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So um halb neun Uhr an jenem selben Abend, da Therese ihre Verlobung gelöst – der junge Offizier hatte kaum das Krautnersche Grundstück verlassen – kam vorsichtig aus dem Nachbarhaus die schlanke Gestalt Julias; sie trug ein Präsentierbrett mit einem Tellerchen Kuchen und Creme und sollte beides mit den herzlichsten Wünschen für baldige Heilung der kranken Hand dem Thereschen von der Frau Rätin überbringen. Julia kam den Gartensteig daher, wo sich im Schnee noch die Fußspuren des Bruders zeigten, und hatte keine Ahnung, daß er hier geschritten war, daß sich eine Stunde seines Lebens vor kurzem hier abgespielt hatte.

Sie trat in den Hausflur, und als niemand erschien, ging sie hinüber zu Theresens Thür und pochte. Aber kein gastliches »Herein!« erscholl. Da drückte sie auf die Klinke und steckte ihr dunkles Köpfchen durch den Thürspalt. »Darf ich eintreten?« klang es freundlich in die Ohren Theresens, die in einem der kleinen Sessel am Kamin saß und der Thür den Rücken zuwandte.

Nun sprang sie auf, und Julia sah in ein blasses Gesicht mit unheimlich sprühenden Augen.

»Was willst du?« fragte Therese barsch und unfähig, ihre Erregung zu verbergen; »ich bin todmüde und will zu Bett gehen.«

»Wie siehst du nur aus!« sagte Julia, nicht im mindesten verletzt, weil sie die Leidende in ihr sah. »Hast du große Schmerzen?«

»Ja!«

Mamsell Unnütz stellte den Teller aus der Hand und wandte sich zum Gehen. »Wart nur, Therese, ich hole den Doktor!«

»Ich will ihn nicht – um Gottes willen, bleib!« schrie es hinter ihr, und Therese zerrte die Freundin so hastig am Kleid zurück, daß die Falten rissen. »Entschuldige!« stotterte sie.

»Ja, was hast du denn nur, Thereschen, du bist ja schrecklich aufgeregt!«

»Geh zum Vater,« murmelte das blonde Mädchen, »sag, er soll zu mir kommen!«

Julia ging. Sie fand Herrn Krautner in seinem Zimmer; er saß im Lehnstuhl am Fenster und schaute in den dunklen verschneiten Garten hinaus.

»Was willst du, Töchterchen?« fragte er weich, mit einer Stimme, die ganz anders klang als sonst. Julia richtete Theresens Bitte aus.

Der alte Mann blieb eine Weile still. »Sage ihr, wenn sie Verlangen hat nach mir, so könne sie auch den Weg zu mir finden,« sprach er dann. »Das Kind soll zum Vater kommen, nicht umgekehrt! Leider habe ich's versäumt, ihr das beizeiten klar zu machen; von heute ab wird's anders.«

Und als ihn Julia fragend und verwundert anblickte, strich er über ihre Wange. »Es hat ihr die Mutter gefehlt, die Mutter, Kind, und der alte Mann hat in das Einzige, was ihm geblieben, hineingeschaut wie in einen goldnen Becher und hat die Tochter angebetet wie ein Christkindel. Es hat nicht gut gethan, nicht gut gethan!« Und er schüttelte den Kopf.

»Sie kommen nicht, Herr Stadtrat?« fragte Mamsell Unnütz noch einmal leise.

Er hob sich ein wenig vom Stuhle, dann sagte er wieder: »Nein, ich komme nicht.«

»Thereschen,« sprach Julia drüben zu der Harrenden, »ich weiß ja nicht, was ihr miteinander habt, aber du bist das Kind, geh hinüber zu ihm, gib ihm die Hand!«

Statt aller Antwort begann Therese bitterlich zu schluchzen. »Niemand will mich verstehen, niemand kann ich es recht machen! Selbst wenn ich elend und krank bin, nimmt man keine Rücksicht auf mich. Ich gehe nicht, ich gehe nicht zu ihm; behandelt hat er mich, als sei ich eine Verbrecherin, und lieber laufe ich fort und komme niemals wieder, nie!« Und sie fing abermals an zu weinen, bis sie in einen Zustand von Aufregung geriet, daß Mamsell Unnütz noch einmal hinüberflog, um den alten Herrn zu bitten, doch ja zu kommen, die Therese scheine ernstlich krank zu sein.

Da kam er und trat zu dem blassen zitternden Geschöpf, das auf dem Sofa lag; sorgsam breitete er die Decke über den schlanken Körper, und sein unschönes, sonst so joviales Gesicht hatte einen wunderbaren Ausdruck von Kummer und Zärtlichkeit.

»Na, nun weine nur nicht mehr, als sei dir das größte Unrecht geschehen – hörst wohl?« polterte er. »Nimm dir eine Lehre daraus! Deine Mutter hätte so etwas nicht gethan, die war so schlicht und so rechtlich – – Werde ernst, Kind, werde ernst, und … sapperlot, höre auf zu zittern, wirst sonst krank; am Ende wär's gut, wir holten den Doktor, daß er dir –«

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Da kam er und trat zu dem blassen zitternden Geschöpf, das auf dem Sofa lag; sorgsam breitete er die Decke über den schlanken Körper.

Da fuhr sie abermals empor. »Nicht den Doktor, nicht den Doktor!«

»Nun – nein, nein!« beruhigte er. »Da trink Zuckerwasser und geh zur Ruh'; ich will mich nachher an dein Bett setzen, bis du eingeschlafen bist, und das Julchen hilft dich auskleiden; möchte nicht, daß deine Jungfer sieht, wie aufgeregt du bist.«

Julia brachte das noch immer bebende Mädchen zu Bett, dann kam der alte Mann wieder, setzte sich neben seinen Liebling und schickte sich an Wacht zu halten wie eine Mutter.

Mamsell Unnütz ging. Sie hatte feuchte Augen, als sie noch einmal zurückschaute auf die Halbschlummernde, die so liebevoll behütet war. Sie wußte nicht, was geschehen war, aber wäre es auch das Herbste, Schwerste gewesen – wer solche Liebe besaß, der war beneidenswert.

»Glückliche Therese, die einen Vater hat und einen Liebsten!«

Und da unterdrückte sie mühsam einen Freudenschrei. Ach, sie hatte ja auch ein Glück! Dort an der Pforte vor Krautners Garten stand er und wartete auf ihr Kommen! Gewiß hatte ihm seine Mutter gesagt, daß sie noch einmal ausgegangen sei.

»Nun?« fragte er, neben ihr hinschreitend, »wie geht's denn drüben, Unnütz?«

»Gut!« antwortete sie leise. »Sie schläft.«

Er nickte befriedigt. Dann gingen sie stumm nach Hause. Es war unsagbar schön, dieses Stückchen Weg.

»Schlaf wohl, Kleine,« sagte er im Hausflur, müde, mit unterdrücktem Gähnen. Dann nickte er ihr zu und verschwand in seiner Thür.

»Gute Nacht!« murmelte sie und stieg die Treppe empor.

Es ist sehr schwer für ein junges Menschenkind, das, was das Herz bewegt, beglückt, beschwert, fest in sich zu verschließen. Die Eindrücke, die ein solch kleines Herz empfängt, drohen es zu zersprengen, und andre teilnehmende Herzen müssen helfen, die wichtigen, wonnigen oder schmerzlichen Begebenheiten einer ersten Liebe zu tragen. Selten ist die Mutter die Vertraute, fast immer ist es eine Freundin, die auch ihrerseits ein Geheimnis hat. Solche Mädchenfreundschaft ist ein rührendes Ding – immer bereit, zu trösten, mitzuweinen oder mitzulachen, und immer bereit, Wunder zu entdecken, wo vielleicht ein andrer die reinste Prosa sehen würde.

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Mamsell Unnütz besaß keine Mutter, und die, die deren Stelle zu vertreten gelobt hatte, vermochte noch immer keine Liebe zu ihr zu fassen. Das stille Kind würde es nie gewagt haben, irgend etwas, von dem es bewegt wurde, der blassen bekümmerten Tante auch nur anzudeuten. Und Therese Krautner war ihr keine Freundin im eigentlichen Sinne; besonders mied sie alle Vertraulichkeit mit Julia, seitdem sie sich mit ihrem Bruder verlobt hatte, und diese war viel zu stolz, um eine Freundschaft zu suchen, die sich ihr versagte. Aber sie litt unter ihrer Herzenseinsamkeit namenlos schwer, denn von Natur war sie anschmiegend und zärtlich, und all ihre Kühle und scheinbare Unempfindlichkeit war künstlich, ein Ergebnis der ohne Liebe verlebten Jugendzeit. Nur aus den wunderbaren Augen erkannte man das helle süße Feuer, das ihre Seele barg; aber diese Augen lagen fast immer verschleiert unter den blauschwarzen Wimpern. Freilich nannte die Frau Rätin eben das »Koketterie«, denn hoben sich plötzlich die Wimpern und schaute Mamsell Unnütz einem andern Menschen voll ins Gesicht, so konnte dieser erschrecken vor den Strahlen, die ihm entgegenflammten, ein tiefes innerliches Leben verratend, eine Fülle von Empfinden.

»Zum Glück,« pflegte die Rätin zu sagen, »hat sie gar keine Gelegenheit, ihre gefährlichen Augenkünste zu versuchen, denn außer mit dem Fritz verkehrt sie mit keinem Mann, und der ist ihren Anblick gewöhnt, dem thut's nichts – man kann in der schönsten Landschaft wohnen und man merkt's gar nicht, saß man von jeher darin. Na, und außer den Augen ist auch wirklich nichts an dem Mädchen, was man schön heißen könnte; die schwarzen Zöpfe sehen aus als wie aus Nähseide geflochten, und der Teint ist so gelblich wie meine Garnitur echter Spitzen.«

Und doch sollte es auf einmal einen Menschen geben, in dem diese Augen Liebe geweckt hatten, der um jeden Preis die Besitzerin dieser Augen – die Rätin schlug die Hände über dem Kopfe zusammen – heiraten wollte!

Mamsell Unnütz selbst hatte keine Ahnung davon gehabt, daß die Liebe eines Mannes sie suchte mit fieberhaftem Verlangen; sie sprach mit dem Kranken, der fast allmorgendlich am Arme eines Dieners die Schwelle des Wartezimmers mühsam überschritt, so freundlich wie mit allen andern, vielleicht noch freundlicher, denn angesichts eines solchen Elends floß ihr Herz über von Güte. Gab es denn etwas Trostloseres, als jung, reich, befähigt zu sein und dabei an allem gehindert zu werden durch einen gebrechlichen Körper? Sie, die bei aller Ruhe ihrer Bewegungen doch eigentlich ruhelos war, die es nicht ausgehalten hätte, ohne daß sie jeden Tag drei- bis viermal durch den Garten zum Strome hinuntereilen, im Sommer hinausrudern konnte mit den zarten und doch so kräftigen Armen, sie mußte es doppelt mitleidsvoll empfinden, wenn sie einen Menschen erblickte, der nur von seinem Rollstuhl aus die Natur genießen konnte. Aber diese ihre Teilnahme brachte dem armen Menschen auch noch ein krankes Herz. Er meinte plötzlich, in dem schönen freundlichen Wesen das gefunden zu haben, was ihn mit dem Leben versöhnen könne, und heute in der Mittagsstunde war seine Mutter erschienen und hatte die Rätin um eine Unterredung unter vier Augen bitten lassen.

Sie war Witwe, eine stolze Frau, die sich nie in den Andersheimer bürgerlichen Kreisen gezeigt und mit ihrem Sohne ganz für sich gelebt hatte.

Ein sehr armes Mädchen aus altem französischem Adel war sie gewesen, als Herr Norban sie kennen lernte, gerade nachdem ihr Vater den letzten Kreuzer am Spieltisch verloren und sich dann in plötzlicher Verzweiflung erschossen hatte. Dies mochte zu dem Entschluß beigetragen haben, den bürgerlichen Bewerber um ihre Hand zu erhören und ihm als Gattin nach seiner schönen Villa am Rhein zu folgen. Glücklicherweise lag diese durch einen weitläufigen Park von der Fabrik getrennt; sie mochte nicht gern daran erinnert werden, daß ihr Eheherr »Deutschen Schaumwein« fabriziere, wenngleich es ihr ein kleiner Trost war, daß Napoleon III. der Sage nach einst um die schöne Veuve Cliquot gefreit habe. Aber sie war doch eine Frau von Charakter und dazu eine schwer geprüfte Frau. Ihr armer einziger Sohn, ihr Alphonse, der zu den herrlichsten Hoffnungen berechtigte, war seit seinen Knabenjahren ein Krüppel. Er hatte, stark erhitzt, im Rheine gebadet und war gelähmt nach Hause getragen worden – ein furchtbarer Schlag für die Frau, die dennoch ihren Mut nicht verlor. Sie suchte dem vergötterten Sohne jeden Wunsch zu erfüllen, sie gab ihm die sorgfältigste Erziehung, und als sein Vater an den Folgen seiner im Kriege gegen Frankreich erhaltenen Wunden starb – er hatte an dem Feldzug als Reserveoffizier teilgenommen – da ward sie auch eine Deutsche; sie vergab es ihren Landsleuten nie, daß sie dem armen Jungen den Vater geraubt.

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Und diese Frau kam heute, um für ihr geliebtes Kind Hand und Herz der kleinen Mamsell Unnütz zu fordern.

Sie hatte sich achtundvierzig Stunden verzweifelt gegen diesen Plan zur Wehr gesetzt, ihr Herz war beinahe gebrochen darüber. Sie hatte dem Einzigen alles sein wollen, und der Gedanke, seine Liebe mit einer andern teilen zu müssen, war ihr fürchterlich. Aber nun hatte sie sich darein ergeben, es beherrschte sie nur noch die Angst, er, der Krüppel, könnte verschmäht werden.

Der Rätin schwindelte es förmlich, als ihr Frau Norban gemeldet wurde; denn die stolze Frau pflegte keinerlei Verkehr zu suchen. Nun saß sie wie ein Steinbild auf dem Kanapee neben der Dame, deren schwarzes Schnurrbärtchen auf der Oberlippe sie zum erstenmal in der Nähe sah und deren zobelverbrämter Sammetmantel vollends dazu beitrug, der Frau Rat den Verstand zu verdrehen.

» Enfin,« sagte Frau Norban, »Alphonse liebt dieses junge Mädchen; was er ihr zu bieten hat, ist ja doch immerhin sehr viel. Ein Vermögen – wir würden sie für den Fall seines frühen Todes aufs beste versorgen –, eine Stellung, die rührende dankbare Liebe seines guten Herzens. Er – –« Sie fuhr mit der Hand über die Augen und wischte eine Thräne weg.

»Aber ich bitte Sie, gnädige Frau,« versicherte die Rätin, »welches Mädchen würde nicht glücklich sein, wenn Ihr Herr Sohn – – Und heiraten will er die Julia?« unterbrach sie sich, aufs neue in Erstaunen geratend, »wirklich heiraten

Frau Norban räusperte sich. »Da ich persönlich als seine Fürsprecherin komme, so dächte ich, die Sache sei klar. Die Tante der jungen Dame ist mir als schwer zugänglich geschildert worden, deshalb wende ich mich an Sie, meine liebe Frau Rat.«

»O Gott,« antwortete diese, als sei ihr selbst ein großes unverhofftes Geschenk in den Schoß gefallen, »welch ein Glück für das Kind und für meine arme Schwester!«

»Bitte, ermöglichen Sie es mir, das junge Mädchen zu sehen.«

»Wie? Sie kennen das Julchen noch gar nicht?«

Frau Norban schüttelte den Kopf. »Nur aus der Beschreibung meines Sohnes.«

Die Rätin eilte, so rasch es auf ihren Filzschuhen ging, aus dem Zimmer und die Treppe hinauf. Julia stand droben in der Küche und rührte die Hafermehlsuppe für Tante Riekchen, die durch das Ausbleiben aller Nachrichten von dem Pflegesohn krank geworden und wie gebrochen im Bette verblieben war.

Gleich einer Gewitterwolke schoß die Rätin auf ihren unhörbaren Sohlen in die Küche und rot vor Aufregung schrie sie mit zitternder Stimme dem erschreckten Mädchen zu:

»Mach rasch, zieh dir ein andres Kleid an, wasch dir die Hände, es ist jemand drunten –« Sie schnappte nach Luft. »Mach nur fix und komm recht nett und lieb, hörst du?«

»Und was soll ich unten, Tante?« fragte Julia ruhig.

»Eine Dame ist ohnmächtig geworden – bring ein Glas Wasser!«

Die Rätin fand diese Ausflucht selbst außerordentlich thöricht, als sie die Treppe hinunterschoß, aber es fiel ihr rein nichts andres ein. Sie saß, noch heftig nach Atem schnappend, neben ihrem Besuch, als sich langsam die Thür aufthat und das junge Mädchen erschien mit einem Tellerchen, auf dem ein Glas frischen Wassers stand. Sie hatte sich nicht umgekleidet, denn nach ihrer Meinung war die Robe, in der man einem Ohnmächtigen zu Hilfe eilt, nur Nebensache, und so kam sie in ihrem knappen dunklen Wollkleidchen, mit leicht vom Herdfeuer gerötetem Antlitz.

Frau Norban, die keine Ahnung hatte, daß sie als eine Ohnmächtige gelten sollte, nahm die Lorgnette und sah mit erstaunten Augen der eigenartig reizenden Erscheinung entgegen. Ja, nun verstand sie alles; sie kannte den glühenden Schönheitssinn ihres Sohnes, sie selbst hatte ihn ausgebildet. Und dieses Geschöpf, diese blühende Schönheit, die wollte er für sich haben, der arme Bub'? Sie ließ die Lorgnette fallen und senkte die Augen vor denen Julias, die ihr das Glas Wasser darbot.

»Ich danke Ihnen, mein liebes Kind.«

»Der gnädigen Frau ist schon besser!« rief die Rätin.

»Ja, aber wollen Sie nicht einen Augenblick Platz nehmen?« fuhr Frau Norban mit leise verwunderter Miene fort, als Julia sich umwandte, um wieder zu gehen. »Ich möchte nämlich,« fuhr sie fort und zog das Mädchen auf den Stuhl an ihrer Seite, »ich möchte Ihnen danken. Sie kennen mich nicht, aber ich kenne Sie durch meinen Sohn.«

»Doch, Frau Norban, ich kenne Sie,« antwortete Julia. »Ihr Herr Sohn hat mir oft genug von seiner Mutter erzählt.«

»That er das?« fragte sie, freudig errötend. »Er ist ein guter Mensch, ein guter edler Mensch, ich kann es sagen als glückliche Mutter. Sie sollten seine Gedichte lesen – wollen Sie? Ich werde sie Ihnen schicken; Sie lernen daraus sein ganzes Herz kennen!«

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Julia hielt die Wimpern gesenkt. »Ich werde mich sehr freuen,« antwortete sie verlegen. Sie fühlte, daß irgend etwas Ungewöhnliches die Frau so sprechen ließ.

»Und wollen Sie mich einmal besuchen? Ja? Das ist lieb von Ihnen. Vielleicht heute nachmittag?«

»Es thut mir leid, gnädige Frau, aber meine Tante ist gerade heute besonders leidend.«

»Ach was, papperlapapp!« fiel die Rätin ein, »deshalb kannst du ruhig gehen, ich sehe schon nach ihr; wirst doch nicht immer bei ihr hocken können!«

»Sie sind ein gutes Kind,« sprach Frau Norban und erhob sich. »Heute also nicht, aber morgen lasse ich mir keinen Korb geben, morgen schicke ich Ihnen den Wagen. Und nun leben Sie wohl – auf Wiedersehen!«

Sie hatte beide Hände von Mamsell Unnütz erfaßt, und ein wehmütiges Lächeln zog sich um ihre vollen Lippen, als sie die süße kindliche Verlegenheit beobachtete, die sich auf des Mädchens Gesicht ausprägte.

»Auf Wiedersehen, liebes Kind – adieu, Frau Rätin!«

Sie ging der Thüre zu. Julia blieb wie angewurzelt stehen, die Rätin aber eilte der Weggehenden nach und begleitete sie über den Hof bis zum Wagen. Als sie zurückkam, stieg eben das junge Mädchen die Treppe wieder hinauf.

Daß Gott erbarm! Nicht einmal neugierig war dieses hölzerne Ding!

»So wart doch,« schrie sie, »daß die Tante nicht einen zu großen Schreck bekommt!«

»Weshalb einen Schreck?« fragte Julia, stehen bleibend.

Da war die erregte Frau schon an ihrer Seite. »Lieber Gott, bist du denn ganz und gar mit dem Verstand zu kurz gekommen? Oder thust du nur so, als merktest du nicht, wie das Glück dich überschütten will?« Sie faßte das Mädchen an der Hand und schob die Willenlose durch die Schlafstubenthür von Tante Riekchen. Dann rief sie mit in die Seite gestemmten Armen ihrer erschrockenen Schwester zu:

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»Nein, Riekchen, nun sieh sie dir an, sieh dir nur das da an! Nein, das hätten wir alle beide nicht gedacht – ach, du lieber Himmel, ich muß mich setzen!«

Die nervöse Kranke war jäh im Bett emporgefahren. »Was ist denn?« stieß sie mühsam hervor, und ihre Augen flogen wahrhaft entsetzt zu dem blassen Mädchen, dem jetzt eine unbestimmte Ahnung aufstieg, daß es sich um die Zukunft ihrer Person handle.

»Brauchst nicht zu erschrecken, bist deine Sorgen mit einemmal los, Riekchen! So denk doch nur, dieses dumme Gänschen da hat ein Glück wie kein andres Mädchen in der Stadt – einen Heiratsantrag, einen, der aber nicht von Pappe ist – was meinst, Riekchen? Der Alphons Norban will sie!«

Ein leiser banger Aufschrei war durch das Gemach geflogen zugleich mit den letzten Worten der Frau. Dann ward es totenstill. Die beiden Schwestern hingen mit ihren Augen an Mamsell Unnütz, die noch auf demselben Flecke stand, hochaufgerichtet, den Kopf zurückgeworfen und leichenblaß. Nur ein leises Schütteln ging durch ihren Körper.

»Das ist nicht wahr!« brach es endlich von den zitternden Lippen.

»Nicht wahr? Nun ja, schwer zu glauben ist's, aber wahr ist's doch! Seine Mutter hat mich ausdrücklich beauftragt, mit deiner Tante darüber zu reden.«

»Aber, Minna, er ist ja – er ist ja –«

»Geh hinaus!« unterbrach die Rätin, zu Julia gewandt, ihre Schwester. »Und du, Riekchen, schweig still mit den sentimentalen Redensarten! Freilich ist's ein kränklicher Mensch – soll er darum keine Frau bekommen?«

»Aber nicht mich!« kam es jetzt von Julias Lippen. Sie war stehen geblieben und hatte ruhig und besonnen gesprochen. »Nicht mich!« wiederholte sie noch einmal.

»Das wirst du dir doch wohl noch überlegen,« erklärte unbeirrt die Rätin, »erst will ich aber mit dir reden, Riekchen; geh hinaus, Julia!«

»Ich möchte hier bleiben!«

»Laß sie hier,« sagte auch die Kranke und legte sich seufzend in die Kissen zurück, »es ist doch ihre Sache, und ich will nicht, daß sie denkt, ich mischte mich in etwas, was sie allein zu entscheiden hat.«

»Mit euch red der Kuckuck! Ihr wartet wohl auf den Großmogul? Als ob die Gelegenheit wiederkäme, so ein Fräulein von Habenichts auch nur annähernd zu versorgen! So denk doch nur ums Himmels willen, Kind, in was für Verhältnisse du heiratest! In ein wahres Feen-Nestchen setzen sie dich; der arme Mensch ist rein weg von dir, und was dem gefällt, gefällt seiner Mutter erst recht. Jetzt denk mal, wie sorglos du da leben kannst als geachtete Frau. Du kannst Reisen machen, die Welt sehen, hast dein reizendes Haus, die Theaterloge in Wiesbaden und die Equipage; du bist versorgt und geschützt und gepflegt wie ein Prinzeßchen; keine Not des Lebens kann an dich heran, während sie sonst allerwegen auf dich lauert. Oder denkst du dir's so leicht, als armes Mädchen durch die Welt zu ziehen, von einer Stellung in die andre getrieben zu werden? Denn das kannst du dir doch nicht verhehlen, daß es hier nicht lange mehr geht. An deiner Stelle hätt' ich's schon längst nicht mehr mit ansehen können, wie deine arme Tante im Gram um deine unversorgte Zukunft vergeht. Auf die Kniee müßtest du fallen und Gott danken, daß er einen Ausweg schickt aus all dem Wirrsal und dir Gelegenheit geben will, dem armen Tierchen da« – sie wies auf die Kranke – » das ein wenig zu vergelten, was sie für euch gethan hat. Betrachte es nur mal von dieser Seite, dann wirst du anders denken!«

Mamsell Unnütz hatte während dieser Rede mehr und mehr den Kopf gesenkt, die Arme hingen ihr schlaff herunter, es wirbelte ihr vor den Augen; ihr war, als ob eine eiskalte Hand sie zurückdränge, immer weiter zurück aus hellem friedlichem Sonnenschein in einen blumenlosen trüben Wintertag; und sie wollte doch nicht. Sie umfaßte das, was ihr Halt gewesen, und klammerte sich fest daran mit ihrem geängstigten Herzen.

»Ach, ich will alles thun, um der Tante zu helfen, nur das nicht, das nicht!«

»Alles thun? Das sind Redensarten!« eiferte die Rätin. »Was willst du denn thun? Etwa eine Stelle suchen? Davon wirst du allein kaum satt, für andre fällt nichts ab. Und was willst du denn werden? Bezahlte Krankenpflegerin etwa? Da thätest du besser, deinen eigenen Mann zu versorgen, dann weißt du, was du hast.«

»Aber ich will nicht!« rief das Mädchen plötzlich, »hör auf, Tante, ich will nicht!«

»Und warum denn nicht?«

»Weil ich ihn nicht lieb haben kann!«

»Na, verlangt ja auch keiner. Ist das der ganze Grund? Weißt du, der ist aus der Mode, das ist lächerlich, wenigstens in deiner Lage sehr lächerlich.«

Mamsell Unnütz wandte langsam ihre empörten Augen zu Tante Riekchen hinüber. Die mußte sich ja ihrer annehmen, mußte sie verstehen, denn sie war ja auch dem Geliebten treu geblieben und hatte jeden andern abgewiesen, selbst dann noch, als jener sich von ihr gewandt. »Hilf du mir!« heischten ihre Blicke. Aber rasch senkten sich ihre Wimpern; aus den weit geöffneten glänzenden Augen der Fieberkranken war eine Bitte an ihr Herz gedrungen, eine angsterfüllte heiße Bitte. »Wenn du dich entschließen könntest!« stand darin so deutlich, ach, so deutlich!

Da wandte sich das Mädchen mit einer schier verachtungsvollen Gebärde ab und ging hinaus. Und nun saß sie in ihrem engen Stübchen, die Hände im Schoße gefaltet. Was werden solle, war ihr nicht ganz klar, nur das eine wußte sie, er würde ihr helfen, er würde endlich, endlich sagen: »Laßt das Quälen – sie ist mein, mein für immer!« Wenn er nur erst käme, er blieb heute gar so lange!

Die Stimme der Rätin drang gedämpft bis hierher; sie mußte sehr laut und sehr eifrig reden. An das Mittagessen dachte sie heute nicht. Diese Brautwerbung hatte gewirkt wie ein Blitzschlag und alle gewohnte Ordnung umgestoßen. Jetzt ward nebenan die Thüre zugeschlagen und die Rätin huschte über den Flur; ihre Tritte hörte man nicht, wohl aber ihr ärgerliches Gemurmel. Dann ward es ganz still.

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Das junge Mädchen erinnerte sich endlich, daß die Kranke ihre Suppe noch nicht bekommen habe, und eilte, sie ihr zu bringen. Tante Riekchen lag mit heißem schmerzendem Kopfe in ihren Kissen und wollte nicht essen; sie wehrte unwillig der Hand, welche die ihrige ergriff. »Geh nur, geh,« sagte sie, »ich mag nichts sehen und hören von all den Geschichten, ich habe nur noch einen Wunsch – ich wollte, ich wäre tot!« Mamsell Unnütz wagte nicht, ein beruhigendes Wort zu sprechen; sie wußte nun, auch hier zürnte man ihr, weil sie nicht die erste beste Gelegenheit ergriff, um das Haus von ihrer lästigen Gegenwart zu befreien. Sie schlich davon und schaute aus dem Flurfenster über den Hof, ob er noch immer nicht komme, der sie schützen sollte. Aber der verschneite Hof lag einsam da und im ganzen Hause war es totenstill. Die Rätin mochte wohl versuchen, von den Aufregungen des Vormittags auszuruhen. Julia erinnerte sich nicht, jemals die Frau so aufgeregt, so geärgert gesehen zu haben. Was konnte ihr nur so groß daran liegen, ob sie, Julia, reich würde oder nicht? – Dann stieg vor den Augen des Mädchens das blasse eingefallene Gesicht des Mannas auf, der sie zur Frau begehrte. Diese Züge, so aschfahl, so durchsichtig, so sterbenskrank; und ein Frösteln überlief sie, ein Widerwille, der sich bis zum körperlichen Unbehagen steigerte. – Käme er doch erst!

Und auf einmal hörte sie drunten die Klingel, ganz leise; so pflegte er zu kommen, wenn er vermutete, daß seine Mutter schlief. Im nächsten Augenblick war sie auf der Treppe und lief durch den Flur in das Wartezimmer. Er zog eben den Ueberzieher aus und sah kaum auf Mamsell Unnütz, die ihm mit blassem Antlitz und fest ineinander gepreßten Händen entgegenschritt.

»Fritz,« begann sie, und jetzt, wo sie sich geborgen glaubte, verlor sie ihre mühsam bewahrte Ruhe, »Fritz, du hast mir gesagt, im Sommer war's, wenn man mir etwas thun wolle – bei dir fände ich Schutz. Nun bitte ich dich, hilf mir!«

»Komm, Julia, hier ist's kalt,« antwortete er ruhig und ging voran in sein Wohnzimmer. »Gewiß helfe ich dir, wenn du Hilfe nötig hast. Was ist denn geschehen? Hast du armes kleines Ding wieder Schelte bekommen, hast du etwas vom alten Porzellan meiner Mutter zerschlagen, oder was ist sonst Erschütterndes geschehen?«

Er nahm bei diesen Worten Hörrohr und Verbandtasche aus dem Rocke, setzte sich in seinen Lehnstuhl vor dem Arbeitstisch und wies ihr lächelnd den seitwärts stehenden Sessel an. »Nun?« fragte er dann.

Julia blickte ihm unverwandt ins Gesicht, und ihr fiel auf, daß er heute anders aussah als sonst, so viel ernster und dennoch förmlich verklärt; und sie kannte das Zucken in seiner Wange, so war es, wenn ihn etwas im Innersten erregte. Ach, sie hatte ja nur dieses Antlitz auf der Welt gesehen, immer nur dieses!

»Nun?« fragte er noch einmal.

»Du sollst der Tante und deiner Mutter klarmachen, daß ich den Herrn Norban auf keinen Fall heiraten werde,« sagte sie rasch.

Er fuhr herum und starrte sie an. »Aber, Kind, wenn ich nicht wüßte, daß du ein leidlich vernünftiges und ruhiges Geschöpfchen bist, so würde ich denken, in deinem Kopfe sei es nicht ganz richtig; eine solche Zumutung wird dir wohl kein Mensch stellen!«

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»Sie ist mir aber doch gestellt worden – Frau Norban selbst ist heute bei deiner Mutter gewesen und hat um mich angehalten für ihren Sohn.«

Er lachte ungläubig auf; als er aber das ernste Gesicht so schmerzvoll zucken sah, rief er, aufspringend: »Das ist ja ein toller Gedanke, der reine Wahnsinn! Aber beruhige dich, Kind, dafür bin ich noch da! Und da kommt ja die Mutter! Nun sei nur gut und zittere nicht, Kind!«

Die Rätin prallte förmlich zurück, als sie das junge Mädchen erblickte. »Na, hoffentlich machst du ihr den Standpunkt klar!« sagte sie ärgerlich.

»Habe ich bestens besorgt, indem ich ihr mitteilte, daß ich es schamlos finden würde, wollte sie äußerer Vorteile wegen eine wandelnde Leiche heiraten. Zum Glück scheint sie es nicht zu beabsichtigen.« Er hatte sehr ruhig gesprochen, legte ein paar Broschüren von einem Platze des Schreibtisches auf einen andern und fuhr fort: »Ich werde nachher zu Frau Norban gehen, um ihr für diesen Antrag in aller Form zu danken und ihr zu bemerken, daß ich bereit bin, die Behandlung ihres Sohnes weiter zu übernehmen, aber nicht hier, sondern in ihren eigenen vier Pfählen; und falls er eine Gesellschafterin und Pflegerin wünscht, solle er das nur in irgend einem größeren Blatte aufschreiben – es finden sich Hunderte. Und somit wäre uns und ihnen geholfen. – Hattest du noch etwas zu sagen, Mutter?«

Nein, die Rätin hatte nichts mehr zu sagen, sie hätte ihre Meinung auch nicht aussprechen können, selbst wenn sie gewollt hätte, so schnürte ihr die bündige Erklärung des Sohnes die Kehle zu. Sie verließ stumm das Zimmer, und man hörte drinnen eine Weile nichts als das Dröhnen vom Zuschlägen der Stubenthür.

Dann ein leises Schluchzen – Mamsell Unnütz hatte das Gesicht in ihren Händen geborgen, und während ein nervöses Zittern sie durchschauerte, stieß sie abgerissene unverständliche Worte hervor. Erschreckt suchte er sie zu beruhigen; er hatte sie niemals weinen sehen, selbst als Kind nicht, und hatte sich früher oft gewundert über das starre Gehaben des immer gescholtenen Kindes. Nun berührte ihn dieser Ausbruch einer tief inneren Erschütterung unsäglich schmerzlich; er bog sich näher zu ihr, um besser zu verstehen, was sie wolle, um zu erforschen, was sie noch drücke. Ihn rührte das schwesterliche Vertrauen, das die arme Kleine zu ihm hegte, er hob das Köpfchen sanft empor und legte die Rechte beschwichtigend auf ihr Haar.

»Julia,« bat er, »beruhige dich doch; du weißt nun, die Sache ist abgethan. Sieh, in jedem Menschen steckt ein gutes Stück Selbstsucht, in dem armen Kranken, der dich heiraten will, ein doppelt großes, ein sträfliches Stück davon. Mußt ihm das nicht übelnehmen, er ist verzogen von seiner Mutter, immer nur gewohnt, alles zu bekommen, was er haben will. Doch diesmal darf er seinen Willen nicht durchsetzen, denn meine kleine Kameradin soll dieser Selbstsucht nicht geopfert werden.«

Aber unter den Wimpern des Mädchens rieselten noch immer heiß die Thränen hervor. Ihr graute vor dem, was nun kommen würde, vor den ewigen Vorwürfen, vor dem Leben, das nach diesem Ereignis noch trostloser werden mußte als vorher; und die Sehnsucht nach Geborgensein, nach Zärtlichkeit, nach Liebe, nach dem einzigen Herzen, das sie verstand, war in diesem Augenblick stärker als sie. Ihr thränenüberflutetes Gesichtchen hob sie empor, ihre Hände hatten sich gefaltet und ihre Lippen regten sich. Er bog sein Ohr zu ihrem Munde, um dieses lautlose Flüstern zu verstehen, und da hörte er deutlich, was sie meinte, und das Herz wollte ihm stillstehen vor Schreck.

»O, laß mich doch nicht mehr so furchtbar allein, Fritz! Sag's ihnen doch, daß du – daß wir beide – daß wir –«

Er ließ sie nicht ausreden. »Julia,« sprach er laut und hob aufstehend das Mädchen mit empor, »Julia, besinne dich!« Und als ihr in demselben Augenblick die rote Flamme der Scham über das Antlitz schlug, da zog er sie an sich und sagte mit bebender Stimme: »Julia, meine arme kleine Schwester, du bist nicht verlassen, du wirst es nie sein, und zum Beweis, wie lieb dich dein alter Gespiele hat, will er dir etwas anvertrauen. Aber komm, setze dich neben mich –« und er zog sie neben sich auf das Sofa. »Ich will dir etwas anvertrauen, das ich mir vor kurzem selbst noch kaum zu gestehen wagte, noch gestern nicht, und das ich niemand sagen könnte außer dir, meiner kleinen Kameradin. Julia – ich –«

Er stockte plötzlich und sprang auf. Es war ein furchtbares Gift, das er im Begriff stand, als Heilmittel anzuwenden, möglicherweise lebenzerstörend; und das Wort wollte ihm nicht aus der Kehle, obgleich er sich sagte, daß dieses Mittel das einzige sei, das helfen könne. Dann aber kam er entschlossen zurück und stellte sich vor das Mädchen, das geisterhaft still auf dem Sofa saß, ein irres Lächeln um den Mund. »Julia, ich liebe, und ich weiß seit heute früh, ich werde wieder geliebt. Ich weiß, du – du – auch du wirst Therese gern haben, als Schwester, als meine Frau –«

So hatte er sich die Wirkung nicht gedacht! Ein wahrhaft versteinertes Antlitz starrte ihm entgegen und ein Ausruf, so schrill und weh, schlug an sein Ohr, daß er meinte, so etwas Bitteres nie gehört zu haben.

»Nein!« hatte sie gerufen, »nein, sag das nicht – Therese nicht! Um Gottes willen, sag, daß es nicht wahr ist!«

Sie lag jetzt vor ihm auf den Knieen, aufgelöst in Angst und Schmerz. Er hatte dem schüchternen mädchenhaften Geschöpf nie die rasende Leidenschaft zugetraut, die aus den großen dunklen Augen sprach, aus dem Tone ihrer Stimme, aus dem Zittern der Glieder. »Julia!« rief er unwillig und trat einen Schritt zurück.

Sie stand nicht auf. »Fritz, ich bitte dich – du darfst nicht – sie darf nicht – du weißt ja nicht – – Großer Gott, es kann ja nicht möglich sein!«

Da riß eine harte Hand sie empor. »Vergißt du allen Anstand?« rief die Rätin, die den Aufschrei des Mädchens bis in den Flur gehört hatte, »pfui über dich! Hier zu Lande werfen sich die Mädchen den Männern nicht an den Hals – verstanden?«

Und als die Auftaumelnde mit den Händen an die Schläfen fuhr und dastand, wie aus einem furchtbaren Traume zur noch entsetzlicheren Wirklichkeit erwacht, da fuhr die Rätin fort: »Ja, schäme dich nur! Aber ich hab's längst geahnt, daß du in den Fritz vergafft bist, hab's nur nicht sagen wollen!« Mit diesen Worten griff sie wieder nach des Mädchens Arm, um es hinauszuführen. Aber sie griff in die Luft; Mamsell Unnütz war lautlos zusammengesunken, und der Doktor trug die Ohnmächtige auf das Sofa.

»Gerechter Gott!« rief die Rätin, »was habe ich dir immer gesagt, es steckt etwas fürchterlich Gewöhnliches in diesem Mädchen.«

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»Mutter,« sprach er bebend, indem er sich um die Leblose bemühte, »wenn ich nicht wüßte, daß du es nicht so schlimm meinst, wie es klingt – bei Gott, ich könnte irre werden an dir! Habe die Güte und hole Wein und gib mir den Aether dort!«

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»Na,« sagte die Rätin, während sie gelassen die Dinge herbeiholte, »ihre Mutter hat's ja gerade so gemacht, und der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Ich bin nur über eins froh, daß ich bei der Gelegenheit erfahre, daß ihr einig seid, du und das Thereschen, das macht mein Alter glücklich – da wacht sie schon wieder,« setzte sie hinzu.

Es war so. Julia richtete sich langsam empor. Mit einer stummen Bewegung wehrte sie die Hand und Begleitung des Doktors ab, dann ging sie schwankend durch das Zimmer dem Ausgang zu. Ein wunderliches Lächeln zog um ihren Mund.

Droben legte sich Julia still auf ihr Bett; sie wußte nicht klar, was sie that, sie fühlte nur, daß etwas anders sei in ihr und um sie. Sie griff nach dem Herzen, das sie heftig schmerzte, und dabei lächelte sie wieder. Niemand kam, um nach ihr zu schauen; wer wollte auch? –

Es war schon geraume Zeit vergangen, seit Julia bleich und zitternd die Treppe hinaufgestiegen war, als Tante Riekchens kleines Dienstmädchen in die Wohnstube der Rätin stürzte. Dort lehnte im Eckchen am grünlichen Kachelofen ein schönes blondes Mädchen in den Polstern und sah mit glänzenden Blauaugen zu dem Manne hernieder, der ihre Hand gefaßt hielt und leise einen Kuß darauf drückte.

»Also, wenn Sie wiederkehren aus dem Süden, Therese,« hatte er eben gesagt, »dann darf ich vor Ihren Vater treten?«

»Ja,« erwiderte sie. »Ich will ihm noch einmal den vollen Genuß des Reisens lassen, denn wenn er wüßte, daß er zum letztenmal in meiner Gesellschaft reist, so würde er das himmlische Nizza in einer ewig wehmütigen Stimmung betrachten. Aber,« setzte sie hinzu und drohte lächelnd mit dem schlanken Finger, »nicht ungeduldig werden, bitte!«

»Ich warte, wie Sie es wünschen, Therese; ich bin ja so dankbar, daß Sie mir wenigstens diese Stunde heute abend schenkten.«

Therese sah ihn verwundert an; es war ihr wohl recht, daß er nicht darauf bestand, schon heute seine Werbung bei dem Vater anzubringen, wollte sie doch ihre Freiheit noch einmal nach Herzenslust genießen. Aber sie hatte es sich nicht so leicht gedacht, ihren Willen durchzusetzen. Und nun machte der Doktor nicht einmal den Versuch, sein Glück schon jetzt durch goldene Ringe und Verlobungsanzeige unwiderruflich an sich zu ketten! Er saß so sicher und so still da vor ihr wie ein Mann, der jahrelang verheiratet ist und dem keinerlei Unruhe über einen möglichen Verlust die Stirn zu trüben braucht.

»Sind Sie denn gar nicht eifersüchtig?« neckte sie.

»Eifersüchtig? Nein! Ich meine immer, Eifersucht sei beleidigend für den, welchen wir lieben; sie setzt Mangel an Vertrauen voraus.«

Sie biß sich einen Augenblick mit den kleinen weißen Zähnen auf die Unterlippe, dann lachte sie.

Und eben jetzt platzte das Dienstmädchen von droben mit verstörtem Gesicht in die Stube. »Herr Doktor, kommen Sie doch nur rasch, Fräulein Julia ist krank, sie schwatzt in einem fort zu ihrem Bruder, der noch gar nicht da ist.«

Er sprang empor und lief hinaus, ohne sich bei Therese zu entschuldigen.

»Was ist's mit Julia und dem Frieder?« erkundigte sich Therese und trat unruhig zu der Rätin, die wie ein Steinbild am Sofatisch vor der Lampe gesessen hatte, scheinbar so in ihren Kalender vertieft, daß sie nichts sah und hörte.

»Ich weiß nicht, mein goldenes Herzchen,« antwortete die beglückte Schwiegermama. »Sie mag wohl im Fieber reden, sie war heute nach Tisch schon gar nicht wohl.«

Aber Therese schien keine Lust zu haben, auf ein Gespräch mit der alten Dame einzugehen; sie schritt schweigend im Zimmer auf und ab.

Da kam Fritz zurück. »Sie ist sehr krank, Mutter,« wandte er sich an diese, »ich glaube, daß es eine Gehirnentzündung wird; bis ich eine Wärterin habe, bitte ich dich, bei ihr zu bleiben.«

»Sie ist ohne Besinnung?« fragte Therese.

»Leider, leider!«

Und als seine Mutter gegangen war, schloß er seine Braut in die Arme und blickte ihr ernst in die Augen. »Nun komm, ich will dich hinüberführen, ich muß nachher zu der Kranken. Aber zuvor laß mich Abschied von dir nehmen. Auf Wiedersehen, du mein Glück!«

Er hatte feuchte Augen, als er sie küßte – zum erstenmal.

Vor der Thür der Villa nahm er noch einmal das schöne Antlitz zwischen seine Hände. »Gott lasse mich dich wiedersehen!« sagte er innig, dann ging er. –

Droben im kleinen Krankenstübchen flüsterte Mamsell Unnütz in ihren Fieberphantasien mit dem Bruder. »Ach, Frieder, wir beide – wir beide!« sagte sie gerade, als der Doktor wieder eintrat. »Ach, Frieder, wir beide! Aber du wirst's vergessen, du bist ein Bub', du hast auch noch tausendmal mehr – aber ich – ich hatte nur das eine –« Und sie lachte dazu.

»Was will sie denn nur immer mit dem Frieder?« flüsterte die Rätin und legte eine frische Eiskompresse auf.

Er zuckte die Achseln und setzte sich neben das Bett seiner kleinen Kameradin. Und so saß er noch, als in früher Morgenstunde das schrille Pfeifen der Lokomotive durch das Fenster scholl – es war der Zug, welcher seine Braut dem Süden zuführte. – –

Therese lehnte in einem Coupé erster Klasse. Der alte Herr schlief schon wieder; er pflegte meistens während der Fahrt zu schlafen, aber vorher hatte er sein Töchterchen sorglich in die Reisedecke gehüllt und die kleinen Füßchen in den pelzgefütterten Schuhen auf dem gegenüberliegenden Sitze gebettet.

Sie schlief nicht, sondern starrte mit müden Augen in die Dunkelheit des Dezembermorgens. Als sich aber allmählich mit kaltem, grauem Schimmer der Tag meldete, da fröstelte es sie, und sie gähnte leise. Die Welt kam ihr so furchtbar prosaisch vor, sie fühlte sich seit gestern schrecklich ernüchtert, und doch hatte sie eben gestern den Gipfel ihrer Wünsche erstiegen, von deren Erfüllung, wie sie meinte, Glück und Ruhe ihres Lebens abhing – Doktor Roettger hatte ihr seine Liebe gestanden. Die Unrast war von ihr gewichen, ihr Ehrgeiz befriedigt, und doch! Sie gähnte wieder – dieses unangenehme frühe Aufstehen!

Halb im Traume ließ sie die Vorgänge der letzten Tage an sich vorüberziehen. Wie geschickt kam die Krankheit Julias; sie hätte sonst doch vielleicht geplaudert. So aber ahnte sie nichts, und wenn man im Frühjahr wiederkehrte, dann – nun dann war viel Wasser den Rhein hinuntergeflossen. Vorerst konnte man sich ruhig auf den Nizzaer Karneval freuen.

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Sie legte den hübschen Kopf auf das Reisekissen und dachte noch einmal mit Befriedigung daran, daß der Mann, für den sämtliche unverheirateten Damen des Städtchens schwärmten, der ihre geworden war. Und dann malte sie sich ihre künftige Häuslichkeit aus; man konnte das alte interessante Haus stilvoll einrichten, es barg so herrliche Räume. Die Mutter und die Tante würden freilich nicht darin bleiben können so wenig wie Julia. Die großen Hof- und Stallgebäude paßten vortrefflich für die Dienerschaft, für Wagen und Pferdeställe, der Hof konnte etwa wie ein mittelalterlicher Burghof aufgeputzt und mit einem Rasenplatz, einer Sonnenuhr, einem schönen Brunnen und so weiter versehen werden. Der Garten – er hatte viel schönere alte Bäume als Thereschens väterlicher Garten – und die Gondel, nein, ein paar Gondeln, denn man würde feenhafte Gartenfeste – –

Dem jungen Mädchen fielen die Augen zu, sie schlief.

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