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Eine grelle Frühlingssonne begrüßte mit ihrem blendenden Schein Mamsell Unnütz, als sie zum erstenmal nach ihrer Krankheit die Treppe hinunterschlich, um ein paar Atemzüge in frischer Luft zu thun. Sie hielt sich ängstlich fest an dem Geländer; eine stützende sorgliche Hand, wie sie sich sonst dem Genesenden, auch dem ärmsten, bietet, fehlte ihr, sie mußte schon ihren eigenen Füßen vertrauen – wenn sie nur nicht so matt gewesen wären! Aber wer sollte ihr behilflich sein? Die Tante war selbst so elend, daß sie einer Stütze bedurfte, und die Rätin? Die hatte, seit die Kranke außer Gefahr und gar außer Bett war, kaum noch einen flüchtigen Blick für sie. Seitdem sie die »unpassende Scene« gemacht hatte, war das unnütze Anhängsel »Luft« für sie. Fritz aber, Fritz war nach wie vor freundlich – und doch so anders wie sonst. Ach, überhaupt, es war ja alles anders!
Das junge Mädchen schlich jetzt im Garten dahin. In dem breiten Rebengang brannte die Sonne durch das kahle Gezweig, und auf den Rabatten zu beiden Seiten des buchsbegrenzten Weges blühten gelb und blau Krokus und Leberblümchen. Ein süßer Veilchenduft wogte in der Luft und allenthalben schimmerte es bräunlich an dem Geäst der Sträucher und Bäume.
Der Strom war mächtig angeschwollen, die Aue drüben stand unter Wasser. Julia sah das alles wie im Traume; die Luft wirkte betäubend auf sie, die monatelang nicht im Freien gewesen war. Sie mußte sich plötzlich an den Stamm des Nußbaums lehnen; nur wie durch einen Schleier bemerkte sie noch das Funkeln des Stromes und das erwachende Leben der Natur.
In der Krautnerschen Villa wurde eben eine Flagge an der zierlich bemalten Stange aufgehißt. Julia verfolgte sie mit den müden Augen; wie sie lustig flatterte da droben! Niemand hatte ihr davon gesprochen, aber sie wußte, es war der Willkommgruß für die, die heute heimkehrten aus dem Süden.
In des Mädchens Brust regte sich ein heißer Schmerz. Sie sagte sich, daß der Fritz wohl deshalb heute zum erstenmal seinen Krankenbesuch in ihrem kleinen Stübchen unterlassen habe, weil er seine Freude nicht vor ihr zeigen wollte.
Sie biß die Zähne zusammen und schüttelte, zornig über sich selbst, den Kopf. Was wollte sie denn? Es hatte alles seine Richtigkeit – mochte er in Theresens Besitz das Glück finden, das er erwartete! Die schwere Zeit bis zu ihrer völligen Genesung mußte ja auch verfließen, und dann konnte sie das Haus verlassen, konnte auf eigenen festen Füßen stehen – und alle, die hier zurückblieben, segneten wohl den Augenblick, wo sich die Thür hinter ihr schloß. O, wie schön mußte es sein, ein liebes trautes Vaterhaus zu besitzen, einen Fleck, von dem man weiß, da bist du jederzeit willkommen, da sind treue Herzen, da sind offene Arme, Hände, die dich segnen, die ihr letztes Stückchen Brot mit dir teilen. Und wie gut hatte es doch so ein Mann wie der Frieder – ja, wo mochte wohl der Frieder augenblicklich sein?
Er hatte eines Tages seiner Tante kurz mitgeteilt, er habe den Friedensdienst der Garnison satt, habe um seine Entlassung gebeten und sich gleichzeitig als Offizier für die deutsche Schutztruppe in Ostafrika gemeldet. Sobald er zustimmenden Bescheid erhalte, komme er, um Abschied von ihr zu nehmen. So zwischen Weihnachten und Neujahr war er dann richtig auf vierundzwanzig Stunden dagewesen, um der alten Dame lebewohl zu sagen. Julia erinnerte sich nicht, ob er auch ihr die Hand gedrückt zum Abschied, sie lag gerade damals am schwersten danieder. Tante Riekchen aber war seit jenem Augenblick ganz zusammengebrochen und alle ihre Sorge vereinigte sich auf den Fernen, alle ihre Gebete erflehten Schutz für den geliebten Pflegesohn, der, seinem Thatendrang folgend, wohl gar von den Schwarzen ermordet wurde. Jedenfalls kam es so wie er gewollt; er war aus der Armee geschieden, um in fernen Ländern seine Kraft zu erproben, und als er das Haus verließ, das ihm Heimat geworden war, reiste er ab mit dem letzten Bargeld der alten Dame und hinterließ ein Herz zum Brechen krank und schwer.
Ob er Theresens Untreue erfahren hatte? Ob diese gar der Grund, daß er Europa den Rücken wandte? Darüber war sich Julia selbst nicht klar, nur das wußte sie bestimmt, daß er als glücklicher Bräutigam schwerlich solch Interesse für Deutschafrika bewiesen hätte. Julia hatte jedenfalls niemand erzählt, daß Frieder und Therese sich miteinander verlobten. Sie besaß kein Recht dazu, meinte sie, und der vollendeten Thatsache einer neuen und erhörten Werbung gegenüber hätte sie nur Verwirrung gestiftet, den Frieden eines Herzens gestört, das ihr das teuerste war, vielleicht sein Glück vernichtet, und das durfte sie nimmermehr. Sie hatte die immer wieder aufsteigende Mahnung: »Sag ihm, daß sie eben einem andern die Treue brach,« siegreich niedergekämpft. Der Grund schien ihr nicht lauter und rein genug, der sie trieb, ihm den Charakter Theresens zu enthüllen. Ja, wäre sie seine Schwester gewesen! Aber sie war weiter nichts als ein Mädchen, das ihn liebte, so über alles liebte, es war nicht allein die reine ehrliche Sorge um sein Wohl, es war etwas, vor dem sie sich selbst schämte, ein heftiger leidenschaftlicher Schmerz und bittere ätzende Eifersucht dabei.
So schwieg sie – schwieg, wenn er am Bette saß in den Tagen, da ihr allmählich das Bewußtsein wiederkehrte, wenn er mit besorgter Miene und einem mitleidigen Ausdruck in den Augen ihre zuckende Hand hielt; schwieg, als sie von der Rätin erfuhr, daß die Verlobung des Doktors gleich nach Theresens Rückkehr stattfinden solle. Sie schrie es nicht hinaus: »Das Mädchen, das du liebst, ist treulos, treulos bis ins innerste Herz! Sie nimmt dich nur, wie sie sich ein neues Kleid kauft – weil es Mode ist!« Sie preßte die Lippen aufeinander und stellte sich schlafend, nur damit er gehe, damit sie das geliebte Antlitz nicht sehen mußte.
Es war fast ein Wunder, daß sie unter solchen inneren Kämpfen genas, daß sie überhaupt wieder hier stand in Luft und Sonne, daß sie die Fahne dort oben wieder so lustig flattern sah. Mamsell Unnütz verfolgte jede Wendung der tanzenden Fahne in der Frühlingsluft, und dann erblickte sie über die niedrige Mauer hinweg durch das kahle Geäst den Kutscher und die Stubenmädchen, die unter lautem Lachen ein mächtiges Blumengewinde über der Hausthür befestigten, sie sah Frau Roettger in höchst eigener Person zu den Leuten treten, um ein zierliches Blumenkörbchen abzugeben, jedenfalls ein Willkommgruß in Theresens Boudoir!
Julia schritt langsam wieder dem Hause zu, ihre Kraft war erschöpft. Durch die sonnige Luft kamen jetzt voll die Klänge der Kirchenglocken; alle drei wurden geläutet, als gelte es, einen großen Festtag einzuläuten, und doch klangen sie traurig. Julia kannte diese Klänge – irgend ein müdes Menschenkind trug man zu Grabe, aber eines, das hienieden zu den Bevorzugten gezählt hatte.
Mühsam drückte sie die schwere eichene Hausthür auf und kam in den dämmernden Flur, gerade als die Rätin von der andern Seite eintrat. Diese that gar nicht, als ob sie das blasse Mädchen bemerkte; sie ging eilends in die Küche und rief von der Schwelle aus Luischen zu: »Eben wird der junge Norban begraben! Lieber Gott, wenn er nur wenigstens einen hinterlassen hätte, der ihn beerben könnte; jetzt sitzt die alte Mutter allein mit dem vielen Gelde da!«
»Ja, ja,« antwortete Luischen, »wenn Fräulein Julchen den genommen hätte – was die jetzt für eine reiche Witwe wäre und wie sie das Leben genießen könnte – und was hat sie nun?«
Mamsell Unnütz lächelte, als sie mühsam die Treppe hinaufstieg. Ja, was hatte sie nun? Nichts, gar nichts! Und doch – sich selbst hatte sie noch und das Bewußtsein, recht gehandelt zu haben, und … den Schmerz um ihn.
Julia sah wirklich den Fritz heute nicht, zum erstenmal nicht. Er schickte ihr nur ein paar Orangen hinauf und ein Buch. Sie möge entschuldigen, daß er heute nicht komme, er habe so viel zu thun.
Nun saß sie am Fenster und blickte auf den Strom und zählte die Schiffe und starrte in die Sonne, die blutrot unterging, und sagte sich: »Jetzt müssen sie kommen.«
Drunten im Erdgeschoß war es ganz still, auch die Rätin schien nicht daheim zu sein. Vielleicht feierten sie heute schon die Verlobung, vielleicht hatte Therese doch schon dort unten am blauen Meere dem Vater gestanden, daß sie den Fritz Roettger liebe, und dabei gefragt, ob ihm wohl dieser Schwiegersohn recht sei? Und Julia meinte, des alten Herrn freudestrahlendes Gesicht zu sehen und sein herzliches Lachen zu hören: »Ja, Töchterchen, den, den – in Gottes Namen – du hast gut gewählt!«
Dann hatte Therese telegraphiert – sicher, so war es – und nun lag sich das Brautpaar in den Armen und Papa Krautner und Mama Roettger vergossen Rührungsthränen dabei, und der Fritz küßte seine Braut.
Welch ein schreckliches Herzpochen Julia plötzlich überkam! Und Zirp! Zirp! machten die Stare draußen und flogen glückselig miteinander in ihr Kästchen. Am Rheine drunten stand das Dienstmädchen der Tante Minna neben ihrem Schatz und spritzte ihm neckend eine Handvoll Wasser ins Gesicht, als er sie küssen wollte; ihr übermütiges Lachen klang bis hier herauf. Und die beiden nutzten es so recht aus mit Lachen und Plaudern, das Stündchen im Abendrot, und als das Luischen endlich, mit dem Korbe voll frisch gewaschenen Spinats auf dem Kopfe, sich dem Hause zuwandte, da riefen sie sich noch ein »Auf Wiedersehen!« zu, und Julia hörte bald darauf das Mädchen in der Küche lustig singen. Sie selbst saß da, mit dem Ausdruck größter Mattigkeit, aber noch immer mit dem stillen Lächeln um die Lippen, bis das Rot draußen verblich, bis drunten die Thür ging und die hastigen Schritte der Rätin die Treppe heraufkamen, um in Tante Riekchens Stube zu verhallen. Da erhob sie sich und ging hinüber. Gewißheit, endlich Gewißheit wollte sie, denn bis zuletzt glaubt der Mensch an Märchenwunder, auch wenn er es sich nicht eingesteht.
Sie kam gerade recht vor die angelehnte Thür, um die Worte der Rätin zu hören: »Und du glaubst nicht, wie glücklich die beiden sind; wie die Kinder, Riekchen, wie die Engelchen, und der Alte küßt den Fritz um die Wette mit seiner Tochter, und im Mai ist die Hochzeit! Ach Gott, das ist doch endlich mal ein Sonnenstrahl nach so langer Prüfungszeit!«
Tante Riekchen sagte leise: »Ich gönne es dir, Minna, weiß Gott, ich gönne es dir!«
Mamsell Unnütz aber ging nicht hinein; sie kehrte wieder in ihre Stube zurück. Mäuschenstill blieb es drinnen, nur einmal ein Seufzer, fast wie ein Seufzer der Erleichterung – und zum erstenmal schlief sie wieder in der Nacht.
Die Gewißheit war da; die Ruhe kam über sie, die starre Ruhe der Entsagung.
*
Mit festem Willen vermag man viel, auch gesund zu werden, und Julia wollte gesund werden. Um keinen Preis hätte sie der Hochzeitsfeier beiwohnen mögen, vorher schon mußte sie das Haus verlassen haben. Dem Entschluß, in die Welt hinauszugehen, widersprach niemand; die Verhältnisse hatten es so gefügt, daß ihre Gegenwart mehr wie je »unnütz« wurde.
Theresens Wünsche, das ganze Haus allein zu bewohnen, sollten sich nicht erfüllen. Noch bevor Herr Krautner dem Fräulein Riekchen Trautmann das Grundstück abkaufen konnte, hatte es in aller Stille einen andern Käufer gefunden, und zwar Herrn Doktor Roettger selbst; dieser aber war durchaus nicht zu bewegen, so sehr er auch seine Braut liebte, die Mutter und die Tante hinauszuweisen aus dem elterlichen Hause.
»Mein liebes Herz,« sagte er ernst zu Therese, »Mutter und Tante werden zusammen unten wohnen; Mutter in ihren alten Räumen, Tante in den drei Zimmern, die neben meinem Warte- und Sprechzimmer liegen. Die Verbindungsthür lasse ich vermauern. Tante hat so ihr Reich für sich, ich das meinige daneben. Oben aber in den trauten Stuben soll das Glück mit uns einziehen und ganz allein mit uns hausen. Da oben darfst du unumschränkt wie eine Königin herrschen, dein Reich nach eigenem Geschmack gestalten. Drunten bleibt es, wie es war.«
Kein Bitten, kein Schmeicheln, kein Schmollen half, und Therese verschob ihren Sieg auf die Zeit nach der Hochzeit. Sie würde ihren Willen schon noch durchsetzen, meinte sie.
Die beiden alten Schwestern wollten in Zukunft gemeinschaftliche Wirtschaft führen, und zu Anfang April erprobte Julia ihre kaum wiedergewonnenen Kräfte zum erstenmal und half Tante Riekchen die Zimmer unten einrichten, denn oben wurden Maurer, Zimmerleute und Handwerker aller Art erwartet, um die Wohnung der künftigen Frau Doktor in stand zu setzen. Kein Mensch fragte Julia, ob sie sich nicht zuviel zumute, nur Fritz sagte einmal, als er flüchtig in die Stube sah, in der Hand einen Strauß blühender Anemonen, die er seiner Braut bringen wollte: »Strenge dich nicht zu sehr an, Unnütz – was hast du dann, wenn du wieder daliegst? Und trinkst du auch noch deinen Eisenwein?«
Sie nickte zerstreut, und er ging fort.
Er brachte fast jede freie Minute drüben in der Villa Krautner zu. Er vermied es, zusammen mit seiner Braut vor Julias Augen zu kommen, und war im Bewußtsein des Schmerzes, den er ihr bereitet hatte, noch rücksichtsvoller als sonst – und dennoch that Julia diese Rücksicht weh, und ihr Stolz bäumte sich dagegen auf in stummem Zorn.
Mitten in den Umzug kam Herr Krautner und setzte sich in all dem Wirrwarr ganz gemütlich neben Tante Riekchen auf das Sofa, das eben an die Wand gestellt worden war; still beobachtete er, wie das blasse, fast überschlank gewordene Mädchen arbeitete, um es der alten Dame ein wenig gemütlich zu machen und sie die altgewohnten Räume nicht allzusehr entbehren zu lassen.
»Nun, sagen Sie einmal, liebe Schwägerin,« – so nannte er Tante Riekchen seit der Verlobung – »da erzählt mir der Fritz neulich, das Töchterchen dort thue sich nach einer Stellung um?«
»Ja, ich suche danach,« antwortete Julia.
»Hm! Da brauchen Sie diesmal nicht weit zu suchen. Kommen Sie zu mir, ich halt' Sie wie mein eigen Kind! Ohne irgend eine Seele kann ich nicht sein, muß jemand haben, der mir einen freundlichen Gruß bietet, wenn ich abends heimkomme; und überhaupt, wenn das Thereschen fortgeht,« – er schnaubte sich heftig – »da würde ich's allein gar nicht aushalten drüben in dem großen Hause. Also, wie ist's, Fräulein Julchen, kommen Sie zu mir?«
Tante Riekchen sah überrascht und dankbar zu ihm hinüber und setzte zum Sprechen an. Aber Julia kam ihr zuvor: »Ich danke Ihnen herzlich, Herr Krautner, indes bei Ihnen würde ich zu sehr verwöhnt, und das taugt nicht für mich. Ich muß auf eigenen Füßen durchs Leben, ich gehe unter ganz fremde Menschen und – recht weit fort.«
»Verwöhnt? Ich verwöhne keinen Menschen, am allerwenigsten Sie, Jungfer Unnütz. Ich nehme Sie auch gar nicht auf Kündigung, ich will Sie für immer da haben, bis Sie einmal einer wegholt oder bis ich die Augen zuthue. Und Alois Krautner verläßt auch die Leute im Tode nicht – verstanden?«
Sie kam herüber und die Rührung zuckte um ihren Mund. »Danke vielmal,« sagte sie, »aber ich kann nicht, ich habe gestern eine Stellung angenommen.«
Tante Riekchen fuhr empor. »Und das weiß ich nicht?« rief sie.
»Verzeih, Tante, ich hätte es dir noch heute mitgeteilt.«
»Und wo denn? Und als was denn?« fragte die alte Dame, so gekränkt, als ob in ihr die sorgsamste Mutter hintergangen wäre.
»Ich – habe mich zunächst zu einem Kursus für Krankenpflege in Köln gemeldet.«
»Krankenpflegerin – du? Und nicht einmal deinen eigenen Mann hättest du pflegen wollen?«
Das Mädchen ward blaß bis in die Lippen. »Vor dem Kranken habe ich mich nicht gescheut,« sagte sie laut. »Hätte mich seine Mutter gebeten, als Pflegerin zu ihm zu kommen, ich wäre sofort gegangen. Mir hat davor gegraut, daß ich an ihn gekettet sein sollte durch Bande, die man sonst nur schließt, wenn man sich« – und jetzt ergoß sich eine wahre Rosenglut über ihr Gesicht – »wenn man sich sehr lieb hat. Ich wäre eher gestorben, als daß ich neben seinem Rollstuhl zum Altar gegangen wäre, ich –«
»Bravo!« rief Herr Krautner. »Da hat sie recht, Fräulein Schwägerin, und ich kann Ihnen nur sagen, heutzutage denken nicht alle Mädchen so. Um der Geldsäcke des armen Menschen willen hätten Hunderte ›ja‹ gesagt und hätten ihre frische Jugend im Krankenzimmer vergraben, oder auch nicht einmal das – sie hätten ihn dort allein sitzen lassen und sich sonst wo amüsiert. Aber den Kampf mit dem Leben aufzunehmen, dazu gehört Mut, und zur Krankenpflege, liebes Kind, der größte Mut, haben Sie das auch überlegt? Es ist ein schwerer Posten!«
»Freilich hab' ich's überlegt, recht lange und recht gründlich,« erwiderte sie. »Soll ich etwa«, fuhr sie fort, »das Heer derer vermehren, die als ›Stütze der Hausfrau‹ ihr Brot suchen, oder soll ich um karges Geld meine mittelmäßige Begabung für Malerei verwerten? Oder soll ich Erzieherin zu werden versuchen, wo schon Tausende vergebens auf Stellung warten? Eben für die Krankenpflege, meine ich, können gar nicht genug kommen, die es recht ernst nehmen mit ihrem Beruf. Und je feinfühliger die Persönlichkeit ist, die an das Krankenbett tritt, um so wohlthuender wird der Eindruck auf den Leidenden sein. Ich denke es mir einmal so, und der Fritz hat mir recht gegeben, als ich – als ich ihm noch half bei seinen Kranken.«
Fräulein Riekchen sagte nichts mehr; sie hatte sich abgewendet und betrachtete angelegentlich ein paar Bilder, die an der Wand standen. Sie wußte nicht, was es war, aber irgend etwas an des Mädchens Sprache packte sie zum erstenmal, solange sie das Kind kannte, und erinnerte sie an dessen Vater. Es war wohl die Art und Weise ihres Ausdrucks oder die Handbewegung dabei. So lange hatte auch das Mädchen noch nie geredet.
»Nun,« sagte Herr Krautner und stand auf, »alle Hochachtung vor Ihrem Entschluß! Wenn's aber schwerer ist, als Sie geglaubt haben, wenn Ihre zarte Gesundheit nicht ausreicht, dann, Töchterchen, dann wissen Sie, wo der alte Krautner wohnt – geben Sie mir die Hand darauf! Und wenn ich einmal krank bin, kein andres soll mich pflegen. So, da wäre ich also umsonst betteln gegangen. – Adieu!«
Julia hantierte nun weiter, und Fräulein Riekchen sah zu, aber sie sprachen beide nicht mehr. Erst als Julia endlich erschöpft am Fenster saß und es bereits ganz heimlich in dem Stübchen aussah, denn das Mädchen hatte verstanden, jedes Bild möglichst an den nämlichen Platz zu hängen, den es droben gehabt, erst da klang es gepreßt zu ihr hinüber: »Und wann mußt du dort sein in Köln?«
»Am fünfzehnten Mai, Tante.«
»Kannst nicht zur Hochzeit hier bleiben? Sie ist doch schon am zwanzigsten!«
»Nein, Tante; es thut mir leid, das geht nicht,« antwortete Mamsell Unnütz. Dann stand sie rasch auf und ging hinaus.
Noch sechs Tage bis zur Hochzeit Theresens und des Doktors, Julias letzter Tag in der Heimat!
Es wehte schon ein festlicher Hauch durch das alte Haus. Das Lärmen und Treiben der Handwerker war verstummt, die Mägde aus der Krautnerschen Villa, sowie das neue Personal des künftigen Paares hatten die letzten Spuren der arbeitenden Männer getilgt, und glänzend wie ein Schmuckkästchen erwartete der obere Stock die junge Herrin.
Die Pracht begann eigentlich schon unten im Hausflur. Die alten ehrlichen Fliesen aus rotem Backstein, die den Bewohnern seit langen Zeiten den Witterungsumschlag zu verkünden wußten – sie wurden immer einige Tage vor eintretendem Regenwetter feucht – waren verschwunden und ein blendendes Mosaik aus weißen und schwarzen Marmorplatten war an ihre Stelle gesetzt, so spiegelblank und glatt, daß die Rätin darauf einherschwankte wie ein Schlittschuhläufer, der zum erstenmal das Eis betritt. Darüber hinweg liefen bis zur Treppe zierliche strohgeflochtene Matten, und allenthalben waren an den stilvoll bemalten Wänden altdeutsch geschnitzte Bänke angebracht; das Fenster über dem Absatz der Treppe ließ nicht mehr einfach das Tageslicht hindurch – dieses sprühte farbig durch die mit Wappenmalereien bedeckten kleinen Scheiben, und die Sonnenstrahlen spielten in glühend bunten Lichtern auf dem weichen Treppenläufer, der die alten dunklen Stufen bedeckte.
Die Rätin war ganz stumm vor Bewunderung, es sah auch alles gar zu vornehm aus. Sie hatte nur einen Kummer – der eigensinnige Sohn wollte durchaus nichts davon wissen, daß sein Warte- und sein Studierzimmer dieser Pracht entsprechend eingerichtet würden. Er behauptete, sich wohl zu fühlen zwischen den trauten alten Möbeln, und für seine Person wünsche er keinen Dreier für stilvolle Einrichtung auszugeben; er hoffe und glaube auch, seine Patienten würden derartiges nicht vermissen.
Seine Mutter fügte sich seufzend; an Thereschen eine Bundesgenossin zu finden, mißlang ihr wider Erwarten. Für die Doktorstuben hatte diese entschieden kein Interesse. »Ach, das mag er doch halten, wie er will,« sagte sie zu der Frau Schwiegermama, »wenn's ihm gut genug ist, so kann's mir ja recht sein.«
Ein ganz wonniger Maitag lachte heute über der Erde – ein Blütenmeer in der Natur. Therese gab am Nachmittag ihren letzten Mädchenkaffee. Julia hatte abgesagt, sie war mit Einpacken beschäftigt; in diesem Augenblick saß sie noch droben in ihrem kleinen Dachstübchen und malte. Die letzten Pinselstriche galt es an einem großen Majolikateller, den sie als Hochzeitsgeschenk darbringen wollte.
Um sie her verriet schon nichts mehr, daß sie hier die wenigen lichten Stunden ihres Lebens verbracht hatte; jedes kleine Zeichen hatte sie zu verwischen gestrebt. Wenn sie jetzt noch Farben und Palette zu dem übrigen Malgerät in die Kiste packte, so blieb keine Spur von ihr – hätte sie nur ebenso die Spuren verwischen können, die sich ihr hier eingeprägt hatten an einem ebenso sonnigen Maitag – im vorigen Jahre.
Nun legte sie den Pinsel fort und betrachtete ihre Arbeit. Auf die gelblich feingetönte Platte des Tellers war ein knorriger Zweig gemalt mit absterbenden Blättern, er lag da, als könnte man ihn fortnehmen, als sei er Wirklichkeit; darunter war – skizzenhaft nur – Wasser angedeutet, weite unbegrenzte Flut, hinter der die Sonne versinkt und über der ein Schwarm Wandervögel dahinzieht, dem Winter entfliehend. Das war alles, und doch lag in diesem wenigen die Sehnsucht eines Herzens, das Sonne und Liebe sucht wie die gefiederte Schar das wärmere Land.
Es war ihr so unbewußt gelungen, sie hatte an weiter nichts gedacht als nur daran, ihm nichts zu malen, das ihren Kummer, ihre Liebe verraten könnte, und nun sprach das kleine Werk doch deutlich genug.
Sie erhob sich und verließ, ihr Werk behutsam tragend, das Stübchen; sie wußte eine Stelle dafür in dem Eßzimmer des jungen Paares und wollte es dort als letzten stummen Gruß an der Wand befestigen. Die eleganten Räume würden jetzt ganz verlassen sein, sie glaubte dessen sicher sein zu dürfen, denn es war die Zeit des Mittagsschlafes. Den Schlüssel zur Flurthür hatte sie heimlich aus dem Schlüsselkorb der Tante Minna genommen, die augenblicklich noch die Hüterin dieser Herrlichkeit war, und so trat sie ein in die Gemächer, die in Kürze ein junges goldenes Menschenglück bergen sollten.
Sie hielt sich nicht dabei auf, die Pracht der Wohnung näher anzuschauen, sondern ging sofort in das Eßzimmer, um ihrer Gabe dort einen Platz anzuweisen. Es war dasselbe Gemach, in dem einst der kleine Frieder Adami gewohnt hatte; es war wie geschaffen zu einem traulichen Speiseraum mit seiner Balkendecke, seinen holzgetäfelten Wänden und den tiefen Fensternischen, jetzt freilich so wenig wiederzuerkennen wie der alte Hausflur drunten. Das Getäfel war reich verziert worden, den ungetäfelten Teil der Wände bedeckte eine kostbare Ledertapete, und der riesige baufällige Kachelofen hatte einem Kamin nach altem Muster weichen müssen, vor dessen spielender Flamme es im Winter ein anheimelndes Sitzen sein mochte. In der Mitte des Raumes, wo einst der Arbeitstisch des Knaben gestanden hatte, prangte der massige schwere Eichenholztisch, von hochlehnigen Stühlen mit Lederbezug umringt. Und auf dem Gesims der Täfelung, auf der Platte des Kamins vor dem Riesenspiegel, der bis an die Decke reichte, stand allerhand üppiges und kostbares Prunkgerät umher. Jedenfalls sah dieser Raum so vornehm aus, daß ein einfaches Mittagsgericht sich schämen mochte, hier aufgetragen und verspeist zu werden.
Julia zog einen Nagel mit Bronzeköpfchen und einen Hammer aus der Tasche ihres Schürzchens und befestigte das Geschenk über dem Serviertisch, dessen Majolikaplatten gut zu dem Teller paßten; nun noch ein bronziertes Palmblatt dahinter und die einfache Ausschmückung war beendet. Sie trat bis zum nächsten Fenster zurück, um sich von hier aus die Wirkung anzusehen; indes ihre Blicke hafteten wohl auf dem Teller, aber sie hatten plötzlich etwas Leeres, Starres bekommen. Wie ermüdet ließ sie sich auf einem der truhenartigen Sitze in der tiefen Fensternische nieder. Es war so unheimlich still hier oben, selbst der Pendel der kostbaren Standuhr schwang sich spukhaft leise. Und da war es dem Mädchen plötzlich, als gingen die Gespenster der Zukunft um.
Wird das Glück hier wohnen – wird es – wird es? tickte die Uhr. Und Mamsell Unnütz schüttelte den Kopf und preßte die Hände zusammen – sie konnte es nicht glauben. Und dann erblickte sie dicht neben sich in einer der kleinen Fensterscheiben, die der Dekorateur hier großmütig belassen hatte, weil sie zum Charakter des Zimmers paßten, ein Herz, kunstlos eingeritzt, und darunter die Buchstaben F. A. – T. K.
Das mußte der Frieder gethan haben! Und in der Seele des Mädchens stieg eine grenzenlose Bitterkeit empor, ein Zorn, eine Verachtung ohnegleichen – nur einmal der Treulosen einen Spiegel vorhalten dürfen, der ihr das heuchlerische Gesicht deutlich zeigt!
Die schlanken Finger des Mädchens wischten mechanisch über das kleine Herz, als könnten sie es auslöschen auf dem Glase – umsonst, es war zu tief eingegraben.
»Du lieber Himmel!« sprach plötzlich neben ihr eine helle klare Stimme, »da muß man ja auf den Tod erschrecken – wie kommst denn du hierher?«
Julia erhob sich rasch.
»Entschuldige,« sagte sie mühsam, »ich hatte eine Kleinigkeit hier zu thun.«
»Was hast du denn an die Scheibe gemalt?« fragte Therese und beugte ihr blondes Köpfchen herunter; aber jäh fuhr sie zurück, und ihre Augen sahen zornig aus dem erblaßten Gesicht zu Julia auf.
Seitdem Therese wußte, daß das Geheimnis ihrer Verlobung mit dem Frieder von Julia behütet worden war, seitdem sie wußte, daß das Mädchen das Haus verlassen würde, war sie sorgloser geworden. Julia hatte die »Thorheit« wohl selbst als Bagatelle betrachtet; von Frieders Anwesenheit damals und den damit verbundenen Vorgängen konnte sie ja nichts ahnen – was wollten jetzt auf einmal diese drohenden vorwurfsvollen Augen?
»Es war Frieders Zimmer,« sagte Julia heiser.
Therese antwortete nicht.
»Und das Herz dort wird er eingeschnitten haben, als ihr euch verlobtet; nächstdem wird's ein Jahr.«
»Was willst du heute damit?« fragte Therese trotzig. »Du hättest wohl Lust, die Sache als Polterabendscherz zu verwenden? Angesehen habe ich es dir längst, daß du etwas gegen mich im Schilde führst.«
»Ich – ich bin an deinem Polterabend nicht mehr hier, das weißt du, und als Scherz habe ich die traurige Geschichte nie aufgefaßt,« antwortete Mamsell Unnütz ruhig. »Ich wünsche dir im Gegenteil so viel Glück, als es nur gibt auf der Welt, denn dein Glück ist fortan das Glück eines braven edlen Mannes und deine Ruhe die seine. Und wenn ich erleben dürfte, daß ihr wirklich glücklich würdet miteinander, ich glaube, dann – dann könnte ich dir manches vergeben.«
In das Gesicht des schönen Mädchens kehrte die Farbe zurück. Nein, diese Mamsell Unnütz würde die dumme Verlobungsgeschichte nie erzählen, aus Rücksicht für ihn. Dieses bettelstolze Ding war ja, wie die Rätin verraten hatte, bis über die Ohren vernarrt in den Doktor! Und Therese lächelte wie der Maitag draußen.
»Laß sein Glück doch, bitte, meine Sorge sein, wenn ich auch das, was man Glück nennt, etwas anders auffasse als du. Glaube mir nur, er wird nicht schlecht dabei wegkommen, wir werden uns vertragen, auch ohne deinen Segen! Wann reist du denn eigentlich?«
»Morgen!« klang es kurz zurück.
»Nun, dann werden wir uns vielleicht nicht mehr sehen. Leb wohl! Ich wünsche dir ebenso aufrichtig Glück für dein künftiges Leben wie du mir.«
»Leb wohl, Therese; ich hoffe, daß wir uns in späteren Lebensjahren als Freundinnen wiedersehen.«
»Nun,« sagte diese etwas ironisch, »ich wüßte wahrlich nicht, was mich zu deiner Feindin machen könnte.«
Julia schwieg. »Ich glaube, ich könnte furchtbar hassen,« sagte sie dann leise, und ihre Augen irrten wieder zu der Fensterscheibe hinüber. Da fühlte sie sich mit einem Ruck zur Seite geschoben, und im nächsten Augenblick klirrten drunten auf dem Pflaster des Hofes die Scherben der zertrümmerten Scheibe. »So?« fragte Theresens bebende Stimme, »bist du nun beruhigt?«
Julia zuckte die Schultern ein wenig. »Was liegt an dem unschuldigen Glase? Ja, wenn man das andre auch so leicht aus der Welt schaffen könnte!« Und sie wandte sich um und schritt zur Thür hinaus.
»Wäre sie nur erst fort!« murmelte Therese finster, mit zornigen Augen der Scheidenden nachblickend. Und dann zog ein schelmisches Lächeln über ihr schönes Antlitz – der Doktor stand auf der Schwelle.
»Scherben? Schon heute?« rief er fröhlich.
Sie lachte. »Ich zerstieß ungeschickterweise eine Scheibe. Aber bringt das nicht Glück?«
»Hast du dich verletzt?« fragte er zärtlich und zog sie an sich
Sie lächelte zu ihm empor. »Nein, nein! – Ist's nicht traut hier, ist's nicht ganz einzig nett?«
Er nickte, aber sah sich nicht um, er blickte nur in die geliebten Züge. »Ich kann es noch immer kaum glauben, daß du mein werden willst,« flüsterte er. »Aber komm – hier oben ist das Paradies, das mir noch verboten ist; komm, daß wir die Götter nicht erzürnen.«
*