Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Nun war der junge Offizier bereits drei Wochen in der Heimat. Es ließ sich gar nicht leugnen, er hatte »Leben in die Bude« gebracht, wie Doktor Roettger gut gelaunt zu seiner Frau sagte.
Die Abneigung der beiden alten Spielkameraden schien völlig geschwunden. Wenn sie sich auch nicht vor Zuneigung »aufaßen«, so war doch gegenseitige Achtung an Stelle der früheren Zurückhaltung getreten; jeder achtete im andern den tüchtigen Mann, der für seinen Beruf alle Kräfte einsetzt. Das hochfahrende Gebaren des Lieutenants war einem liebenswürdigen bescheidenen Wesen gewichen, und des andern Derbheit einer Milde, die ihren Ursprung in seinem häuslichen Glücke zu haben schien. Und so gab es jetzt gemütliche Plauderstunden am Theetisch beim Doktor oben, zu denen sich die ganze Familie versammelte und wobei der Weitgereiste den Mittelpunkt bildete; es gab festliche Sonntagsbraten in der Krautnerschen Villa, und sogar die Frau Rätin hatte sich zu einer Kalbskeule aufgeschwungen.
Das Weihnachtsfest war vorübergegangen mit seinem Lichterglanz; droben im Eßzimmer des jungen Paares hatten reiche Gaben die Familie um den Tisch versammelt, und das Stimmchen des Kindes, das jauchzend vor Freude nach dem schimmernden Baum die Händchen ausgestreckt hatte, war beglückend in aller Ohren geklungen.
Selbst von Julias Brust war ein Druck gewichen, sie atmete freier jetzt; die Wunde, welche die schöne blonde Frau einst dem Herzen des Bruders geschlagen, schien völlig vernarbt, und Therese – ja Therese hatte weniger als je Ohren und Augen für jemand anders als für ihren Mann. Nie konnte Julia entdecken, daß die beiden, der Frieder und die Therese, auch nur einen Blick wechselten, der über das zwischen harmlosen Bekannten oder Verwandten übliche Maß von Vertraulichkeit hinausgegangen wäre. Sie standen auf dem Fuße gegenseitiger freundlicher Wertschätzung und verkehrten, als hätte nie dieser schöne blonde Kopf an seiner Brust gelegen, als hätte er nie den roten Mund der reizenden Frau geküßt, als hätten nie ihre Augen die heißesten Thränen um ihn geweint.
Julia freute sich; aber sie staunte über diese Thatsache wie über etwas Unbegreifliches. Ob ihm das Herz nicht ein bißchen weh that?
Allmählich kam die bunte lustige Karnevalszeit heran. Therese saß über den neuesten Modezeitungen; der Lieutenant zeichnete ihr den Anzug einer schwedischen Bäuerin auf, den er reizend fand und wie geschaffen für ihre blonde Schönheit. Sie waren beide nach Tische allein im Eßzimmer zurückgeblieben. Papa Krautner und der Offizier hatten bei dem jungen Paare gespeist. Fritz war abgerufen worden, der alte Herr aber gegangen, sein Mittagsschläfchen zu halten. Der Tisch halb abgeräumt, nur die Kompottschüsseln noch auf dem Damasttuch, die Weingläser und die Fruchtschalen. Vor ihnen standen die halbgeleerten Mokkatassen; über ihnen zogen die leichten blauen Ringel der Cigarette hin, die der Offizier rauchte. Die Luft war warm, nach Tabak, Orangen und Kaffee duftend. Im Kamin verglühte das Feuer und warf seinen Schein auf das spiegelnde Parkett bis zu dem Smyrnateppich unter dem massiven Tisch. Das fahle Licht des Januartages erhellte nur dämmerig das trauliche Zimmer. Die Flamme unter dem blinkenden Kesselchen erschien intensiv blau und ticktack! ticktack! sagte die Uhr in ihrer leisen, bedächtigen Sprache. Die Zeitung knisterte in den Händen der jungen Frau und der Bleistift, welchen der Lieutenant führte, glitt hastig über das Papier. Sie blieben beide stumm, sie waren zum erstenmal ganz allein.
Nun verschränkte Therese die Arme unter der Brust und schaute unverwandt auf den Zeichnenden.
»So,« sagte er möglichst unbefangen und doch nicht im stande, seine innere Erregung und das Beben seiner Stimme zu verbergen, »so – denken Sie sich nun die Farben dazu, die lebhafte bunte Stickerei, das wunderschöne Blau des Mieders, und Sie haben ungefähr eine Vorstellung davon. Ich sah diese Tracht auf einem schwedischen Schiffe; der Kapitän hatte seine junge Frau bei sich, eine blonde schöne Frau wie – Sie, Therese.«
Sie zuckte empor und ward glühend rot.
Sie erhob sich endlich und ging schweigend zum Kamin hinüber, ergriff den Feuerhaken und schürte in der Glut. Er war ihr mit den Augen gefolgt, und sie mußte seinen Blick gefühlt haben, denn sie wandte sich um.
»Wollen wir ein wenig Schlittschuh laufen?« fragte sie hastig.
»Wenn Sie befehlen!«
Therese trat jetzt in die Fensternische, um nach dem Himmel und dem Thermometer zu sehen. Er erhob sich und folgte ihr. So standen sie eng zusammen in dem abgeschlossenen Raume, fast ganz verborgen von dem bunten gewirkten Vorhang. Ein grünliches Licht quoll durch die kleinen bleigefaßten Scheiben – nur eine einzige hatte eine klarere Farbe.
»Wie oft habe ich hier gestanden,« sagte er leise, »meinen Cornelius Nepos in der Hand, lernend und über das Buch in den Hof schauend, als wilder Junge jede Minute bedauernd, die mich hier oben hielt. Und dann, später einmal, da stand ich hier auch« – und seine Hand streckte sich gegen die neue Scheibe aus.
»Lassen Sie die Erinnerungen!« sagte sie heftig – wie befehlend.
»Wollen wir also aufbrechen?«
»Ja!« erwiderte sie; aber sie zögerte trotzdem. Und plötzlich wandte sie ihm voll ihr schönes Antlitz zu; es war mit Purpur überzogen. »Sagen Sie mir nur eins,« klang es wie ein Hauch zu ihm hinüber, »daß Sie mir verziehen haben!«
»Nein – ich habe es nicht!«
»Nein?«
»Nein – niemals!«
Sie sahen sich an, dann senkte sie die Augen, zitternd und mit der Hand hinter sich greifend, um sich auf die Fensterbank zu stützen.
»Wie könnte ich der verzeihen, die mich meines Lebensglückes beraubt hat?« sprach er bitter fort. Und im nächsten Augenblick fiel der Vorhang hinter seiner schlanken Gestalt zusammen. Therese hörte seinen Schritt durch das Zimmer gehen, hörte, wie er die Thür öffnete und schloß! Sie blieb zurück wie betäubt!
Das Stubenmädchen kam nach einer langen Weile herein.
»Frau Doktor?«
Sie erhob sich schwerfällig. »Was wollen Sie?«
»Der Herr Lieutenant erwartet Frau Doktor zum Schlittschuhlaufen.«
Sie hatte die Hand an die Stirn gelegt. »Sagen Sie, ich bedaure, nicht kommen zu können, es sei zu spät geworden und – ich hätte Kopfweh. Oder nein, sagen Sie das letzte nicht!«
Sie ging dann in die Kinderstube, aber der Kleine war drunten bei der Großmutter. So stieg sie die Treppe hinab und setzte sich still in den Lehnstuhl am Ofen, das Tändeln der alten Dame mit dem Kinde beobachtend.
»Was sagst du nur zu dem Lieutenant, Therese?« fragte diese mit einemmal.
»Wozu? Wieso?«
»Er ist nach Berlin befohlen und soll dem Kaiser berichten über das Gefecht. Gelt, Bub', der kann lachen!«
»Woher weißt du das?« fragte Therese sonderbar hastig.
»Vom Fritz. Der Brief ist vorhin gekommen, gerade als du herunterschicktest, daß du nicht mit aufs Eis wollest. Der Frieder muß heute abend schon reisen.«
Therese schwieg, sie war ganz rot geworden.
»Die Herren in der ›Traube‹ haben ihm gestern abend auch so zugeredet, er solle über seine Erlebnisse und über das ganze Thun und Treiben in der Kolonie einen Vortrag halten,« fuhr die Rätin fort. »Ich glaube, er hat's versprochen für nächste Woche. Weißt, da werden sich die Andersheimer die Köpfe schier blutig stoßen um die Plätze, denn das Afrikanische ist ja just Mode.«
Mamsell Unnütz, die eben in die Krautnersche Villa ging, um Frieder beim Einpacken zu helfen, traf ein paar Minuten später mit Frau Therese im Hausflur zusammen.
»Wo gehst du hin?« fragte die junge Frau.
»Zu Frieder hinüber.«
»Warte, ich komme mit; das heißt, ich will zu Papa!« –
Drüben in der Villa suchte Therese sofort das Zimmer ihres Vaters, Julia das ihres Bruders auf.
In der einfachen Stube des Hausherrn wogte ein blauer Tabaksdampf. Der alte Mann saß mit der langen Pfeife im Lehnstuhl; ihm gegenüber mit der Cigarre sein Schwiegersohn. Der Offizier hatte sich auf den Rand des Tisches gesetzt und hielt eine Cigarette in den schlanken Fingern.
Vater und Gatte begrüßten freundlich die junge Frau; Frieder richtete sich stumm aus seiner nachlässigen Stellung auf. »Ist Julia vielleicht auch mitgekommen?« fragte er.
»Ja,« erwiderte Therese, »sie will Ihren Koffer packen.«
»Brav von ihr!«
Sie trat hinter den Stuhl des Vaters; sie wolle sich nicht setzen, meinte sie, nur sehen, wie es ihm gehe; er sei bei Tisch so blaß gewesen.
»Deshalb kommst du?« rief der alte Herr lachend. »Ich bin munter wie der Fisch im Wasser!« Er stand auf und ging vor den einzigen Spiegel über der Kommode. »Muß doch einmal nachschauen, es hat einen zuweilen beim Kragen, man weiß nicht wie!« murmelte er.
»Aber, Papa, mach doch keine Witze!« rief der Doktor, »Du siehst aus wie das Leben selbst.«
»Ja, das ist wohl wahr, Fritz,« erwiderte jener und rückte sich etwas unbehaglich wieder in dem Stuhle zurecht. »Indessen – siehst du, vorgestern erst bin ich Frau Norban begegnet, sie saß in ihrem Wagen wie die Gesundheit selber – und heute liegt sie auf den Tod.«
»Frau Norban?« rief Therese. »Davon hast du mir ja gar nichts gesagt, Fritz!«
»Ich selbst höre eben das erste Wort.«
»Wie? Du bist doch Arzt bei Norbans?«
Er that einen leisen Zug an der Cigarre. »Wie es scheint, nicht mehr,« gab er dann ruhig zurück.
Die junge Frau wurde auf einmal dunkelrot. »Du kommst wohl jetzt aus der Mode?« sagte sie scharf. »Bei Brinkmanns und Voigts bist du seit Neujahr ja auch nicht mehr Arzt!«
Er lachte. »Seit wann bekümmerst du dich so eingehend um meine Praxis, kleine Frau?«
»Ich habe mich stets darum bekümmert, mehr als du denkst! Jedenfalls läßt es mich nicht so gleichgültig, wie es dich läßt, ob du noch der erste und gesuchteste Arzt der Stadt bist oder nicht!« antwortete sie erregt.
»Nun! Nun!« murrte der alte Herr, der nicht wußte, ob es Spaß sei oder Ernst.
Der Doktor lachte noch immer; der Lieutenant zündete sich langsam eine neue Cigarette an.
»An deiner Stelle suchte ich doch aus diesem Neste herauszukommen,« fuhr sie fort; »es müßte dir ja leicht werden, eine Professur in Heidelberg oder sonstwo zu erhalten! Aber du bist ganz zufrieden mit dem alten Schlendrian hier und läßt dir von den Leuten Unglaubliches bieten.«
»Frieder,« sagte der Doktor etwas scharf, »frage doch einmal Seine Majestät, ob er nicht zufällig einen Leibarzt braucht; meine Gattin würde sich ungeheuer für eine Frau Leibärztin eignen.«
Der alte Herr lachte und hustete überlaut; Frieder stand auf. Ohne auf den Scherz des Arztes einzugehen, verbeugte er sich höflich und empfahl sich unter dem Vorwand, seiner Schwester helfen zu wollen.
»Aber nun sage mir doch um Gottes willen, Kind, was ist in dich für ein Hochmutsteufelchen gefahren!« rief nun der Doktor, rasch wieder gut gelaunt. Und er haschte ihre Hand und zog die Widerstrebende zu sich heran. »Bietet denn Frau Norban mitsamt den beiden andern Ungetreuen schon einen Grund, meine hiesige recht angesehene Stellung aufzugeben?«
Sie warf den Kopf zurück und strich sich über die Stirn; es war, als kehre ihr langsam die Besinnung wieder. »Es thut mir nur leid, daß du hier versauern willst,« sagte sie leise, »und ich ärgere mich auch über die Undankbarkeit der Menschen.«
»Thörichtes Herz, überlaß das doch mir; ich habe so viel Gelegenheit, mich über Dankbarkeit zu freuen. Aber wir müssen heim, unsre Spielstunde mit Bubi kommt; es wird dämmerig. Gute Nacht, Großpapa!«
Sie gingen durch den Garten heim und traten zusammen in die Kinderstube. Die Wärterin hatte die Lampe angezündet und den großen weichen Filzteppich auf die Erde gebreitet; das Kind, das im kurzen weißen Flanellröckchen darauf saß, streckte dem Vater jauchzend die Aermchen entgegen. Leise verließ die alte Frau das Gemach, und die Stunde, die bisher für Eltern und Kind die schönste gewesen war, begann. Aber wunderlich, die Lust wollte heute nicht so recht kommen.
»Du bist gar nicht bei der Sache!« scherzte der Doktor und warf der jungen Frau, die am einen Ende des Teppichs hockte, den Ball zu, dem das Kind eilig auf allen vieren nachkrabbelte.
»In der That, ich – ich bin so müde heute,« sagte sie und rollte den Ball dem Jungen entgegen, der ein ganz verwundertes Gesicht machte; dann erhob sie sich und setzte sich in einen Stuhl.
»Du hast vielleicht Kopfweh, Herz?«
»Ja, ein wenig.«
»Sei still, kleiner Krakeeler, Mama hat Kopfschmerzen,« flüsterte er nun dem Kleinen zu und ergötzte sich an dem offenen Mündchen und den fragenden Blauaugen, womit dieser erst das Flüstern anhörte, um dann laut aufzujauchzen.
»Geh in dein Zimmer, Therese, dort ist's still; ich komme dir bald nach.«
Sie stand auf und ging hinaus. Sie wußte nicht, wie ihr war, und sie wollte es nicht wissen. Sie hätte irgend etwas thun mögen, etwas Tolles, Unvernünftiges – nur eine Ableitung, nur hinweg mit dem, was hinter ihrer Stirn tobte, was sie erregte bis aufs Blut! Seit Wochen schon, wo sie ging und stand, sah sie dasselbe – ein schönes gebräuntes Männergesicht unter blondem Haar, dessen helle Augen sie nie anzusehen schienen und ihr doch bis in den Grund der Seele drangen, sie in unerträglichem Banne haltend – immer diese gleich kühle überlegene Persönlichkeit, die, ohne mit der Wimper zu zucken, der größten Gefahr entgegentreten, aber auch lächelnd zu Tode verwunden konnte.
Und der hatte einst ihr gehört, ihr allein!
Sie stemmte die geballten Fäuste auf das Fensterbrett. Sie sah ihn dem kaiserlichen Herrn gegenüber ebenso ruhig vornehm, sie sah ihn an der Tafel, zu der er huldvoll befohlen war, vielleicht neben einer stolzen Schönheit, und er schildert der Dame die afrikanische Landschaft mit solcher Farbenglut, wie er sie ihr geschildert hatte all diese Zeit so, so oft! Wie lächerlich sie doch war! Was ging er sie denn noch an! Sie hätte ihn ja haben können, wenn sie gewollt – sie hatte ihn eben nicht gewollt und war die vergötterte Frau eines andern geworden – eines andern …
»Nun, Kleine, noch immer ohne Licht?« erklang in diesem Augenblick die Stimme ihres Gatten.
»Noch immer,« sagte sie müde.
Er ließ sich aufs Sofa nieder und gähnte vernehmlich. »Schatz,« bat er, »sei nicht böse – aber die heutige Geschichte hat mich fertig gemacht.«
Sie fragte nicht: »Was für eine Geschichte?« und erfuhr somit auch nicht, daß er eine schwere Amputation hatte vollziehen müssen.
»Komm ein wenig zu mir, Therese!«
Sie stand langsam auf und kam herüber, aber sie schmiegte sich nicht wie sonst an ihn. Er zog sie an sich. »So, nun will ich weiter nichts in der Welt.«
Sie antwortete nicht, sie zuckte nur unmerklich die Schultern, so unmerklich, daß er es nicht fühlte, obgleich er sie im Arme hielt. So saßen sie schweigend, und endlich nach langer Zeit sagte sie halblaut: »Es wäre aber doch schön!«
»Was denn?«
»Wenn du irgend etwas thätest, um irgend etwas –«
»… Ordentliches zu werden,« ergänzte er. »Bist doch ein närrisches Ding! Lassen dich denn Frieders Lorbeeren nicht ruhen?«
Sie zuckte abermals die Schultern, und nach einer Weile kam es tonlos und schwerfällig von ihren Lippen: »Was geht mich der Frieder an!«
*
Der Frieder war wirklich in die Mode gekommen. Die Blätter hatten lange Artikel über ihn gebracht, die ausführlich berichteten, daß er nach Berlin befohlen worden und wie es zugegangen sei bei der Audienz. Und dann hatte der Bürgermeister des Städtchens angezeigt, daß Lieutenant Adami zum Besten des Baufonds für Wiederherstellung der Elisabethkirche in Andersheim einen Vortrag über seine Erlebnisse im deutschen Schutzgebiet Ostafrikas halten werde.
Der Gefeierte selbst veränderte bei alledem keine Miene, er blieb genau so formell und so freundlich wie immer; er rauchte ebenso seelenruhig seine Cigaretten in ununterbrochener Folge, lief mit Frau Therese Schlittschuh und tanzte mit ihr in den Gesellschaften, die man ihm zu Ehren gab. Aber er tanzte mit ihr durchaus nicht häufiger als mit andern.
Dabei wurde Therese blasser und gereizter denn je, und der Doktor geriet in ernstliche Sorge; ängstlich besprach er sich mit seiner Mutter über diese seltsame Veränderung.
»Nun, du bist der richtige Doktor für die Familie,« erklärte diese gelassen; »ich gebe dir den Rat, stell dir einen Hausarzt an! Als ob's etwas wäre, wenn eine junge Frau einmal Launen hat! Als ich jung verheiratet war, da habe ich deinem seligen Vater – meiner Seel – einmal den Stiefelknecht am Kopfe vorbei geworfen.«
Er mußte lachen und war ein paar Tage beruhigt, um dann desto besorgter zu werden.
Aber plötzlich schien alles verschwunden, was Theresens Laune getrübt hatte, und diese Umwandlung geschah an dem Tage, an dem Frieder Adami seinen Vortrag im Kasino hielt. Therese kam gegen Abend noch ziemlich mißmutig in Tante Riekchens Stube, um mit Julia zu dem Vortrag zu gehen, denn die Rätin war zu ihrem Kummer durch Migräne ans Bett gefesselt und Tante Riekchen, in Kissen und Decken eingemummt, war in ihrem Rollstuhl schon zur »goldenen Traube« gefahren; dort sollten einige Männer sie unter Anleitung des Doktors mitsamt dem Stuhle in den Saal tragen. Seit Jahren war sie nicht mehr aus dem Hause gegangen, aber heute – sie hätte um keinen Preis fehlen mögen bei dem Vortrag ihres Lieblings.
Julia konnte nicht anders, sie mußte mit. Gern wäre sie zu Hause geblieben, aber Tante Riekchen hatte fast geweint, als sie Einwendungen machte, und so zwängte sie sich in ihr bestes Kleid, das ihr allerorten zu knapp geworden war. Sie fühlte sich unbeholfen und unglücklich darin, und Therese sagte auch sofort, sie wolle ihr ein Tuch borgen, denn die Taille sitze ja unter jeder Kritik. Die elegante Frau hätte um die Welt nicht mit dem schlecht angezogenen Mädchen in den Saal treten mögen und half nun selbst, Julia ein weißseidenes Tuch mit zarter Goldstickerei in geschmackvollen Falten umzustecken; auf der linken Schulter befestigte sie es mit einer kleinen römischen Mosaikbrosche in Form eines Dolches – es war das einzige Andenken, das Julia von ihrer Mutter besaß und das sie zögernd hervorgesucht hatte.
So kamen sie in den bereits gefüllten Saal des Gasthauses, in dem sämtliche Gaskronen brannten.
Die Honoratioren von Andersheim waren vollständig erschienen. Für Therese fand sich ein Platz in der vordersten Reihe belegt; Julia setzte sich zur Seite des Podiums, neben den Fahrstuhl des alten Fräuleins Trautmann. Sie konnte den ganzen großen Raum bequem übersehen, wagte aber nicht, die Augen zu heben; sie hatte Angst, große Angst, wie wenn sie die volle Verantwortlichkeit für das zu tragen hätte, was ihr Bruder rede und thue; und ihr Vertrauen war gering, sie zweifelte, daß er im stande sei, gut zu sprechen.
Schon beim Hereinkommen hatte sie flüchtig gegenüber an der Wand neben einigen andern Herren Fritz bemerkt, aufmerksam gemacht durch Theresens ärgerlichen Ausruf: »Bitte, sieh nur, wie mein Mann ausschaut! Er hat sich nicht mal umgezogen!« Dann hatte Julia nicht mehr hinübergesehen. Endlich wagte sie es und bemerkte, daß seine Augen groß und wie verwundert auf sie gerichtet waren. Der Blick traf sie verwirrend; sie glaubte darin zu lesen, daß sie sich zu auffallend geschmückt habe, und errötend senkte sie aufs neue den Kopf.
Irgend ein Sonett, er konnte sich nicht besinnen, wo er es gelesen, kam dem Doktor drüben unabweisbar in den Sinn.
»Sie stieg vom Kapitol die Stufen nieder,
Da purpurn schon die Sonne Roms versank.
Nie sah mein Auge, seit es Schönheit trank,
So stolzes Haupt, so königliche Glieder.
Als früg' ihr Reiz nach keines Menschen Dank,
Hielt sie gesenkt die breiten Augenlider.«
Und er wandte sich zu dem alten »Onkel Doktor«, dem Vormund des Mädchens, und sagte ehrlich verwundert zu ihm:
»Sehen Sie nur, was aus dem kleinen schwarzbraunen Püppchen für ein stolzer Schmetterling geworden ist und wie das goldgestickte Tuch sie kleidet!«
Und dann sandte er die Blicke zu seiner jungen blonden Frau hinüber, und ein Zug von Rührung ging über sein Gesicht. Das Reizendste, Süßeste, Beste in diesem ganzen Saale gehörte ja doch ihm! Er liebte sie, liebte sie jetzt, wo sie blaß, gereizt, nervös war, vielleicht noch zärtlicher als sonst. Er bemühte sich, einen Blick, einen Gruß von ihr zu erhaschen – vergebens; sie sah nicht herüber.
Und nun erschien der Redner. Seine Verbeugung war tadellos, seine äußere Erscheinung nicht minder. Der Frack saß ganz vorzüglich, und die leichte Blässe seines Gesichts machte sich sehr interessant.
»Wenn man«, begann er, »etwas erzählen will, so soll man es vollständig thun! Nun ist mir seit jener Stunde, da ich wieder deutschen Boden betrat, keine Frage häufiger gestellt worden als die: ›Wie kamen Sie auf den Gedanken, nach Afrika zu gehen?‹ Und ich vermute, daß auch hier in diesem Saale mancher zunächst den Grund kennen lernen möchte, der mich hinübertrieb in den dunklen Erdteil. Ich will ehrlich sein – ich habe mich immer für Afrika interessiert, habe mit Begeisterung unsre Fortschritte dort verfolgt. Nichts gleicht der Bewunderung, die ich unsern kühnen Pionieren zollte, welche Gefahren, Mühen und Entbehrungen nicht scheuten und nicht scheuen, jenes Land zu erforschen. Natürlich ging aber dem Entschluß, selbst an dem gewaltigen Werke teilzunehmen, ein besonderer Anstoß voraus. Welcher Art dieser war, das zu wissen ist kaum von Wert für zweite und dritte – nehmen wir an, ich wollte ›alten Gram heilen in neuer Luft‹. Also genug davon! Daß es mir nebenbei nicht an dem ehrlichen festen Willen fehlte, zu nützen, zu lernen und zu lehren, ja Blut und Leben für ein großes Ziel einzusetzen, glaube ich bewiesen zu haben.
Gestatten Sie mir denn, verehrte Herrschaften, in meiner Schilderung mit dem Augenblick zu beginnen, da ich, an der Treppe der Kommandobrücke eines mächtigen Kriegsschiffes stehend, die Türme und Dächer der guten Stadt Kiel im Winternebel verdämmern sah und das heimatliche Wasser unter dem Buge rauschen hörte, der einem südlichen Meere zustrebte. Eine wahrhaft klägliche Abschiedsstimmung hatte sich meiner bemächtigt, die mir das, was ich in der Heimat besessen, was ich verlor und meiden sollte, zauberischer und unersetzlicher als jemals vormalte, so daß ich mich als den unglücklichsten Menschen des Erdballs betrachtete. Und ganz wahr ist's nicht, was die Philosophen behaupten, daß Entfernung von dem Orte, wo einem Leid geschehen, die Schmerzen mildere. Mir persönlich hat die Sehnsucht nach der Heimat viel zu schaffen gemacht.«
Julia hatte unwillkürlich Therese angeschaut. Das Gesicht der jungen Frau war fast weiß; wie verzehrend hingen ihre Blicke an dem schlanken Manne dort oben. Und nun wandte er langsam sein Gesicht ihr zu und sekundenlang tauchten vier Augen ineinander in einem Blick, der Julias Herz wie wahnsinnig pochen machte, der ihr das Blut in die Wangen trieb, bis ein Schwindel sie erfaßte. Sie hörte nicht, was ihr Bruder noch sprach, sie hatte die Hände ineinander verschränkt, so fest, daß es sie schmerzte. Sie dachte nur eins – ob Fritz diesen Blick bemerkt hatte, und was denn nun werden solle, nachdem die zwei sich so angeschaut und – und – großer Gott! Bisher hatte sie ja immer nur Angst gehabt, daß Frieder sich abermals von seiner Liebe hinreißen lassen, daß er unglücklich sein könnte, wenn er sie sähe – an Therese hatte sie nicht gedacht, sie war ja die Frau, die geliebte Frau eines andern, glücklich und beneidenswert. Und nun – – nein, es war ja nicht möglich! Sie zwang sich, ruhig zu sein, sie blickte zu der jungen Frau hinüber. Die saß jetzt mit rosigem Gesicht da, langsam den Fächer bewegend, und schien ernst aber unbewegt zuzuhören. Keine Spur mehr von jenem blitzartigen Austausch verborgenen Verständnisses wie vorhin. Sie sah auf Fritz; er saß ruhig zwischen seinem Schwiegervater und dem Onkel Doktor und folgte eifrig den Worten des Redners. Und sie sah über die ganze Versammlung hin – lauter der Situation angemessene gespannte Mienen. Sie atmete auf. Das Schreckliche hatte niemand gemerkt als sie – war es denn wirklich gewesen, war's nicht ein Traum?
Und doch konnte sie das Auge nicht mehr von den beiden lassen. Aber sie schauten sich nicht mehr an. Ein paarmal bei heiteren Schilderungen lief beifälliges Lächeln die Reihen entlang, um Theresens Mund aber zuckte es nicht einmal, und Julia meinte, sie höre gar nicht, was er sage, sie denke – o sie denke – mein Gott, an was? Und das erstickende, atembeklemmende Gefühl überkam sie wieder.
Nun hatte er geendet; ein lautes Beifallklatschen hallte durch den Saal. Julia sah, wie ihr Bruder die zwei Stufen des Podiums herunterschritt und die ausgestreckte Hand Theresens mit unbewegtem Gesicht an die Lippen führte – dann trat er zu der alten Dame und küßte ihr ebenfalls die Hand.
»Schön! Sehr schön!« flüsterte Fräulein Riekchen matt. »Aber – Frieder – nein, nicht hier – später!«
»Was wünschest du, Tante?«
»Ach, mein Bub', ich hatte gar nicht gewußt, daß dich ein Kummer fortgetrieben hat,« sagte sie mit Thränen im Auge.
Er lächelte. »Man muß seine Rede ein wenig ausschmücken; beunruhige dich nicht, Tante!«
Er schob selbst den Fahrstuhl den schmalen Gang zwischen den Sitzen hin, und Julia schritt hinter ihnen, stumm, mit glühenden Wangen und gesenkten Augen.
In der Nähe der Saalthür, wo sich noch die Menschen drängten, trafen Julia und Tante Riekchen mit Papa Krautner zusammen. Dieser lenkte plötzlich den Fahrstuhl auf eine Seitenthür zu und winkte den andern, nachzukommen; ein paar Sekunden später befand sich die Familie allein in einem kleinen Nebenzimmer. In dessen Mitte unter dem brennenden Kronleuchter stand ein gedeckter Tisch, auf dem, verheißungsvoll genug, jedem Teller eine Anzahl Gläser zugesellt war.
Der alte Herr Krautner schien ganz berauscht von den Erfolgen seines Gastes und hatte sich vorgenommen, den netten tüchtigen Kerl, der sich so brav herausgemacht hatte, ordentlich zu feiern.
»So,« sagte er, »und nun wollen wir auf das Wohl des Redners trinken – bitte die Herrschaften, Platz zu nehmen, die Austern kommen bald.«
Tante Riekchen erklärte aber sofort aufs bestimmteste, sie wolle heim, und der Doktor sagte, er müsse so wie so noch rasch zu einem Schwerkranken und wolle dann gleich die Tante nach Hause bringen. Nun befahl der Gastgeber, man solle mit dem Servieren warten, und benutzte die Pause, um drunten in der Gaststube ein Glas »Echtes« zu trinken.
Julia fand sich plötzlich mit Frieder und Therese allein. Es war nicht sehr warm in dem Zimmer, das eine schäbige Gasthofeleganz zeigte, dennoch schien es ihr furchtbar schwül. Therese saß auf dem mit rotem Plüsch bezogenen Sofa, Frieder stand vor dem gedeckten Tisch und las die Speisekarte.
Zerstreut schaute Julia im Zimmer umher, sie betrachtete die Oeldruckbilder des Kaisers und der Kaiserin und die schrecklichen Tapeten.
Sie hätte nach Hause gehen müssen, um die erregte alte Frau zu beruhigen, nach der Rätin zu sehen, deren Kopfweh nach solchen Migränetagen sich gegen Abend in Eigensinn und Schelten aufzulösen pflegte, und es hielt sie doch wie mit eisernen Klammern auf ihrem Platze; sie wollte nicht, daß die beiden allein bleiben sollten, nach diesem Blick, der seinem für Therese so deutlichen Geständnis gefolgt war, dem Geständnis, daß er nur ihretwegen das Vaterland verlassen habe – morgen – morgen mußte ja der tolle Spuk verschwunden sein. –
Und endlich kam der Doktor wieder, und nun war ja alles gut, meinte sie. –
Sie erhob sich.
»Bitte, nehmt es mir nicht übel, wenn ich gehe,« sagte sie, »ich glaube, es ist nicht recht, daß ich die Tante allein lasse.« Und schon war sie an der Thür.
»Aber, Julia!« rief der Doktor und folgte ihr.
Doch sie eilte mit dem Rufe: »Ich bitte dich, Fritz, bleibe!« die Treppe hinunter, ergriff ihren Mantel, der in der Garderobe noch einsam neben Theresens Sachen am Nagel hing, und eilte hinaus auf die dunkle Straße.
Plötzlich fühlte sie sich gehalten.
»So erlaube wenigstens, daß ich dich nach Hause begleite,« sagte der Doktor, »der Weg ist weit, und es liegt ein Stückchen einsamer Chaussee dazwischen.«
»Ich bitte dich, Fritz, geh! Dein Schwiegervater wird anfangen wollen, zu speisen,« bat sie ungeduldig.
»Papa Krautner? Der sitzt jetzt noch hinter einem frisch bestellten Glas und disputiert so eifrig mit Onkel Doktor, daß er nicht eher daran denken wird, er habe Gäste, bis ich ihn am Rockärmel nehme. Die paar Minuten machen nichts mehr aus.«
»Ich will aber nicht, daß du mitgehst!« rief sie außer sich, »hörst du, ich will nicht!« Sie stampfte hörbar auf den Boden. »Ich kann mich allein schützen!« – Und im Scheine der Straßenlaterne sah er ein aufgeregtes ängstliches Gesicht, aus den Augen aber leuchtete ein entschiedener Wille.
Sie wandte ihm den Rücken und ging raschen Schrittes davon.
Er zuckte die Schultern und kehrte zurück. »Wunderlich,« sagte er, »nicht die kleinste Gefälligkeit nimmt sie an. Meine Mutter würde es ›Vettelstolz‹ nennen – oder steckt was andres dahinter? Ich weiß doch, daß sie ungern abends allein auf der Straße geht.«
Er trat in die Gaststube und holte den Schwiegervater, der mit rotem Kopfe seine kolonialpolitischen Ansichten verfocht. »Du, Papachen, wir wollen essen; droben warten Therese und Frieder mit Schmerzen auf uns.«
Als sie eintraten, stand die junge Frau an dem eisernen Ofen, hatte ihren Fuß auf den Vorsprung der Ofenthür gesetzt und ließ den Flammenschein darüber spielen. Frieder kam eben vom Fenster zurück.
»Endlich!« murrte Therese, »wir haben eine Ewigkeit gewartet.«
Fritz zog sie zum Tische. »Du glühst ja förmlich,« sagte er, »wie kannst du dich so dicht an den eisernen Ofen stellen? Du wirst dir deinen schönen Teint verderben, du Leichtsinn!«
Sie schauerte zusammen. »Mich fror so sehr,« murmelte sie und betrachtete angelegentlich die Nummer in ihrer Serviette.
*
»Fritz,« bat am andern Tage Fräulein Trautmann, »weißt du denn nicht, ob Frieder etwa eine unglückliche Liebe gehabt hat?« Die alte Dame kam gar nicht zur Ruhe seit gestern. »Wie hat er doch gesagt – ›Ich wollte alten Gram heilen in neuer Luft‹?«
Der Doktor lächelte.
»Tante, das Wort stammt nicht von ihm, sondern von Paul Heyse, und weißt du – Klappern gehört zum Handwerk. Frieder hat's verstanden, sich sofort der hiesigen Damenwelt interessant zu machen. Meines Erachtens sieht er nicht aus wie ein Liebeskranker, und – ehrlich gestanden – wenn einer wirklich deshalb fortgeht, so hängt er es nicht an die große Glocke. Vielleicht ist's ja auch möglich, daß er hier noch eine alte Flamme hat, der er aufbinden wollte, daß er ihrer Sprödigkeit halber übers Meer hinüber sei. Gib dich also zufrieden, Tantchen – dein Frieder ist ein Spaßvogel und wird schon wissen, weshalb er so redet.«
»Julia sagt das auch; aber sonst ist er doch so ernst,« seufzte Fräulein Riekchen, »und mir will er nicht Rede stehen.«
*