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Es war mitten im Winter und eine recht harte Zeit für die Familie Marucci. Die Regina, welche die Kälte nur sehr schlecht vertrug, hatte sich ins Bett legen müssen, doch wollte sie nicht zugeben, ernstlich krank zu sein, obwohl jeden Abend ein leichtes Fieber festgestellt wurde. Vezzosa hatte sich eines Abends wieder eingestellt, Cecco beiseite genommen und ihm gesagt: »Höre, Cecco, ich muß morgen nach Florenz fahren. Soll ich nicht zu einem Arzt gehen und ihn zu euch bitten, damit er nach deiner Mutter sieht, damit ihr wenigstens ruhig sein könnt, alles für ihre Gesundheit getan zu haben, was sich gehört?«
»Es wäre mir lieb, wenn du das tun wolltest, Vezzosa, und ich danke dir für deine Gefälligkeit, aber gib, bitte, dem Arzt zu verstehen, daß er bei seinem Kommen nicht verlauten läßt, daß er eigens bestellt ist, weil dies meiner Mutter nicht recht wäre, und leider haben wir hier noch mehr Hausgenossen, die nur allzu gerne den Arzt sparen, auch wenn seine Hilfe nötig ist.«
Es war aber sehr gut, daß der Arzt schon am nächsten Tage kam, denn Carola hatte sich eine starke Bronchitis geholt und lag jetzt auch krank 114 im Bett. Vezzosa aber half ihren Nachbarn, wo sie nur konnte, sorgte vor allem für die kleinen Kinder, weil die Mütter doch viel im Haushalt und in den Ställen beschäftigt waren. Sie zeigte den größeren Kindern, Annina und Julia, wie man Wäsche ausbessert, während sie die Kleinen anstellte, Bohnen aus den trockenen Schoten zu enthülsen oder die Maiskolben von den dürren Blättern zu befreien. So hatte jedes der Kinder eine kleine Beschäftigung, die um so lieber verrichtet wurde, wenn es daneben noch eine Geschichte zur Belohnung gab, und um die Kinder zu erfreuen, erzählte Vezzosa folgendes Märchen.
Der wunderliche Fingerhut
aus dem Italienischen von Luigi di San Giusto »Nel Cerchio Magico«. Verlag Antonio Vallardi, Milano.
Es war einmal ein reicher Ritter, der eine wunderschöne Tochter hatte, namens Mariebell. Es war ein liebes, gutes Mädchen, das aber von seinen Eltern als einziges Kind recht verwöhnt wurde. Als Mariebell noch klein war, saß sie eines Tages am Fenster, um sich zur Kurzweil das Leben auf der Straße anzusehen. Da kam eine Zigeunerin vorüber, die den Leuten für ein kleines Entgelt die Zukunft sagen konnte, was sie ohne weiteres aus der Hand las. Mariebell rief die Zigeunerin zu sich heran und sagte: »Ich will dir einen Taler aus meiner Sparbüchse schenken, wenn du mir etwas Gutes aus der Hand herauslesen kannst.«
»Zeige deine Hand«, sagte die Zigeunerin, und Mariebell streckte ihr Händchen zum Fenster hinaus. Die Zigeunerin sah sich die Linien an, schüttelte bedenklich den Kopf und sprach: 115
»Alles Schlimme und alles Gute
Steckt in einem Fingerhute.«
Da gab Mariebell der Zigeunerin den Taler und wußte so wenig und so viel als vorher.
Der Ritter aber hatte die Unterhaltung seiner Tochter mit der Zigeunerin gehört und sagte zu seiner Frau: »Es wird gut sein, wenn wir Mariebell niemals einen Fingerhut in die Hände geben. Ohne Fingerhut werden wir schon dafür sorgen, daß sie glücklich wird. Hat sie aber einen Fingerhut, können wir nicht sicher sein, daß ihr etwas Schlimmes begegne.«
»Du hast recht«, entgegnete die Frau, »wir werden für Mariebell ein schönes, kleines Haus gleich neben unserem Palast bauen lassen, und da kann sie dann mit ihrer Amme eingeschlossen wohnen bis zu ihrer Verheiratung, denn eine Wahrsagung kann nur bis zu diesem Zeitpunkte gelten.«
Nun lebte also Mariebell mit ihrer Amme in vollkommener Abgeschiedenheit, und obwohl sie schöne Bücher und Spielsachen hatte, langweilte sie sich zum Sterben. Die Amme war zwar eine gutmütige Person, doch als ausschließliche Gesellschaft für ein junges Mädchen wenig anregend. Durch die Fenster konnte sie auch nicht mehr wie früher auf die Straße blicken, wo Kinder spielten, sondern nur auf ein nettes Blumengärtchen, das von einer hohen Mauer umgeben war, damit nur ja niemand einen Fingerhut über die Mauer werfen konnte. O wie gern hätte Mariebell mit andern Kindern auf der Straße ein bißchen getollt, wie dies Kindern entspricht. Manchmal glaubte sie Kinder singen zu hören: 116
»So gemeinsam wir spielen,
so gemeinsam im Kreis.
Es ist eine verschwunden,
kannst du raten, wie sie heißt?«
Ach, das bin ich, dachte Mariebell, aber die Kinder meinten leider nicht das arme, eingeschlossene Mädchen. Sie spielten Verstecken und Nachlaufen und dachten wenig an das einsame Kind, an Mariebell, die sie gar nicht kannten.
Mariebell wurde immer schöner und größer, aber ihre Langeweile wuchs auch, und das ewige Einsamsein machte sie allmählich immer trauriger. Sie hielt das Gefängnis nicht aus, und da ihre Eltern sie besuchen kamen, fragte sie: »Wann werdet ihr mich aus der Verbannung erlösen?«
»Sobald wir einen Mann für dich gefunden haben.«
»Ach, dann werde ich wohl noch lange warten müssen, da ich erst vierzehn Jahre alt bin, und wer weiß, ob ihr einen Mann für mich findet!«
Die Eltern meinten: »Du hast es gut hier, und du mußt nur Geduld haben, denn du darfst vor deiner Ehe keinen Fingerhut anrühren.«
Die arme Mariebell hatte keine Ahnung, was ein Fingerhut ist, und befragte ihre Amme. Die gab Auskunft: »Es ist ein ganz kleines Hütchen, das man auf den Mittelfinger der rechten Hand setzt, wenn man nähen oder sticken will, damit die Nadel nicht in den Finger sticht.«
»Muß das drollig sein, ein solch winziges Hütchen! Ach, liebste Amme, zeige mir wenigstens ein solches Ding! Ich verspreche dir, es nicht anzurühren, aber sehen möcht' ich es einmal. Übrigens hat die 117 Zigeunerin gesagt, daß nicht nur das Böse vom Fingerhut kommen solle, sondern auch das Gute. Und wer glücklich ist, muß auch einmal unglücklich sein können; denn wie kann ich wissen, was Glück ist, wenn ich das Unglück nicht kenne, an dem ich das Glück ermessen kann?«
»Du hast recht, mein Liebling, aber tu mir den einzigen Gefallen und verlange keinen Fingerhut zu sehen, weil es mir so sehr schwer fällt, deine Bitte abzuschlagen.«
»Sag, liebste Amme, besitzest du denn einen Fingerhut, den du mir zeigen könntest?«
»Das ist es ja gerade, mein Liebling, ich habe einen Fingerhut in meiner Tasche. Doch muß ich ihn versteckt halten, damit du ihn nicht findest. Ich weiß, daß du nicht meine Taschen durchstöberst; aber ich hab' ihn gleichwohl in meinem grauen Rock unter meinem Taschentuch verborgen.«
Man sieht wohl, daß die Amme nicht gerade die Gescheiteste war, und Mariebell mußte lachen, da die Amme ihr in aller Unschuld verriet, wo der Fingerhut zu finden war.
»Bitte, bitte, zeige mir doch den Fingerhut.«
Die Amme ließ sich erweichen, holte einen ganz alten, eisernen Fingerhut aus der Kleidertasche und hielt ihn Mariebell vor Augen. Da begannen die beiden Einsamen miteinander umherzujagen. Mariebell suchte den Fingerhut zu erhaschen, während die Amme auswich. Schließlich aber gelang es Mariebell, sie zu erhaschen und ihr den Fingerhut zu entwinden.
Sie betrachtete das Hütlein von allen Seiten und fand nichts Besonderes an ihm. Die Amme bat: »O 118 Mariebell, gib mir den Fingerhut zurück. Deine Eltern haben mir streng verboten, einen Fingerhut zu tragen, und ich benutze ihn auch niemals, er ist nur aus Vergeßlichkeit in meiner Tasche geblieben. Sei so gut und verrate mich nicht. Gibst du mir den alten Fingerhut zurück, will ich dir einen goldenen schenken, wenn du einmal Hochzeit feiern wirst.«
Mariebell gab ihr artig den Fingerhut zurück und versprach, ihre Amme niemals an die Eltern zu verraten.
Merkwürdig genug aber: in der Nacht ließ die Sache der neugierigen Mariebell keine Ruhe. Sie stand heimlich von ihrem Bette auf, schlich sich zu den Kleidern der Amme, die im tiefen Schlafe lag und nicht merkte, daß Mariebell ihr den Fingerhut aus der Kleidertasche holte. Wie kann nur ein solch winziges, unansehnliches Ding mir Gutes oder Böses bringen?, fragte sich das Mädchen und drehte das Hütlein hin und her. Da fiel es ihr plötzlich wie von ungefähr ein, mit dem Fingerhut ein bißchen an der Wand herumzuklopfen, so nebenbei, aus purer Langerweile. Du lieber Himmel, was war das? Die Mauer teilte sich, und Mariebell sah mit einem Male durch alle Wände hindurch, und alles wurde hell vor ihren Augen. Sie war gar nicht erschrocken, nur sehr angenehm überrascht. Sie ging durch mehrere prächtig eingerichtete Räume hindurch, da jede Wand sich öffnete, sobald sie mit dem Fingerhut nur dreimal leicht anklopfte. Das war ja ein unglaublich gefälliger Fingerhut. Mariebell ging immer weiter, sah plötzlich durch eine gläserne Wand hindurch in einen wunderhübschen Schlafraum. Eine goldene Lampe 119 hing an langer Kette von der Decke herab und beleuchtete sanft das Gesicht eines Jünglings, der wunderschön wie ein schlafender Engel anzusehen war. Mariebell konnte der Versuchung nicht widerstehen, mit ihrem Fingerhütlein dreimal leise an die Wand zu klopfen. Die Wand öffnete sich, als wäre sie aus Luft, und schloß sich, sobald Mariebell hindurchgegangen war. Und jetzt stand sie also vor dem Ruhelager, auf dem der Jüngling schlafend lag. Sie betrachtete ihn und dachte: »Oh, das wäre einer, der mich zur Frau nehmen könnte, damit ich nicht länger im Gefängnis wohnen muß!« Dann blickte sie sich ein wenig um und entdeckte auf dem Tische eine kleine goldene Uhr, die ihr so gut gefiel, daß sie beschloß, diese mit sich zu nehmen. Auf der Uhr war an der Rückseite das königliche Wappen in Edelsteinen ausgelegt, und da wußte Mariebell, daß es der Prinz war, der hier schlief. Es macht wohl nichts, wenn ich die Uhr ein bißchen mit mir nehme, dachte sie, und es ist auch nicht ausgeschlossen, daß ich sie wieder zurückbringe. Die kleine Uhr ließ sich willig mitnehmen, als gehöre sie zu Mariebell. Diese ging nun wieder durch die vielen Räume in ihr Zimmer zurück, und nachdem sie Fingerhut und Uhr sorglich versteckt hatte, legte sie sich wieder in ihr Bett und schlief herrlich bis in den hellen Morgen hinein.
Der Prinz aber bemerkte bald nach dem Erwachen, daß ihm seine Uhr fehlte, zeigte den Verlust unverzüglich seinem königlichen Vater an, der den Palast von oben bis unten durchsuchen ließ, doch die Uhr wurde nirgends gefunden. Die ganze Dienerschaft 120 mußte sich eine Untersuchung gefallen lassen, aber niemand war darüber gekränkt, weil jeder sich unschuldig wußte. Der Dieb schien nicht im Schlosse zu sein. Am nächsten Abend ließ der König zwanzig Wachen im Vorzimmer des Prinzen aufstellen, damit niemand unbemerkt zu ihm gelangen könnte.
Mariebell jedoch ließ sich das Vergnügen nicht entgehen, am nächsten Abend abermals den königlichen Palast zu besuchen, und der Fingerhut tat treu seine Dienste, öffnete alle Wände und Türen, als wär's seine Pflicht. Der Prinz lag im gesunden Schlafe der Jugend, und Mariebell konnte ihn sich nach Herzenslust betrachten. Diesmal bemerkte sie an seiner rechten Hand einen sehr schönen Siegelring, den sie dem Schläfer vom Finger zog, um ihn als Andenken an den Prinzen mitzunehmen.
Am nächsten Morgen, als der Prinz sich die Hände waschen wollte, bemerkte er zu seinem nicht geringen Schrecken, daß ihm der Fingerring fehlte. Nun, da gab's aber ein Hallo im Schloß! Der geheimnisvolle Dieb hatte gewagt, den Ring vom Finger des schlafenden Prinzen zu ziehen! Das mußte doch ein ganz verwegener Gauner sein, der vor nichts zurückschreckte. Ja, und die zwanzig Wachen im Vorzimmer? Da war nicht einer unter diesen zwanzig, der nicht hoch und heilig seine Unschuld und seine Zuverlässigkeit beschwor. Niemand wollte geschlafen haben, und selbst wenn einige von den Wachen ein bißchen geduselt hätten, würde doch wohl einer unter den vielen das Eintreten des Diebes bemerkt haben. Kurzum, man stand vor einem Rätsel. Der König befahl: »Heute abend werden fünfzig Soldaten 121 strenge Wache halten, und wehe dem Diebe, der sich erwischen läßt!«
Es war nur ein Glück, daß Mariebell – an diesem Abend kam sie selbstverständlich wieder – nicht durch das Vorzimmer ihren Weg nahm, sondern wie auch die andern Male durch die Wand kam, die zu anderen Räumen führte. Diesmal hatte sie sich eine kleine Schere mitgenommen, und nachdem sie den schönen Prinzen, als wäre er ein Bild, genügend betrachtet hatte, schnitt sie ihm, zickzack, eine seiner langen, goldblonden Locken ab, die sie als Andenken mitzunehmen gedachte.
Als sie dann aber nach einer Weile den Rückweg wieder antreten wollte, bemerkte sie zu ihrer Bestürzung, daß sie den Fingerhut nicht mehr hatte. Sie suchte eifrig im Zimmer umher, aber er war nicht zu finden. Sie mußte ihn im Nebenraum verloren haben. Hier jedoch war nur eine Wand, die fest geschlossen war, durch die sie ohne Fingerhut nicht einmal hindurchsehen konnte. Jetzt war guter Rat teuer. Nebenan hörte sie einige von den Wachen leise miteinander sprechen. Mariebell wagte vor Angst kaum zu atmen. Was sollte sie nur tun? Sie überlegte hin und her. Den Prinzen wagte sie nicht zu wecken, denn der würde sicherlich über ihre heimlichen Besuche recht böse sein, und sie hatte ihm ja auch Uhr und Ring weggenommen, sanfter gesagt, ein wenig ausgeliehen. Ring und Uhr, die sie sogar bei sich in der Tasche trug, hätte sie dem Prinzen zurückgeben können. Was aber konnte er mit der Locke anfangen, die sie ihm abgeschnitten hatte? Die Locke würde ihm gewiß nicht wieder anwachsen, 122 und Mariebell verbarg das geraubte Haar rasch in ihrem Ärmel. O Fingerhütlein, komm zu mir! So wünschte Mariebell in ihrer Not, aber da kam kein Fingerhütlein.
Sie wagte nicht sich zu rühren, fürchtete jeden Augenblick, die Wache könne ins Zimmer treten. Und was würde dann geschehen?
Plötzlich schlug die große Wanduhr, die sich in einem Winkel des Zimmers befand. Mariebell sah hin und erblickte eine Frau, in silbergraue Schleier gehüllt, die den Uhrzeiger um eine Stunde vorrückte. Da schlug die Uhr mit wundersam leisem Klang zwölfmal.
Die Schleierfrau wandte sich um, bemerkte Mariebell, die tieferschrocken dastand, mit großen Augen auf die seltsame Erscheinung starrend. Diese aber blickte freundlich auf Mariebell und fragte mit zarter Stimme: »Was fehlt dir denn, mein Kind?«
»Oh, rette mich, ich flehe dich an! Nicht weiß ich, wie du hierhergekommen bist. Die Türen sind geschlossen. Oh, kannst du mich nicht verzaubern oder mich mit dir nehmen? Wie bist du nur hierhergekommen? Wer magst du sein?«
Die Schleierfrau lächelte ein wenig und sagte: »Ich bin die Stundenfee und überwache die Zeit. Mitnehmen kann ich dich nicht, aber verwandeln kann ich dich. Willst du, daß ich dich in eine Taube verwandele?«
»O ja, bitte, bitte, tu das. Daß mich eine Taube werden, denn ich habe solche Angst, Mariebell zu sein. Wenn man mich hier entdecken wird! Verwandle mich ganz rasch!« 123
Da wurde Mariebell sogleich zur weißen Taube, doch war sie gleichwohl so ängstlich, daß sie auf die goldene Lampe flog, die oben von der Decke herabhing, und in den Verzierungen der Lampe blieb die Taube in sich geduckt die ganze Nacht über still sitzen, ohne sich zu rühren.
Als am nächsten Morgen die warme Sonne ihre Strahlen durchs Fenster warf, erwachte der Prinz. Er rief sogleich nach seinem Kammerdiener, damit dieser ihm das Bad bereite und ihm beim Ankleiden behilflich sei. Der Kammerdiener bemerkte sofort, daß dem Prinzen vorne an der Stirn eine Locke fehlte, und rief erstaunt aus: »Oh, gnädiger Herr, es muß Euch jemand während der Nacht eine Locke abgeschnitten haben.«
»Reiche mir einen Spiegel«, rief der Prinz. Ja wahrhaftig, die schönste Locke fehlte. Die fünfzig Wachen wurden herbeigerufen, die wieder einmal lebhaft ihre Unschuld beteuerten. Der König kam herbeigeeilt. In der ersten Entrüstung befahl er voreilig, sämtliche Wachen ins Gefängnis abführen zu lassen. Schon wurden Wächter für die armen Wachen beordert, als der Blick des Königs zufällig auf den Kronleuchter fiel, in dessen vergoldeten Armen völlig verängstigt die kleine weiße Taube saß, die vor Schreck die Locke fallen ließ, die sie unter den Flügeln verborgen gehalten hatte. Alles war aufs höchste erstaunt. »Die Taube ist die Diebin. Sie wird am Tage durchs Fenster geflogen sein, um nachts zu stehlen. Ergreift die Räuberin. Sicher hat sie auch Ring und Uhr genommen. Faßt sie! Untersucht sie sofort.« 124
Mariebell als Taube zitterte vor Angst, flatterte hin und her, ließ Schere, Ring und Uhr aus den Flügeln fallen. Sie wurde von einer der Wachen ergriffen und dem König in die Hand gegeben. Das kleine Herz zitterte ihr in der Brust. Sie schloß die Augen und glaubte, ihr letztes Stündlein sei gekommen.
Der König befahl: »Man soll die Taube dem Koch übergeben, damit er sie gebraten dem Prinzen als Mittagessen vorsetzt.«
Soll das mein Los sein? Vor solchem Schicksal grauste der kleinen Mariebell, aber als Taube konnte sie ja kein Wort zur Erklärung vorbringen. Der Koch aber war ein gutmütiger Mensch, und als man ihm das niedliche Täubchen übergab, brachte er es nicht über sich, es zu töten.
»Es ist ja viel zu mager«, erklärte er, »und es hat keinen Sinn, ein solch winziges Ding zu braten. Wär ja schad um die Butter.«
Das hörte die Taube nicht ungern und äugte mit ihren blanken, blauen Gucksen so dankbar als möglich den freundlichen Koch an. Dieser beschloß, die Taube vorerst in den Hühnerstall zu lassen, ihr reichliches Futter zu geben. Später könne man ja dann immer noch sehen, ob sich die Taube als Braten oder Pastete eignen würde.
Nun war es für Mariebell zwar kein sonderliches Vergnügen, im Hühnerstall wohnen zu müssen, aber es war doch angenehm zu wissen, daß sie nicht auf der Stelle ihr junges Leben lassen mußte. Die Taube nahm sich fest vor, möglichst wenig zu essen, damit sie schlank und leicht bliebe, denn es mußte 125 ein zweifelhaftes Vergnügen sein, geschlachtet und gebraten zu werden. Sie wurde in dem Hühnerstall untergebracht, wo sie zwar nicht mit ihresgleichen auf einer Stange saß, aber die Hühner waren wenigstens gutmütige Wesen, wenn auch nicht sonderlich anregend, und manchmal sehnte sich die verzauberte Mariebell nach ihrer guten Amme zurück.
Ja, und wie es der ging, wagen wir kaum mitzuteilen. Wer beschreibt den Schrecken der Amme, als sie an jenem Morgen nach dem nächtlichen Ausflug Mariebells das Nest leer fand? Suchen, Weinen, Händeringen, Rufen, nichts half, und die Amme war der Verzweiflung nahe. Die Eltern wehklagten über das verlorene Kind, suchten es überall in der Stadt, obwohl man sich nicht erklären konnte, wie es aus dem Hause gekommen war, und die Amme hütete sich, etwas vom Fingerhut verlauten zu lassen, der mit Mariebell verschwunden war.
»Wir haben sie doch gut eingeschlossen«, jammerte die bekümmerte Mutter.
»Ja, das haben wir«, klagte der betrübte Vater, »aber es wäre gewiß besser gewesen, wenn wir sie nicht eingeschlossen hätten. Du siehst, sie hat sich ihre Freiheit zu verschaffen gewußt.«
»Wenn ihr nur kein Fingerhut in die Hände gerät, der ihr Unglück bringen kann!«
Aber Mariebell saß ohne Fingerhut im Hühnerstall. Eine der Hennen sagte aufmunternd zu ihr: »Iß doch, Täubchen, du kommst ja von Kräften, wenn du nicht ordentlich issest.« Da antwortete es: »Ach, ich habe gar keinen Appetit, ich will lieber noch magerer werden.« 126
»Mir scheint, du bist nicht recht bei Trost. Schau her, sogar unser Hahn hat Mitleid mit dir. Geh, nimm den Regenwurm, den er für dich ausgescharrt hat.«
»Ach, ich mag keinen Regenwurm!« antwortete die Taube und senkte schwermütig das Köpfchen.
»Du weißt nicht, was gut schmeckt«, sagte das Huhn und aß den Regenwurm selbst.
Manchmal flog die Taube in die Küche, weil sie dort etwas über den Prinzen zu erfahren hoffte. Auch wünschte sie dem Koch zu zeigen, wie mager sie noch war. Sie setzte sich ihm zutraulich auf seine Schulter, schmiegte sich weich an seine Wange, als hätte sie ihn bitten mögen: Nicht wahr, du tust mir nichts zuleide? Dann schob der Koch dem zahmen Tierchen einen kleinen Leckerbissen in den Schnabel. »Iß nur, Täubchen, du kannst ruhig etwas fetter werden, wir werden dich gleichwohl nicht schlachten, und wenn du zehn Ringe und zehn Uhren gestohlen hättest. Du weißt ja nicht, daß du eine kleine Diebin bist, hast auch alles brav zurückgegeben. Gib nur acht, daß du nicht unversehens in den Kochtopf fällst. So jetzt, geh fliegen, ich muß die Suppe rühren, Täubchen.«
Dann flog es fort und war eine Weile ganz vergnügt.
Eines Tages hörte die Taube die braune Henne schwer seufzen und fragte teilnehmend: »Was fehlt dir, gute Henne? Warum ißt du so wenig? Früher hast du mich aufgefordert zuzugreifen, und jetzt läßt du den Kopf hängen.«
»Ich weiß schon, warum ich mich gräme. Du verkehrst doch viel in der Küche, und daher wundert's mich, daß du nicht weißt, was los ist.« 127
»Keine Ahnung«, antwortete die Taube, »ich habe nichts Besonderes gehört. Allerdings habe ich mich seit zwei Tagen nicht in der Küche blicken lassen. Das Wetter ist so schön, und da habe ich mich aufs Dach des Schlosses gesetzt, um mir die Gegend ein wenig anzusehen.«
»Hast du den Prinzen gesehen?« fragte die Henne.
»Nein, den habe ich nicht bemerkt«, antwortete die Taube, aber sie war etwas verlegen dabei und scharrte mit den Füßchen im Sand, ohne etwas zu suchen und zu finden, was nämlich die Art der Tauben ist, wenn sie etwas zu verbergen haben. Wohl hätte die Taube nach dem Prinzen sich erkundigen mögen, fürchtete aber, ihre Liebe dadurch zu verraten, die sie einem Huhn nicht anvertrauen mochte. Dann jedoch sah sie das Huhn fragend ein wenig von der Seite an.
Dieses begann klagend zu berichten: »Doch, dok, dok, doch. Jaja, ich bin alt und kenne die Welt, und ich möchte am liebsten nichts mehr sehen und hören von ihr.«
»Was ist denn los?« fragte das Täubchen, »du machst mich neugierig. Was ist denn passiert?«
»Hochzeit gibt es. Dreihundert Gäste sind eingeladen, und einhundertzwanzig Köche sind angenommen worden. Zwei Ochsen und sieben Kälber sollen geschlachtet werden. Nun ja, das geht mich nichts an, aber man nimmt ja auch an anderer Leute Schicksal teil, und im Kuhstall wird nicht die beste Laune herrschen, und manche Mutter wird um ihr Kälbchen klagen. Ich bin ja selber Mutter und weiß, wie es einer Mutter zumute ist, wenn sie ihre 128 Kinderchen verlieren muß.« Die arme Henne seufzte ein Mal übers andere und fing ein wenig zu weinen an.
»Ach, liebe Henne, was bist du doch für eine Gute. Weinst du um die Kälbchen?«
»Freilich weine ich um die Kälbchen; aber ich weine noch mehr um meine eigenen Kinder, die alle in der Pfanne oder im Kochtopf endigen werden. Mich selbst kann man nicht brauchen, ich bin zu alt und zu zähe. Bin ja nur fürs Eierlegen gut genug, und zum Brüten läßt man mich ja kaum mehr kommen. Ach, wenn ich nur selbst zu einer kleinen Kraftbrühe dienen könnte! Ich würde gern mein Leben lassen, damit meine Kinder sich noch ein wenig des Daseins erfreuen könnten. Ach, aber dieses wird ihnen nicht beschieden sein!«
»O du Armes!« sagte die kleine Taube voller Mitleid, »wenn ich nur mit dem Koch sprechen könnte! Er mag mich ja gut leiden, und ich will's versuchen, meinen Einfluß auf ihn für deine Kinder geltend zu machen. Sei nur nicht zu traurig, es kommt vielleicht besser, als du denkst.«
Der Henne rollte noch ein Tränlein übers Schnäbelchen, aber der Zuspruch der Taube tat ihr sichtlich gut, und nachdem sie wie in der Zerstreuung ein paar umherliegende Erbsen aufgepickt hatten, sah sie die Angelegenheit weniger tragisch an, kam wieder ins Plaudern, denn Aussprache tut in solchem Falle immer wohl.
»Doch, doch, doch, es ist, wie ich sage, es gibt eine Hochzeit, und da wird es hoch hergehen an der Tafel. Der Prinz bekommt die steinreiche Prinzessin Mirabilis zur Frau.« 129
»So, so, der Prinz heiratet«, gurrte die Taube und versank in tiefes Nachdenken. Oh, wie traurig sie war, daß der schöne Prinz schon eine Braut hatte.
»Ist sie schön, die junge Braut?« erkundigte sich die Taube, melancholisch girrend.
»Weder schön noch jung«, gackerte die Henne ärgerlich, »mein Schnabel ist schöner als ihre Nase, und sie ist wenigstens viermal älter als ich. Aber was willst du? Sie ist steinreich, und das kann manchen Schönheitsfehler gutmachen. Aber was geht uns das an? Soll der Prinz heiraten, wenn er Lust hat. Uns kann er ja nicht zur Frau nehmen.«
O wie das Täubchen seufzte! Das kleine Herz wollte ihm fast brechen. Wie recht die alte Henne doch hatte! Der Prinz konnte weder die Henne noch die Taube zur Frau nehmen. Das Täubchen litt sehr unter seiner Verzauberung. Mariebell gedachte ihrer Eltern in großer Sehnsucht und hatte an diesem Tag nicht einmal Lust, auch nur ein einziges Hirsekorn zu essen.
In der Abendstunde wurde das Heimweh nach den Eltern so stark, daß sie auf und davon flog. Sie flog bis zum kleinen Haus, in dem sie ihre Kindertage verbracht hatte. Hier setzte sie sich bescheiden aufs Dach, bis die Sonne untergegangen war. Dann nahm sie sich vor, auf einem Baum zu übernachten. Doch als sie dorthin fliegen wollte, sah sie das selbe Fenster geöffnet, an dem sie früher einsam gesessen hatte. Da flog die Taube durchs Fenster und ließ sich auf dem Kissen nieder, auf dem Mariebells Kinderköpfchen geruht hatte. Oh, der schlimme Fingerhut! Hätte sie ihn doch nie zu Gesicht bekommen! Weil 130 das Zimmer dunkel und verlassen war, dachte sich das Täubchen, es könne wohl nicht schaden, wenn es hier auf dem Kissen ein Schläfchen mache. Es konnte am Morgen ja zeitig wieder fortfliegen. So schlief die Taube denn voller Vertrauen ein. Den kleinen Kopf steckte sie unter die Flügel. Mitten im Schlaf jedoch erwachte sie, weil sie plötzlich etwas Hartes spürte. In der Morgendämmerung erkannte sie, daß es der Fingerhut war, den die gute Stundenfee dorthin gezaubert hatte. Die Taube bemühte sich, den Fingerhut mit den Füßchen zu ergreifen, doch – o Wunder – kaum hatte sie den Fingerhut berührt, als sie sich im selben Augenblick verwandelt fühlte, und jetzt war es wieder Mariebell, die in ihrem Bette lag, das Fingerhütchen in der Hand.
Oh, ihre Freude war sehr groß, denn jetzt konnte sie doch wieder zu ihren lieben Eltern kommen, und alles konnte wieder gut werden, wie es einmal gewesen war. Dann aber fiel ihr der schöne Prinz ein, der vielleicht schon morgen seine Hochzeit feiern würde mit der Prinzessin Mirabilis. Da fühlte Mariebell die unbezwingbare Sehnsucht, den Prinzen noch einmal zu sehen. Vielleicht war es noch nicht zu spät. Es mochte noch nicht vier Uhr in der Frühe sein, und es war nicht anzunehmen, daß der Prinz so gar zeitig aufstehen würde. Da nahm Mariebell eilends ihren Fingerhut, klopfte an die Wand, die sich öffnete, genau wie früher, ging durch alle Räume hindurch, die sich hinter ihr schlossen, und so kam sie zum königlichen Palaste und noch einmal in jenen Raum, in dem der Prinz auf seinem Bette schlafend lag. 131
Ein Lächeln umspielte seinen Mund, als träume ihm vom Glück. Mariebell setzte sich leise neben ihn auf das Ruhebett. Da sie aber nun daran dachte, daß sie ihn jetzt nie wieder würde ansehen dürfen, begann sie zu weinen. Die Tränen fielen auf das Antlitz des Königssohnes. Da erwachte er und sah das kleine Mädchen an seinem Bette sitzen. Mariebell dachte nur an die Flucht, beeilte sich aufzuspringen, aber der Prinz hielt sie an der blauen Schärpe fest, die sich um das helle Kleid schlang. Mariebell riß sich los, doch die Hälfte ihrer Schärpe blieb in den Händen des Prinzen. Dem Mädchen aber gelang es, mit Hilfe des Fingerhutes zu entfliehen, und wenige Minuten später war es im Hause seiner Eltern.
Der Prinz aber, bewegt von der großen Schönheit und den Tränen des Mädchens, ging sogleich zu seinem Vater und teilte ihm mit, daß er auf keinen Fall die Prinzessin Mirabilis heiraten werde. Er wünschte sich nur das verschwundene Mädchen zur Frau. Der König, der seinen Sohn sehr liebte, war einverstanden und sprach: »Sieh nur zu, daß du das schöne Kind findest. Die Prinzessin Mirabilis mag deinen Vetter heiraten oder wen sie sonst will. Es gibt genug Prinzen in unserer Familie, aber du sollst nur ein Mädchen heiraten, das du von Herzen liebst.«
Nun befestigte der Prinz die Schärpe höchsteigenhändig an einer langen Stange, so daß sie wie eine Fahne anzusehen war, die ein Page durch die Straßen tragen mußte. Der Prinz ritt mit einem großen Gefolge hinter der Fahne her, und ein Diener mit besonders kräftiger Stimme rief überall aus: »Jenes 132 Mädchen, dem die andere Hälfte dieser Schärpe gehört, melde sich frei und offen, da ein großes Glück es erwartet.«
O ja, es gab viele Mädchen in der Stadt, die gar zu gern ihr Glück gemacht hätten und die aus dem Fenster blickten, aber leider konnte die Schärpe ja nur einem Mädchen gehören. Und dieses eine Mädchen zeigte sich nicht.
Während nun der Prinz von einer Straße zur andern zog, lag Mariebell im Bett, um sich von ihrem letzten Abenteuer im Schlaf zu erholen. Es mochte die zehnte Morgenstunde sein, als es der Amme einfiel, einmal in Mariebells Zimmer zu gehen, um dort ein wenig Staub zu wischen. Sie schlug die Hände vor Erstaunen über dem Kopf zusammen, als sie Mariebell frisch und gesund im Bett erblickte. Die Augen waren besonders blank, weil sie so gut ausgeschlafen hatte. Sie lächelte vergnügt der Amme zu, die ihren Schützling gerührt in die Arme schloß; doch hielt sie sich bei den Liebkosungen nicht allzulange auf, sondern eilte zu den Eltern, deren Freude keine Grenzen kannte. »Welch ein Glück, daß du wieder da bist! Erzähle uns, wie es dir gegangen ist. Was hast du gemacht? Wo hast du dich herumgetrieben, du kleiner Ausreißer?«
»Bitte, liebste Mama, liebster Papa, ich habe einen Riesenhunger. Ich will mich rasch ankleiden und komme sofort zum Frühstück. Dann will ich euch alles haarklein erzählen.«
»Aber komm ins Schloß, denn einsperren wollen wir dich nicht mehr. Wir laufen nur Gefahr, daß du uns wie ein Vogel davonfliegst.« 133
»Ja, und noch wie eine Taube«, rief sie fröhlich den Eltern nach. Rasch kleidete Mariebell sich an.
Da fiel ihr ein, daß sie nur noch die Hälfte ihrer Schärpe hatte, aber dagegen war jetzt nichts zu machen. Mochte der Prinz die andere Hälfte der Schärpe zum Andenken behalten. Sie hielt die zerrissene Schärpe in der Hand, um sie beiseite zu legen. Da hörte sie plötzlich durch das geöffnete Fenster eine laute Stimme rufen: »Jenes Mädchen, dem die andere Hälfte dieser Schärpe gehört, möge sich frei und offen melden, da ein großes Glück es erwartet.«
Mariebell horchte auf, eilte zum Fenster, und da sie den Prinzen erblickte, entfuhr ihr ein kleiner Jubelschrei des Glückes. In hoch erhobener Hand ließ sie ihr Stücklein Schärpe wie ein heiteres, blaues Flatterfähnlein im Morgenwinde zum Fenster hinauswehen. Da sie den Augen des Prinzen begegnete, der lächelnd zu ihr hinaufgrüßte, errötete sie in holder Freude.
Überglücklich betrat der Prinz das Haus, und Mariebell kam ihm auf der Treppe entgegen. »Du bringst mir meine Schärpe zurück?« fragte sie.
»Nein, die Schärpe bringe ich nicht, aber mein Herz. Willst du es?«
»Ja«, sagte Mariebell, »denn meines gehört dir schon lange.«
Da kam die Amme herzu: »Mariebell, die Eltern fragen, wo du bleibest. Der Frühstückstisch ist gedeckt.«
»Ja, sag nur, daß ich gleich komme.«
»Aber nicht allein«, rief der Prinz der Amme zu, »ich bitte darum, mit frühstücken zu dürfen, wenn man geneigt ist, mich einzuladen.« 134
»Ja, komm nur«, sagte Mariebell, »meine Eltern werden sich freuen.«
»Und werde ich deine Eltern auch um etwas Bestimmtes fragen dürfen?«
»Um was willst du fragen, wenn ich fragen darf?«
»Ob du meine Frau werden willst.«
»Frag nur«, sagte sie leise lächelnd.
Das verspätete Frühstück war mehr eine Verlobungsmahlzeit, und der Prinz kam zu spät heim zum Mittagessen. Wenige Tage später aber gab es auf der Hochzeit um so reichlicher zu essen, aber weder Hühner noch Tauben, weder Ochsenbraten noch Kalbfleisch, doch die feine vegetarische Kost schmeckte den Gästen auch nicht schlecht, zumal es die allerzartesten Gemüse in Butter gedünstet gab, und nachher Erdbeeren mit Schlagsahne. Die Henne im Stall wunderte sich über den bescheidenen Speisezettel und freute sich über die Maßen, daß ihre Kinderchen am Leben bleiben durften; aber sie hat nie erfahren, wem sie diese Gunst verdankte; denn sie konnte natürlich nicht ahnen, daß sie mit der schönen Braut einmal auf recht vertrautem Fuße gestanden hatte.
Am Hochzeitstage sagte die Henne zu ihren Kindern: »Wenn man nur nicht meine Freundin, die kleine weiße Taube, verzehrt hat, das würde mir doch sehr leid tun. Wo sie nur geblieben sein mag?«
»Hast du sie denn so liebgehabt?« fragten die jungen Hennen.
»Dodokdooch . . .«, sagte die gute alte Henne.
Die weiße Taube aber saß im weißen Seidenkleid neben dem Prinzen, und beide waren so glücklich, 135 als man nur werden kann, wenn zwei Menschenkinder einander liebhaben.
»Oh, war das eine hübsche Geschichte!« jubelten die Kinder, und Annina und Julia, deren Fingerchen beim Nähen mit einem Hütchen versehen waren, begannen im Spiel an die Wände zu klopfen; aber keine Wand öffnete sich, weil es rein zufällig kein Wunderfingerhut war, den sie besaßen.
Vezzosa lachte. »Nein, Kinderlein, man kann nicht solche Schlüsse aus den Märchen ziehen. Es sind nur die anmutigen Spiele der Phantasie, an denen wir uns erfreuen.« 136