ausdehnenden Äcker und Wiesen, die nahen Gärten, die fernen Wälder, die träumend auf halber Höhe des Berges lagen. Am Horizont hoben sich die kühnen Kurven der Gebirgskette in einem warmen Braun und Grün vom reinen Blau des italienischen Himmels ab; doch war dem kleinen Mädchen versagt, die Schönheit seiner Heimat, die herrliche Natur Gottes zu betrachten und zu bewundern. So sang sie denn wieder und immer wieder ihr Klageliedchen, das natürlich auch für die alte Frau anzuhören recht schmerzlich war. Manchmal sagte sie zum Kinde: »Laß mich bei dir bleiben, ich will dir von den Blumen erzählen.«
»Nein, ich will nichts hören, ich will singen.«
»Aber, Herzchen, du wirst dich langweilen.«
»Nein, laß mich allein, ich will singen.«
»Hör, ich will dir ein sehr schönes Märchen erzählen.« 38
»Es gibt keine schönen Märchen für mich, ich will singen. Laß mich allein, ich will singen!«
Es war wirklich nicht ganz leicht, mit diesem Kinde umzugehen, doch mußte man seine Wunderlichkeiten um seines Leidens willen geduldig hinnehmen, denn es ist sicherlich ein hartes Los, nicht sehen und kaum gehen zu können. Darum ließ man auch das Kind singen, solange es wollte. Es summte aber viele Stunden vor sich her, bis es am Ende vor Müdigkeit einschlief, das Köpfchen leicht zur Seite geneigt.
Der Vater war zufrieden, daß sein Kind von der alten Frau gut versorgt wurde; aber es tat ihm im Herzen sehr weh, daß es zu keiner anderen Unterhaltung Lust bezeigte, als zu den monotonen Liedchen, von denen man selten ein Wörtlein verstand. Jeden Morgen kam die alte Frau in den Garten, um sich ihren Blumenstrauß abzuholen, den ihr der Gärtner schneiden und binden mußte. Er sagte ihr oftmals: »Könnt Ihr nicht ein wenig darauf achten, was eigentlich meine Tochter singt?«
»Ach nein, das ist leider unmöglich. Sie drängt mich ja meistens, sie allein zu lassen, und da muß ich dem armen Kinde wohl den Gefallen tun, so leid mir dies auch tut. Hoffen wir zu Gott, daß es sich mit Eurer Tochter bald bessere. Ich aber will, so treu ich kann, für sie sorgen. Nun aber seid so gut, mir die Blumen zu geben. Habt Ihr sie schon gebunden?«
»Ja, ich habe sie im Gartenhaus liegen. Ich will sie Euch sofort bringen.« Da er ihr den Strauß überreichte, lobte sie die Blumen, und der Gärtner, der sich über die freundliche Anerkennung freute, fragte abermals lächelnd: 39
»Jetzt sagt mir aber doch einmal, gute Frau, was macht Ihr nur mit den vielen Blumen? Meine vornehmste Kundschaft braucht nicht so viele Blumen als Ihr. Möchte doch zu gern wissen, was Ihr mit den vielen Blumen anfangt.«
Da wurde das Gesicht der Alten plötzlich abweisend: »Ich habe Euch schon einmal gesagt, daß Euch dies nicht zu kümmern hat.«
»Nun denn, nichts für ungut«, erwiderte der Gärtner, aber die Geschichte kam ihm doch etwas verdächtig vor, zumal die Alte jeden Tag sich wenigstens für eine Viertelstunde von Hause entfernte, was, an sich betrachtet, nichts Besonderes gewesen wäre, wenn sie für ihr Fortgehen eine harmlose Erklärung angegeben hätte. Dies aber war nicht der Fall. Der Gärtner machte die Entdeckung, daß die Frau mit einer gewissen Scheu, als habe sie etwa zu verbergen, die äußere Gartenmauer entlang strich. Der Gärtner wollte nicht mißtrauisch sein, weil die Frau sein Kind so gut behütete; aber als dieses eines Tages zu singen aufhörte, sich auch sonst recht einsilbig zeigte, konnte der Gärtner sich eines schlimmen Verdachtes gegen die Wärterin nicht länger erwehren.
Er nahm sein Töchterchen in einer arbeitsfreien Stunde beiseite und fragte: »Sag mir doch, mein Liebling, warum singst du denn jetzt gar nicht mehr? So traurig mich deine Lieder auch machen, bin ich noch trauriger, wenn du ganz und gar schweigst. Sag's deinem Vater, mein Herzchen, was dir fehlt.«
»Ich kann nicht mehr singen, Vater. Sobald ich es nur versuche, ist mir, als spüre ich eine Hand an meiner Kehle, die mich würgt.« 40
»Oh, du mein Armes, Kleines.« Besorgt nahm der Vater das Kind in die Arme und küßte sachte die blinden Augen.
Als aber das Kind in kurzer Zeit in immer tiefere Melancholie versank und von der alten Frau überhaupt nichts mehr wissen wollte, hielt der Gärtner es für ratsam, sie zu entlassen, was sie aber recht übel aufnahm. Ohne Gruß verließ sie das Haus.
Kaum aber hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, als auch schon das Kind wieder zu singen begann. Es rief seinem Vater zu: »Vater, komm und hör mich singen.« Rasch kam er herbeigeeilt, und diesmal hörte er, was seine Tochter sang.
»Ich lausche und warte in stiller Nacht.
Es klopft an die Tür. Jetzt aufgemacht.
Auf Regen muß folgen der Sonnenschein.
Nach Leid kommt die Freude ins Herz hinein
O Leben und Liebe . . .«
»Sing weiter, mein Kind, singe.«
»Wie es weitergeht, weiß ich nicht, Vater. Ich muß es vergessen haben, oder niemals gewußt.«
»Und wer hat dich dies Lied gelehrt, mein Kind?«
»Niemand.«
»Und worauf wartest du in stiller Nacht?«
»Ich weiß es nicht, Vater.«
»Wie aber ist dir denn das Lied in den Sinn gekommen, mein Liebling?«
»Es war da, Vater. Mir ist, als habe ich es mir nicht ausgedacht. Das Lied war plötzlich da, als wolle es von mir gesungen sein.«
Der Gärtner war tief erstaunt, doch beglückte es ihn, daß das Kind mit ihm sprach. Es fragte: 41
»Sag mir, Vater, warum bringst du nicht die Blume zum Blühen, die meine Augen öffnen wird, damit ich sehen kann?«
»Töchterchen, wie gern würde ich dies tun! Keine Blume möchte ich lieber hegen und pflegen als jene, die dir das Augenlicht schenken könnte. Aber was für eine Blume kann das sein? Ich fürchte, kein Gärtner auf Erden kennt sie.«
Das Mädchen schien auf die Worte kaum zu achten und fragte weiter:
»Vater, warum setzt du nicht den Baum in die Erde, jenen Baum, von dessen Früchten ich essen möchte, damit ich wieder gehen kann?«
»Töchterchen, wie gern würde ich dies tun! Keinen Baum möchte ich sorglicher betreuen als jenen, dessen Früchte dir helfen könnten. Seine kostbaren Früchte möchte ich in deinen Schoß legen, und wenn die Früchte dich zu heilen vermöchten, würde ich mit dir vor Freude den guten Baum umarmen, und wir würden ihn dankbar umtanzen, Hand in Hand. Ach, Kind, warum erzählst du mir von einem Baum, den es kaum geben kann auf der Welt? Noch nie hörte ich von diesem Baum, und du wirst wohl nur von ihm geträumt haben, mein Kleines.«
»Dann laß mich weiter träumen, Vater«, erwiderte das Kind, und wieder begann es zu singen:
»Ich lausche und warte in stiller Nacht.
Es klopft an die Tür. Jetzt aufgemacht.
Auf Regen muß folgen der Sonnenschein.
Nach Leid kommt die Freude ins Herz hinein.«
Von dieser Zeit an ereignete sich in jeder Mitternachtsstunde etwas Sonderbares im Hause des 42 Gärtners. Im besten Schlafe wurde er nämlich Punkt zwölf Uhr jede Nacht durch ein starkes Klopfen an die Türe in seiner Ruhe gestört. Jedesmal sprang er aus dem Bett, eilte ans Fenster, um zu fragen, wer draußen sei, doch bemerkte er selbst bei hellem Vollmond keine menschliche Seele.
Am nächsten Morgen fragte der Gärtner seine Tochter, ob sie nicht das Klopfen an der Türe vernommen habe.
»Nein, Vater, ich habe nichts gehört. Du wirst geträumt haben.«
Indessen war doch nicht anzunehmen, daß er wochenlang jede Nacht denselben Traum haben konnte. Daher hatte der Gärtner allmählich, weil das Klopfen nicht aufhören wollte, die alte Frau in Verdacht, sie sei die Veranlassung des Spuks. Mehr noch, er hielt es nicht für ausgeschlossen, daß sie eine Hexe sei. Freilich hütete er sich wohl, seine Gedanken zu äußern, denn man soll nur in den allerdringendsten Notfällen, wo es sich um eine wirkliche Gefahr handelt, etwas Nachteiliges über einen Menschen sagen, und dies auch nur an jener Stelle, von der Hilfe zu erwarten ist. Der gute Ruf eines Menschen ist wie Milch, die das geringste Stäubchen zu trüben vermag. Das wußte auch der Gärtner und ging daher vorsichtig zu Werke.
Er ging zur alten Frau, in der Hoffnung von ihr zu erfahren, was sie ihrerseits von der Klopferei hielte, und aus Antwort und Benehmen vielleicht seine Schlüsse zu ziehen. Die alte Frau war aber fortgezogen, und kein Mensch in der Nachbarschaft wußte, wohin. Man erzählte dem Gärtner, daß sie viel das 43 Spinnrad gedreht habe, doch habe niemand gewußt, was sie mit dem vielen Garn anstelle. Das ging ja nun freilich keinen Menschen etwas an, aber neugierig, wie Leute ja manchmal sind, hatte man die alte Frau doch befragt:
»Was macht Ihr nur aus dem vielen Gesponnenen?«
Da hatte die Frau ärgerlich gebrummt: »Ich drehe eine Schnur, an der Ihr Euch aufhängen könnt.« Das war nicht liebenswürdig geantwortet, aber die alte Frau war eine Einsiedlerin, die ungestört für sich leben wollte.
Als nun der Gärtner, in Gedanken versunken, in sein Haus zurückkehrte, fiel ihm auf dem Wege eine längst vergangene, halbvergessene Geschichte ein, die ihm seine verstorbene Frau erzählt hatte. Diese nämlich hatte eines Tages vor der Gartentüre einen schönen Knäuel Zwirn gefunden, den sie bei sich aufhob. Sie nahm an, irgendeine Nachbarin habe den Zwirn verloren und würde ihn vielleicht bei ihr suchen kommen. Die Frau vergaß jedoch, ihrerseits sich zu erkundigen, ob jemand den Zwirn verloren habe. So kam es, daß der Knäuel über ein Jahr im Schubfach liegenblieb, wo die Frau dergleichen aufzubewahren pflegte. Eines Tages aber, da sie gerade um Zwirn verlegen war und sich nicht die Mühe nehmen wollte, welchen zu kaufen, nahm sie unbedenklich den gefundenen Zwirn, um mit diesem die kleine Ausstattung für ihr erstes Kind zu nähen.
Kaum war sie mit dem letzten Hemdchen fertig, als auch eine Frau des Weges daherkam und die junge Mutter fragte: »Sagt, habt Ihr nicht einen Knäuel Zwirn gefunden?« 44
»O ja«, entgegnete die junge Frau, »ich bin aber recht in Verlegenheit, da ich Euch den Zwirn nicht zurückgeben kann, weil ich meinem Buseli die Jäckchen und Hemdchen sowie die Windeln damit genäht habe. Doch sagt mir, bitte, wieviel der Zwirn kostet. Ich will Euch gern das Geld dafür geben, damit Ihr Euch neuen Zwirn kaufen könnt.«
»Damit ist mir wenig gedient«, antwortete die alte Frau, »die Schätze eines Königs würden nicht genügen, mir den Zwirn zu vergüten.« Damit drehte sich die alte Frau um und verließ unwillig das Haus.
Das Ehepaar mußte viel lachen über solch kostbaren Zwirn. Die junge Gärtnersfrau lachte aber leider nicht mehr lange. Sie wurde krank, mußte sich ins Bett legen und starb wenige Wochen nach der Begegnung mit der alten Frau.
Da nun der Gärtner an diese seltsame Geschichte zurückdachte, fiel ihm urplötzlich ein, daß sein Kind verzaubert sein könne, weil die Erstlingswäsche mit dem geheimnisvollen Zwirn genäht war. Er wünschte jedenfalls der Sache auf den Grund zu kommen und hätte gar zu gern sicher gewußt, ob jene alte Frau, die zur Mutter seines Kindes gekommen war, dieselbe Frau war, die hier in der Gegend so viel Zwirn spann und der er seine Tochter einmal in Obhut gegeben hatte.
Als er heimkam, fand er die Kleine bitterlich weinend vor. Sie begann auch gleich ihre Not zu klagen: »Ach, Vater, es hat an die Tür geklopft, und ich habe nicht rechtzeitig öffnen können. Ich versuchte die Treppe hinabzusteigen, aber als ich endlich unten ankam, war niemand mehr da.« 45
»Beruhige dich, mein Kind. Es wird jemand gewesen sein, der Blumen kaufen wollte. Er wird sicher zurückkommen.«
»Ach, nein, Vater, es muß etwas anderes gewesen sein.
Ich lausche und warte Tag und Nacht.
Es klopft an die Tür. Jetzt aufgemacht.
Auf Regen muß folgen der Sonnenschein.
Nach Leid kommt die Freude ins Herz hinein.
Ach, Vater, wenn es nicht wieder klopfen würde!«
Das arme Kind begann abermals zu weinen, und der Vater wußte nicht, wie er es trösten sollte.
»Warte, Kindlein, ich bringe dir jetzt einen Strauß frische Blumen.«
Der Gärtner beeilte sich, die schönsten Blumen abzuschneiden. Da waren herrliche Lilien, von zartem Silberschaumkraut umgeben, Rosen, soeben erblüht, weiße und rote Rosen, deren Dornen er sorglich abschnitt, edle Vergißmeinnicht und süß duftende Hyazinthen, kurzum, es war das Köstlichste an Blumen, was der Gärtner für seine Tochter aussuchte, und obwohl sie den Strauß ja nicht sehen konnte, war er gleichwohl mit viel Geschmack zusammengefügt.
Die Blinde nahm dankend die Blumen aus ihres Vaters Hand. Eine Weile atmete sie den wundersamen Duft der Blumen ein. Plötzlich aber begann sie die Blumen einzeln zu betasten, eine nach der andern behutsam mit den Fingerspitzen berührend. Dann aber ließ sie den Strauß in den Schoß sinken, begann abermals zu weinen, und wie verzweifelt zerpflückte sie die Blumen, so daß die zarten, bunten Blätter ringsherum am Boden zerstreut liegenblieben. 46
Als der Gärtner solches sah, fragte er bestürzt:
»Aber, Kind, warum zerstörst du die schönen Blumen?«
»Weil jene Blume, die ich suche, nicht dabei ist.«
Da begann der Gärtner nachzudenken, was das wohl für eine Blume sein könnte, die seine Tochter sich so sehr wünschte. Er brachte ihr aus seinem reichhaltigen Garten immer neue Blumen in der vagen Hoffnung, die ersehnte Blume könne sich unter den vielen andern befinden. Er bestellte sich Blumensamen aller Art und begann zu säen, und der Garten wurde immer schöner, da immer mehr fremdartige Blumen erblühten, die er, im Wunsche seine Tochter zu heilen, ihr alle brachte.
Eines Morgens kam in einem feinen Wagen, der von vier Pferden gezogen wurde, die sämtlich Schellengurte trugen, so daß es ein lustiges, silbernes Geläute gab, ein überaus schöner junger Mann daher, der wie ein Rittersmann in goldbordierte Seide gekleidet war. Eine feine Halskrause rahmte das edle Gesicht ein. Spitzen an den Ärmeln bedeckten zur Hälfte die wohlgeformten Hände.
Der Gärtner war über solch vornehme Kundschaft aufs höchste überrascht, grüßte in ehrerbietiger Bescheidenheit, doch war er so verlegen, daß er kaum nach dem Begehr des Fremden zu fragen wagte.
»Ihr seid der Gärtner selbst?«
»Zu dienen, edler Herr.«
»Gut, pflückt mir, bitte, alle Blumen, die Ihr habt, und bringt sie mir in meinen Wagen. Ihr seht, ich habe Platz genug, und wie ich bemerke, ist Euer Garten mit Blumen vorzüglich bestellt.« 47
»Gnädiger Herr, gern will ich Euch eine schöne Auswahl von Blumen überlassen, doch kann ich Euch nicht alle geben, da ich die schönsten meiner Tochter lassen muß.«
»Und was macht Eure Tochter mit den Blumen?«
»Sie betastet sie und wirft sie fort.«
»Oh, das finde ich nicht recht. Sagt, ist jenes Mädchen dort unterm Baum Eure Tochter?«
»Ja, das ist sie«, antwortete der Gärtner und blickte wehmütig hinüber.
Der junge Mann trat ein paar Schritte näher, blieb dann wie gebannt stehen. Welch ein bezaubernd schönes Mädchen! Das helle, blonde Haar war wie feinstes Gold. Die langen weichen Locken schmiegten sich an ein engelhaft schönes Gesicht.
Sie schien auf ihre Umgebung nicht zu achten, und doch war dem jungen Mann, als müsse er eigentlich von ihr gesehen werden.
»Warum sieht sie mich nicht an?« fragte er.
»Weil sie blind ist.«
Ach! blind . . . Voller Mitleid betrachtete er das schöne Mädchen und wandte seine Augen ab, als dürfe auch er sie nicht ansehen, da es ihr nicht möglich war, ihn zu sehen.
»Ja, edler Herr, meine Tochter ist nicht nur blind. Sie ist auch verkrüppelt, sie kann kaum gehen.«
»Oh, wie sehr leid mir das tut! Auch um Euretwillen, Herr Gärtner . . .«
»Ich lausche und warte Tag und Nacht.
Es klopft an die Tür. Jetzt aufgemacht.
Auf Regen muß folgen der Sonnenschein.
Nach Leid kommt die Freude ins Herz hinein.« 48
Der junge Mann stand tiefbewegt lauschend da, sah nochmals auf das wunderschöne Mädchen, das den innigen Blick nicht spürte.
»Es wird mir genügen, wenn Ihr mir nur einige Blumen, nur wenige überlassen wolltet. Nehmt dies als kleine Bezahlung, bitte, und behaltet nur die schönsten Blumen für Eure Tochter.« Damit übergab der Jüngling dem Gärtner vier Goldstücke, die er in der Verlegenheit nicht zurückzuweisen wagte, sondern nur mit herzlichem Dank entgegennahm.
Dann ging er eilends, um die schönsten Rosen zu schneiden, die er nur finden konnte, die er dem jungen Manne überreichte, der wie in einem Traum versunken seinen Wagen bestieg und fortfuhr.
Am nächsten Morgen machte abermals eine Kutsche vor der Gärtnerei halt. Diesmal entstieg dem Wagen eine sehr reich gekleidete, vornehme, alte Dame.
»Ihr seid der Gärtner selbst?«
»Zu dienen, gnädige Frau.«
»Seid so gut und pflückt sämtliche Blumen Eures Gartens ab und bringt sie mir in meinen Wagen.«
»Ich kann Euch wohl viele Blumen überlassen, aber die schönsten muß ich für meine Tochter aufheben.«
»Und was macht Eure Tochter mit den Blumen?«
»Ach, sie betastet und zerreißt sie und wirft sie fort.«
»Oh, das ist aber schade. Ist jenes Mädchen, das dort unterm Baum sitzt, Eure Tochter?«
»Ja, das ist sie.« 49
»Was singt sie nur so traurig?«
»Sie singt vom Glück, das nicht kommen will. Sie ist blind und kann nicht gehen.«
»Oh, das tut mir leid! Hört, gebt mir nur einen kleinen Blumenstrauß, das wird mir genügen. Behaltet nur die andern Blumen für Eure Tochter.«
Während der Gärtner Rosen schnitt, blieb die alte Dame versunken in den Anblick des schönen, armen Mädchens und empfand nicht nur mit der Gärtnerstochter inniges Mitleid, sondern auch mit dem Vater. Bevor er ihr die frischen Rosen anbot, entnahm sie ihrem Handtäschchen vier große Goldstücke, die sie in die Hand des Gärtners gleiten ließ, der sich wiederum nur bewegt bedanken konnte und die Dame bis zum Wagen führte, die mit freundlichem Gruß »Auf Wiedersehen!« wünschte.
So erfreulich auch solch noble Kundschaft für den Gärtner nun auch sein mochte, fühlte er sich dennoch tagsüber recht müde und abgespannt, weil er fast jede Nacht durch lautes Klopfen im Schlaf gestört wurde, während die Tochter das Klopfen nicht vernahm. Daß ihm dieser Umstand zu denken gab, ist leicht begreiflich. War die Tochter blind, so war sie wenigstens nicht taub, und darum war es dem Gärtner ein Rätsel, daß nur er das Klopfen vernahm, die Tochter dagegen nicht.
Dann freilich wieder kam es der Tochter vor, als habe es geklopft, doch geschah dies nur in Abwesenheit des Vaters.
Da beschloß der Gärtner, zum Schein einmal das Haus zu verlassen, um zu sehen, ob nicht doch jemand heimlich sich zu seiner Tochter begeben würde. 50 Er sagte ihr daher eines Tages, er wolle auf den Markt gehen, sie möge aber ja nicht die Tür öffnen, falls es klopfen sollte, was das Mädchen auch versprach.
Der Gärtner ging jedoch nicht eigentlich vom Hause fort, sondern versteckte sich in einer Buchsbaumhecke gleich neben der Haustüre. Es verging eine, es vergingen zwei Stunden, und schon war der Gärtner des vergeblichen Wartens müde und im Begriff, seinen Spähwinkel zu verlassen, als er plötzlich einen jungen Mann in netter sauberer Bauerntracht erblickte, der sich vorsichtig neben die Haustüre stellte und dreimal anklopfte. Der Gärtner hörte die Stimme seiner Tochter: »Wer ist da? Wen sucht Ihr?«
»Ich suche die schönsten Augen von der Welt.«
»Da habt Ihr Euch in der Türe geirrt«, rief die Gärtnerstochter zurück.
»O nein, ich habe mich nicht in der Türe geirrt«, rief der Bauernbursche zurück. Als der Gärtner ihm ins Gesicht blickte, ohne daß dieser es bemerkte, fiel dem Gärtner eine große Ähnlichkeit mit jenem vornehmen Herrn auf, der vor wenigen Tagen seine Blumen so teuer bezahlt hatte. War es nicht ein und dasselbe Gesicht? Wie aber war es möglich? Wie und warum mochte der vornehme Herr sich als Bauer verkleidet haben? Der junge Mann zögerte noch eine Weile an der Tür, weil er auf die Antwort der Gärtnerstochter wartete. Diese aber schwieg. Als der junge Mann sich zum Fortgehen anschickte, stellte sich der Gärtner in den Weg und fragte ihn: »Wer seid Ihr, und was sucht Ihr hier?« 51
»Ich suche Arbeit und möchte mich gern verdingen, aber ich verlange keinen Lohn.«
Über dieses bescheidene Angebot mußte der Gärtner beinahe lächeln, doch bewahrte er seine strenge Miene und fragte nicht ohne gespielte Würde:
»Und was seid Ihr von Beruf?«
»Ich bin Gärtner«, sagte der Bursche mit dem unschuldigsten und bescheidensten Gesicht von der Welt.
Der Gärtner sah dem angeblichen Gärtnergehilfen scharf in die Augen, doch dieser hielt seelenruhig den forschenden Blick aus. Sollte ich mich täuschen, fragte sich der Gärtner. Er sah nochmals in das ihm bekannte Gesicht, sah auf die sauber gepflegten, edelgeformten Hände. Die Ähnlichkeit mit dem Edelmanne war frappant. Da der Bursche mit dem treuen Blick nun aber doch behauptete, Gärtnergehilfe zu sein, mußte man ihn doch wohl auch als solchen nehmen. Die Wahrheit würde sich mit der Zeit jedenfalls gelegentlich herausstellen. Da der Gärtner mit der Antwort zögerte, fragte der Arbeitsuchende nochmals in demütigem Tone:
»Könnt Ihr mich wirklich nicht als Gehilfen brauchen? Bedenkt, ich verlange keinen Lohn, werde mich mit der einfachsten Kost begnügen, ganz gleich, was man mir vorsetzen wird. Wenn Ihr mit meiner Arbeit nicht zufrieden seid, könnt Ihr mich ja wieder fortschicken. O ja, das könnt Ihr wirklich, aber . . .«
»Schon gut«, fiel ihm der Gärtner ins Wort, »ich will's mit Euch versuchen. Kommt nur gleich mit in den Garten. Ich will Euch sofort Eure Arbeit anweisen.« Der Gehilfe folgte und begann, einen Spaten 52 ergreifend, sogleich ein Beet umzugraben, während der Gärtner ins Haus zu seiner Tochter ging.
Diese war leider schon wieder einmal am Weinen.
»Was ist denn jetzt passiert?« fragte der Gärtner.
Die Tochter erzählte, was dem Vater nichts Neues war, nämlich, daß es an die Tür geklopft habe, und diesmal sei es einer gewesen, der die schönsten Augen von der Welt gesucht habe.
»Nun ja, mein Liebling, ist denn das so sehr schlimm? Es kann doch vorkommen, daß jemand einmal die schönsten Augen sucht, und du solltest auch nicht gar so empfindlich sein.«
In diesem Augenblick begann eine helle, angenehme Stimme, die vom Garten heraufklang, ein schönes Lied zu singen.
Der Gärtner und seine Tochter lauschten. Sie fragte: »Vater, wer mag es sein, der in unserm Garten singt?«
»Es ist ein junger Gehilfe, den ich vor kaum einer halben Stunde angestellt habe.«
»Es scheint ein fröhlicher Mensch zu sein.«
»Nun ja, er ist jung, und man arbeitet nicht schlecht, wenn man dabei singt. Wenn sein Gesang dich stören sollte, kann ich ihm begreiflich machen, daß er zu schweigen hat.«
»Ach nein, Vater, laß ihn nur singen. Er hat eine wunderschöne Stimme.«
Kaum hatte der Gärtner seine Tochter verlassen, als auch sie zu singen begann:
»Ich lausche und warte Tag und Nacht.
Es klopft an die Tür. Jetzt aufgemacht.
Auf Regen muß folgen der Sonnenschein.
Nach Leid kommt die Freude ins Herz hinein.« 53
Obwohl die Stimme des Mädchens nicht mehr so hoffnungslos klang als früher, fühlte der Gärtnergehilfe sich dennoch vom Liede so sehr ergriffen, daß er nicht weiterzuarbeiten vermochte. Betrübt und mit gesenktem Kopfe stand er lauschend da, und so fand ihn der Gärtner.
»So arbeitet Ihr?«
»Ich kann nicht. Verzeiht, aber das klagende Lied, die weinende Stimme zerbricht mir fast das Herz.«
»Nun, daran müßt Ihr Euch gewöhnen, junger Mann.«
»Wie kann man sich daran gewöhnen?« antwortete der Gehilfe mehr klagend als fragend.
»Sagt mir einmal, wo wart Ihr früher angestellt?«
»Beim Gärtner des Königs.«
»Dann habt Ihr aber einen guten Posten gehabt und habt eigentlich keinen vorteilhaften Tausch gemacht. Und warum seid Ihr von dort weggegangen?«
»Weil der Königssohn mich fortgeschickt hat.«
»Doch wohl nicht ganz ohne Grund?«
»Doch, ohne Grund.«
Das kam dem Gärtner doch verdächtig vor, und gleich am nächsten Tag begab er sich ins königliche Schloß, um sich beim dortigen Gärtner über seinen neuen Gehilfen zu erkundigen.
Im Königsschloß schien alles drunter und drüber zu gehen. Es herrschte eine allgemeine Aufregung, und die Dienerschaft ging mit verstörten Gesichtern unruhig hin und her. Es war eine so große Verwirrung, daß unser Gärtner ohne weiteres in den königlichen Garten eintreten konnte, denn selbst die Wachen schienen den Kopf verloren zu haben. Der 54 Gärtner sprach einen von der Wache an und fragte ihn, ob es wohl möglich sei, mit dem Hofgärtner ein paar Worte zu sprechen.
»Aber gewiß doch«, entgegnete die Wache zuvorkommend, »er befindet sich gerade jetzt im zweiten Treibhaus links, wo er einige Arbeiter zu beaufsichtigen hat.«
Der Gärtner bedankte sich höflich und traf auch seinen vornehmen Kollegen an der von der Wache ihm bezeichneten Stelle. Er bat den Hofgärtner sehr um Entschuldigung, wenn er ihn bei der Arbeit störe, doch würde er gern zu einer vielleicht passenderen Zeit wiederkommen.
»Oh, bitte sehr. Uns ist nicht so sehr um die Arbeit zu tun in diesen Tagen. Ihr habt sicherlich schon erfahren, was bei uns im Schlosse los ist.«
»Nichts habe ich erfahren«, entgegnete der Gärtner, »ich habe selbst hier in der Nähe eine kleine Gärtnerei, die ich bis jetzt so gut wie allein besorgt habe; aber ich habe mir gerade jetzt einen Gehilfen genommen, der mir gesagt hat, er sei bei Euch in Diensten gewesen und durch den Königssohn entlassen worden.«
»Davon kann nicht die Rede sein. Es stimmt nicht, was Euch der Bursche gesagt hat. Unser Königssohn ist seit mehreren Tagen verschwunden. Der König und die Königin sind in hellster Verzweiflung und beweinen ihn, als wäre er schon gestorben. Er hätte die Tochter des Königs von Frankreich heiraten sollen, das wäre gewiß keine üble Partie gewesen; aber eine Zigeunerin hat dem Prinzen ins Ohr geflüstert, es wäre nicht gut, wenn der Prinz die französische Königstochter heirate, da er am Tage der 55 Hochzeit sterben würde. Da lohnte sich's ja freilich kaum zu heiraten. Die Unterhandlungen mit Frankreich wurden abgebrochen, und der Königssohn wurde so tiefsinnig, daß er nicht mehr wiederzuerkennen war. Wo er jetzt ist, mag der liebe Gott selbst wissen. Wir haben keine Ahnung. Er ist auf und davon.«
»Das ist ja furchtbar.«
»Freilich ist es furchtbar, doch halte ich für möglich, daß er von selbst wieder zurückkommt. Die vornehmen Herrschaften haben oft seltsame Launen, haben ja auch Geld genug, sich dergleichen leisten zu können.«
»Jaja«, sagte der Gärtner etwas verlegen, weil es ihn wunderte, den Hofgärtner sich so offen über die königlichen Familienverhältnisse äußern zu hören, und um das Gespräch auf ein anderes Thema zu bringen, sprach er seine Bewunderung über den herrlichen Garten aus, der den Gärtner als Fachmann natürlich entzücken mußte.
Der Hofgärtner seinerseits, der sich durch soviel Komplimente geschmeichelt fühlte, ließ seinem Kollegen einen prächtigen Strauß von höchst seltenen Blumen binden und schenkte ihm noch obendrein ein Päckchen mit Blumensamen, den es hierzulande sonst nirgends gab. Der Gärtner nahm die Gaben mit vielem Dank an, und danach trennten sich die beiden Männer mit großer Herzlichkeit voneinander.
Daheim angekommen, erzählte die Gärtnerstochter ihrem Vater, dieselbe Person, welche das letztemal da war, habe an die Tür geklopft. Sie habe die gleiche Stimme vernommen, dieselben Worte: »Ich suche 56 die schönsten Augen von der Welt.« »Und es tut mir doch so weh, Vater, daß ich solches anhören muß, da ich weder schöne noch häßliche Augen besitze, sondern gar keine.«
Der Vater, der ja schon wußte, wer es war, der die schönsten Augen suchte, begab sich gleich in den Garten, wo der Gehilfe singend die Blumen begoß. Der Gärtner stellte den jungen Burschen zur Rede: »Was fällt dir nur ein, meine Tochter zu verhöhnen, indem du an ihrer Türe die schönsten Augen von der Welt suchst?«
Der sonst so aufmerksame Gehilfe tat, als sei er schwerhörig, sang vielmehr mit heller Stimme weiter:
»Ich lausche und warte Tag und Nacht.
Es klopft an die Tür. Jetzt aufgemacht.
Auf Regen folget der Sonnenschein.
Nach Leid kommt die Freude ins Herz hinein.
Wer bringt wohl das Glück, wenn die Blume blüht?
Ein Königssohn, der in Liebe erglüht.
Wer grüßet die schönsten Augen der Welt?
Ein Gärtner, der vorher kein Feld bestellt.«
Der Gärtner glaubte seinen Ohren nicht trauen zu dürfen, doch spielte jetzt auch er den Tauben und ging schnurstracks zu seiner Tochter, die im Lehnstuhl am Fenster lag und dem Liede des Gehilfen lauschte. Sie hatte jenen Vers vernommen, den sie vergessen hatte. Jetzt aber kannte sie das Lied für immer. Der Gärtner war bis jetzt gar nicht dazu gekommen, seiner Tochter die Blumen zu schenken. Er holte dies rasch nach und sagte, diese seien aus dem königlichen Garten. Die Blinde betastete sie sogleich, aber leider war die gesuchte Blume nicht unter den vielen, seltenen Blumen. 57
Am nächsten Morgen kam die vornehme Kundin, die alte Signora, angefahren, um abermals Blumen zu bestellen. Der Gärtner sagte: »Wollet mich gütigst entschuldigen, gnädige Frau. Dort steht mein Gehilfe, der Euch gut bedienen wird. Ich selbst bin leider anderweitig beschäftigt.« Damit ließ der Gärtner die vornehme Dame ohne weiteres mit dem Gehilfen allein, stellte sich aber hinter einen Baum, um zuzuhören, was die beiden wohl miteinander sprechen würden.
»Nun, wie ist's?« fragte die Dame den Gehilfen, »hat sie die Tür endlich geöffnet?«
»Nein, immer noch nicht. Sobald ich ihr sage, daß ich die schönsten Augen von der Welt suche, beginnt sie zu weinen oder zu schweigen.«
»Klopft noch einmal morgen früh beim Sonnenaufgang an. Sie wird Euch öffnen.«
»Und die Wunderblume?«
»Habt keine Sorge, junger Königssohn, die Blume ist schon nahe am Aufgehen. Zweifelt nicht daran, sie wird bald erblüht sein. Ihr werdet sie zur rechten Zeit schon in Händen halten. Hier übergebe ich Euch aber ein Päckchen mit Pulver, das Ihr heute nacht vor die Haustüre streuen müßt, damit der Zauber der Hexe, die jede Nacht kommt und dem armen Mädchen nicht wohlwill, gelöst wird. Nun aber lebt wohl und seid glücklich, junger Königssohn. Vergesset nie, wer Gutes säet, wird Gutes ernten. Ihr werdet mich nicht mehr wiedersehen, doch vergeßt mich nicht, wie ich Euch nicht vergessen werde. Bringt mir nur noch ein paar Blumen in den Wagen und gebt dieses Geld dafür dem Gärtner.« 58
Kann sich wohl einer vorstellen, wie dem Gärtner, der alles mit angehört hatte, zumute war? Die vornehme Dame war sicherlich eine gute Fee, und der Gehilfe war kein anderer als der Königssohn. Doch war es gewiß am besten, wenn man ihn vorerst wenigstens als den Gärtnergehilfen betrachtete. Es war für den Vater des Mädchens nicht schwer einzusehen, daß seine Tochter vom Königssohn geliebt wurde, aber darüber mußte man schweigen. Gleichwohl umarmte er an diesem Abend sein Kind mit kaum verhaltener, stürmischer Freude, weil sein väterliches Herz von Hoffnung für sein blindes Kind erfüllt war.
In dieser Nacht klopfte es heftiger denn je an die Tür. Die Tochter vernahm es, rief den Vater zu sich, er möge ihr doch helfen, die Treppe hinunterzukommen. »Vater, es hat geklopft, ich muß öffnen.« Da er aber genau wußte, es könne nicht der Königssohn sein, wehrte er seiner Tochter. »Du wirst geträumt haben, mein Liebling. Schlaf ruhig weiter.«
Er selbst jedoch trat ans Fenster und sah, wie die alte Frau, die seinerzeit Wärterin in seinem Hause gewesen war, vor seinen Augen in Flammen aufging. Sie war also doch eine Hexe gewesen, die der Königssohn durch das gestreute Pulver jetzt für immer vernichtet hatte.
In der Morgenstunde bei Sonnenaufgang klopfte es wieder an die Tür. Die Gärtnerstochter beeilte sich, sosehr sie nur konnte. Vor der geschlossenen Tür blieb sie stehen, fragend: »Wer seid Ihr? Was suchet Ihr?«
»Ich suche die schönsten Augen von der Welt.« 59
Da öffnete die Blinde, blieb in der weitgeöffneten Türe stehen und rief: »Hier, sehet meine geschlossenen Augen!«
Im selben Augenblick fühlte sie etwas Lindes, Duftendes über ihre Augenlider streifen. Das traf sie wie ein Glanz und ein Lichtsturz. Sie stieß einen Schrei aus und fiel ohnmächtig in die Arme des Königssohnes. Als sie nach einer Weile die Augen aufschlug, fiel ihr Blick in ein Augenpaar, das ihr in innigster Liebe zugewandt war. So standen die beiden Menschenkinder in der weitgeöffneten Türe, mitten im Sonnenstrahl des ersten Lichtes.
Unbeschreiblich war die Freude des Vaters, und das Glück des Mädchens war grenzenlos. Liebe und Licht, sie wußte nicht, was beseligender war. Immer wieder betrachtete der Königssohn die schönsten Augen von der Welt. Sie waren schön, aber nur für den Königssohn die allerschönsten, weil er die reinste Liebe in diesen Augen erblickte. Da man die Blume gefunden hatte, die dem Mädchen das Augenlicht schenkte, zweifelte man nicht daran, auch jenen Baum zu finden, der für das andere Leiden Heilung bringen würde. Vorher war das Mädchen immer »Cecchina« genannt worden. Der Königssohn aber nannte sie Lucia, die Erleuchtete. Er bat den Gärtner um die Hand seiner Tochter, sich sehr entschuldigend, daß er eigentlich kein gelernter Gärtner sei. Dieses Geständnis vermochte der Vater nur mit einem seltsamen Lächeln zu beantworten, das nichts verriet, dem Prinzen aber doch manches sagte.
Der Gärtner hatte den jungen Mann ins Herz geschlossen, doch wagte er dies nicht einzugestehen. 60 Dieser aber glaubte seiner Sache gewiß zu sein: »Lucia, meine kleine Königin, ich werde jetzt zu meinen Eltern gehen und ihnen erzählen, wie es mit uns beiden steht. Bist du einverstanden?«
»Ja. Zu deinen Eltern wirst du auf jeden Fall gehen müssen. Solltest du aber nicht wiederkommen – du kannst es nicht vorher wissen –, sei dann nicht allzu traurig. Wisse, daß ich dich nie vergessen werde, immer in Dankbarkeit an dich denken will und in . . .«
»In was, Lucia?«
»In Liebe.«
Im Schlosse angelangt, wurde der Königssohn nicht ohne weiteres bei den höchsten Herrschaften vorgelassen, weil er nämlich in seiner einfachen ländlichen Tracht daherkam und die Wache ihn nicht erkannte. Selbst jene, die ihn erkannten, wagten nicht, ihn in die königlichen Gemächer zu führen, und die Königin selbst mußte sich in einen Vorraum bemühen, um ihren Sohn persönlich zum König zu führen. Ja, da gab es selbstverständlich zunächst eine große Freude, daß der Sohn überhaupt wieder da war, und beide Eltern waren sehr geneigt, ihm seinen abenteuerlichen Ausflug zu verzeihen. Er ließ sich, wie er ging und stand, von Papa und Mama gehörig umarmen und abküssen. Erst nach diesem Zärtlichkeitsaustausch hielt er es für angebracht, von seinen Erlebnissen zu berichten. Er erzählte zunächst, warum er sich aus dem Schlosse entfernt habe und was die Zigeunerin ihm gewahrsagt hatte, an eine Heirat mit der Tochter des französischen Königs sei keinesfalls zu denken, 61 da er seine Wahl schon getroffen habe. Er bitte um das Jawort seiner Eltern, Lucia, die Tochter des Gärtners, ehelichen zu dürfen.
Das Königspaar jedoch, aufs äußerste erzürnt, sagte anstatt »ja« nur immer wieder: »Nein! Nein! Nein!« Sie waren so böse, daß sie am liebsten die ausgeteilten Umarmungen und Küsse zurückgenommen hätten. Aber geküßt ist geküßt, und ein Kuß läßt sich bei späterer noch so heftiger Feindschaft nicht mehr rückgängig machen.
»Ach, meine künftige Frau hat die schönsten Augen von der Welt, und sie hat sicher auch das beste Herz. Meines gehört ihr für immer. Ich bin Gärtnergehilfe bei ihrem Vater. Er ist recht zufrieden mit mir, dünkt mich. Aber es hilft ja alles nichts. Ich bin ein Königssohn und kein Gärtner.«
»Nein, wenn du die Gärtnerstochter heiratest, kannst du nicht länger Königssohn sein, und wir müssen uns von dir lossagen. Verzichtest du aber auf das Mädchen, wirst du der Königssohn bleiben und einmal den Thron erben. Wähle! Bist du der Königssohn oder bist du der Gärtner?«
»Ich bin Gärtner«, sagte der verliebte Königssohn, und mit tiefer Verneigung empfahl er sich den Majestäten.
So verzichtete der Königssohn um seiner Liebe willen auf Krone und Ansehen, auf Glanz und Herrschertum, ja sogar auf die Liebe seiner Eltern mußte er verzichten, wenn auch das letzte ihm sehr schwerfiel. Aber er hatte nun einmal sein Lebensglück in den schönsten Augen von der Welt gesehen und war bereit, alles dafür hinzugeben. 62
Er ging ins Gärtnerhaus zurück, und hier wurde wenige Wochen später die Hochzeit des Königssohnes mit der Gärtnerstochter in aller Stille und Heimlichkeit gefeiert. Nun fehlte zum Glück des jungen Paares nur noch die vollkommene Gesundheit Lucias, die immer noch nicht recht gehen konnte. Eines Tages aber entdeckte der Königssohn im Winkel des Gartens einen bescheidenen Strauch, den er vorher nie bemerkt hatte und der sich in wenigen Tagen zu einem herrlichen Baum entwickelte. Zwischen dem dichten grünen Laub zeigten sich schöne rote Blumen, die von selbst zu Boden fielen, und als der Königssohn die Blumen aufhob, verwandelten sie sich in seinen Händen zu kleinen Früchten, die nicht viel größer als Waldbeeren waren. Voller Freude brachte er die Früchte der jungen Frau, sie möge kosten, denn es war eine selige Gewißheit in ihm, daß dies die Frucht war, durch welche die Gärtnerstochter geheilt werden würde.
Lucia verspürte zwar keinen sonderlichen Appetit und nahm mehr ihrem Manne zu Gefallen eine Beere in den Mund. Kaum hatte sie diese geschluckt, als sie auch schon ein seltsames Kribbeln in den Füßen empfand. »Gut schmeckt die Frucht«, sagte sie, »gib mir noch eine.« Er schob sie ihr in den Mund und lächelte sie dabei erwartungsvoll an. Da wußte Lucia, daß sie geheilt war, sprang vom Stuhl, flog ihrem Manne an den Hals und wirbelte voller Freude mit ihm im Zimmer umher. Der Vater wurde herbeigerufen, und man kann sich leicht vorstellen, wie entzückt er war, als die Eheleute ihm ein Tänzchen vor Augen führten, das nur sehr gesunde Beine 63 zustande bringen. So war jetzt alles zum besten bestellt, und der junge Mann hatte schon beinahe vergessen, daß er je Königssohn gewesen war. Er war auch als Gärtner der König seines Glückes. Er fand es viel angenehmer, über einen friedlichen Blumengarten zu regieren als über ein großes Reich mit viel tausend Menschen.
Das Königspaar indessen gedachte oft des verlorenen Sohnes, und da sie doch Verlangen spürten, ihn wenigstens einmal wiederzusehen, verfielen sie auf den Gedanken, sich als Bettler zu verkleiden, um im Gärtnerhaus auf diese Weise einmal nach dem Rechten zu sehen. Sie waren auch neugierig festzustellen, ob die Gärtnerstochter tatsächlich die schönsten Augen von der Welt besaß. Vor allem wollten sie wissen oder sonstwie in Erfahrung zu bringen suchen, ob diese Augen, die so schön sein sollten, auch der Spiegel einer ebenso schönen Seele seien.
So klopfte denn das Königspaar an der Tür des Gärtnerhauses an. Lucia öffnete und sah zwei alte Leute, die wahrlich höchst mitleiderregend aussahen.
»Ach, verzeiht, wenn wir stören, aber wir sind ein armes Ehepaar und haben seit zwei Tagen nichts gegessen.«
»Ja, du lieber Gott, das sieht man ja auf den ersten Blick. Kommt nur herein. So. Hier setzt Euch nur an den Tisch. Sofort werde ich Euch ein paar Spiegeleier braten. Das ist rasch gemacht. Hier, fangt nur mit einem Stück Butterbrot an, damit Ihr den ersten Hunger gestillt bekommt.«
Das Königspaar hatte sogar sehr reichlich zu Mittag gegessen. Es hatte nicht nur eine gute 64 Kraftbrühe, sondern auch Suppenfleisch, Salzkartoffeln mit Senfsoße an der königlichen Tafel gegeben, vom Dessert, einem herrlichen Schokoladepudding mit Schlagsahne, ganz zu schweigen. Den Kaffee mit Biskotten hatten sie kaum angerührt, weil das Essen so ausgiebig gewesen war. Jetzt aber mußten sie am hellichten Nachmittag keine zwei Stunden nach dem Mittagessen dicke Scheiben Schwarzbrot, nicht zu knapp mit Butter bestrichen, verzehren. Und dann kamen noch die Spiegeleier, zu denen die junge Frau noch eine Pfanne mit Bratkartoffeln gab.
Wenn das kein gutes Herz war! Der König und die Königin blickten einander vielsagend in die Augen und betrachteten sich dann verstohlen die heimliche Schwiegertochter, die sich an Gebefreudigkeit nicht genugtun konnte und den beiden Alten zum üppigen Mahl noch zwei Goldstücke zuschob, die den Bettlern allerdings bei näherem Hinsehen nicht unbekannt vorkamen.
»Sagt, gute Frau, seid Ihr nicht eigentlich die künftige junge Königin?«
»Nein. Wie habe ich das zu verstehen?«
»Nun, wir haben gehört, daß Ihr den Königssohn zum Manne bekommen habt.«
»Ihr irrt Euch. Mein Mann ist nicht mehr Königssohn. Er ist Gärtner.«
»Nun, wohl mag er Euch zuliebe Gärtner geworden sein, deswegen aber bleibt er gleichwohl des Königs Sohn, der ein Anrecht auf den Thron hat.«
»Mein Mann stellt aber keine Ansprüche, und er braucht keinen Thron. Es genügt ihm, der König meines Herzens zu sein.« 65
»Das habt Ihr allerdings recht hübsch gesagt, junge Frau; aber es war doch sehr schlecht vom Königspaar gehandelt, den einzigen Sohn zu entrechten, nur, weil er sich eine Frau aus einfachem Stande gewählt hat. Nein, das war wirklich ein großes Unrecht vom König und auch von der Königin.«
»Das versteht Ihr nicht, und ich bitte Euch zu schweigen. Ich kann nicht dulden, daß über die Eltern meines Mannes etwas Böses gesagt wird, und es trifft auch nicht zu. Laßt Euch dies gesagt sein.«
Das Königspaar ließ es sich nicht ungern sagen, und jedes blickte verlegen und bewegt in den Schoß, die Augen tief gesenkt.
»Habt Ihr noch Hunger? Mögt Ihr noch etwas essen, oder soll ich Euch ein Brot mitgeben, damit Ihr das Geld ein wenig sparen könnt?«
»Nein, danke, tausend Dank! und vergelt's Gott!« Damit erhoben sich die Bettler vom Tisch, um eiligst fortzugehen. Sie waren kaum zur Tür heraus, als die junge Frau ihnen nachgeeilt kam: »Ihr habt ja das Geld vergessen!«
»Oh, es ist eine zu große Gabe!«
»Aber nein, es ist ja nur ein Almosen!«
»Gut, dann nehmen wir es mit tausend Dank. Behüt' Euch Gott, junge Frau, und auf Wiedersehen!«
Am nächsten Morgen kam der königliche Hofwagen, vor den nicht weniger als acht Pferde gespannt waren, vor der Gärtnerei angefahren. Der junge Gärtner kam selbst den Wagenschlag öffnen, sah den König und die Königin aussteigen, doch wagte er kaum den Blick zu erheben. 66
»Ihr seid der Gärtner?« fragte der König hoheitsvoll, als kenne er seinen eigenen Sohn nicht.
»Zu dienen, Majestät.«
»Gut also. Bringt mir die schönste Blume aus Eurem Garten.«
Da entdeckte der Königssohn den Blick der Liebe in den Augen seiner Eltern.
Mit einem Jubelruf stürzte er fort und kam in allerkürzester Zeit zurück, aber nicht allein.
»Seht hier, Majestät, meine Blume!«
Da umarmte der König seinen Sohn, und die Königin schloß die schönste Blume, ihre junge Schwiegertochter, ans Herz.
Als es aber hieß: »Alle in den Wagen einsteigen, auf zum Schloß!«, rief Lucia ihren Vater herbei und meinte, er könne doch nicht allein zurückbleiben.
»Freilich kann er das nicht«, sagte der Königssohn und sah den Gärtner mit einem leuchtenden Blick der Dankbarkeit an. Zu seinen Eltern gewandt, fügte er hinzu: »Seht, dies ist der Gärtner, der nach dem Willen Gottes meine Blume ins Leben rief, der Schützer ihrer Kindheit. Nicht wahr, ich darf ihn mitnehmen? Unser Schloß muß einem Himmel gleichen, in dem es viele Wohnungen gibt.«
Und dann begann die Fahrt ins Glück, an einem hellen Maienmorgen. 67