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Das Gesicht der Rätin hatte nie so von innerer Befriedigung geleuchtet wie in diesem unfreundlichen Spätherbst; während sie sonst dem Winter seufzend entgegenblickte, freute sie sich heuer über jedes welke Blatt, das der Sturm von den Bäumen nahm. Denn diesen ewigen Regengüssen und Stürmen verdankte sie teilweise den Sonnenschein in ihrem Gemüt.
Die ältesten Leute im Städtchen konnten sich kaum auf einen so ungesunden Herbst besinnen, Grippe und Gicht standen in Blüte, und Kinderkrankheiten traten epidemisch auf; die Schelle des jungen Herrn Doktors ward den ganzen Tag gezogen, und mit wichtiger Miene notierte Frau Minna die Namen der Hilfesuchenden auf der Schiefertafel an der Stubenthür des Sohnes.
Als hätte sie die größte Glückseligkeit zu verkünden, so strahlend trat sie dann ihrem Fritz entgegen, der naßgeregnet und müde heimkam, um ihm zu verkünden, daß er sich beeilen müsse, denn Fabrikbesitzer Lindemann habe wahrscheinlich einen Schlaganfall, und die Kinder des Gymnasiallehrers seien nun glücklich auch samt und sonders mit allen Zeichen des Scharlachs ins Bett gesteckt worden, und Schuster Märtes alte Mutter stöhne unter ihrem Herzkrampf.
»Es geht nicht mehr so,« erklärte der junge Arzt eines Tages, als infolge der Erkrankung des Doktors Kortum die Anforderungen wuchsen und wuchsen. »Es geht nicht mehr, ich kann's nicht schaffen, die ganze Praxis des Onkels Kortum mit zu versehen, wenn ich um jedes geschwollene Gesicht, um jeden Bonbonhusten eine Krankenvisite machen muß. Ich will mir Sprechstunden einrichten, die Leichtkranken müssen zu mir kommen.«
»Das wird gut sein,« gab die Mutter zu. »Ja, Fritz, das hättest du selber nicht gedacht, daß du in solcher Schnelligkeit der beliebteste Arzt hier werden würdest!«
»Nun, das ist der Reiz des Neuen,« antwortete er ausweichend und ging in sein Zimmer, um eine Anzeige für das Wochenblatt zu verfassen, die den Bewohnern von Andersheim mitteilen sollte, daß Doktor Roettgers Sprechstunden von acht bis neun früh und von drei bis vier nachmittags stattfinden, sonntags und mittwochs neun bis zehn Uhr unentgeltlich für mittellose Kranke.
Nun saß die Rätin jeden Morgen und jeden Nachmittag hinter den Gardinen ihrer Wohnstube am Fenster und zählte die, die »mühselig und beladen« zu ihrem Fritz kamen.
Und wahrhaftig, eine noble Kundschaft schritt über den alten Hof in die geöffnete Hausthür, um sich Rat zu holen, sogar aus den allerersten Familien; Mütter mit ihren jungen Töchtern und die jungen reichen Fabrikantenfrauen mit ihren Kindern, denn Fritz hatte den Ruf eines tüchtigen Kinderarztes im Umsehen errungen; und selbst die schöne rätselhafte Witwe, die aus Rußland sein sollte und in ihren schwarzen Kreppschleier förmlich eingewickelt schien, kam eines Tages, und die Rätin erschrak beinahe vor der Schönheit dieses marmorblassen Gesichtes. »Gott behüte ihn,« sagte sie für sich, »daß er sich nicht in so etwas verliebt, das nichts hat und nichts ist!«
Am liebsten hätte sie sich drüben ins Wartezimmer gesetzt und ein wenig geschwatzt mit all den Kranken, allein das wagte sie nicht, selbst dann nicht, als ihre beste Freundin, die Frau Bürgermeister, erschien in Begleitung ihrer Köchin, die einen schlimmen Finger mitbrachte. Eines Tages aber kam der Sohn ihrem Herzenswunsch entgegen.
»Mutter,« sagte er, »mach dir doch zuweilen mal während der Sprechstunde etwas im Wartezimmer zu schaffen; erstlich werden sich dann die Leute genieren und sich nicht gegenseitig zum Fürchten bringen mit den haarsträubendsten Krankengeschichten, und fürs zweite unternehmen auch die lieben Sprößlinge in deiner Gegenwart nicht wieder Attacken auf mein Mikroskop und sonstige Apparate.«
Die Rätin holte sich am andern Morgen ihre Staatshaube aus dem Kasten und zog ihr »gutes Schwarzwollenes« an, band die seidene Schürze vor und präsidierte mit stolz gerötetem Gesicht im Vorzimmer ihres Sohnes. Leider erfaßte sie die Aufgabe mit ihrer vielgerühmten Offenheit und Energie. Die junge Frau Amtmann, die auf Befragen der Rätin stockend erklärte, daß sie gar so viel huste, bekam den Trost, daß ja ihre beiden älteren Schwestern auch in ihrem Alter angefangen hätten zu husten und danach so bald an der Schwindsucht gestorben seien. »Und wenn ich Ihre Mutter gewesen wäre, junges Frauchen,« schloß die würdige Dame, »ich hätt' Ihnen nie das Heiraten erlaubt, sondern hätt' Sie aufgeladen und wär' mit Ihnen nach dem Süden gegangen.«
Der armen kleinen Frau schossen die Thränen in die Augen. Sie liebte das Leben, sie liebte ihren Mann und ihr dickes Baby so sehr, und als sie nachher vor dem jungen Arzte saß, schüttelte den zarten Körper ein Weinkrampf, und unschwer holte Fritz heraus, was für einen Trost seine Mutter da draußen gespendet habe. Und kaum war er im Begriff, die einigermaßen beruhigte Kranke zu untersuchen, so gellte im Vorzimmer ein so fürchterliches Kindergeschrei, daß er erschrocken hinausstürzte.
Da hatte seine Mutter den fünfjährigen Knaben eines Bahnbeamten auf dem Schoße, der mit blassem furchtverzerrtem Gesicht hinunterstrebte und dabei ein Angstgebrüll ausstieß.
»Allmächtiger Gott, was ist denn los, Mutter?« fragte er.
»Der dumme Bub' hat mir sein bös Fingerchen zeigen müssen, und da hab' ich aus Scherz gesagt, du thätest ihm nachher mit so einem langen Messer das Mägelchen aufschneiden, weil es doch nur vom zuvielen Birnenessen gekommen sei,« berichtete sie ärgerlich.
Der Doktor schüttelte den Kopf und hatte Mühe, den kleinen Burschen zu besänftigen. Frau Minna aber machte ob des Kopfschüttelns eine beleidigte Miene, sagte noch einmal etwas von einem »dummen Bub'« und verschwand; es war ohnehin heute nichts Interessantes mehr da.
Gegen Abend hatte sie ihr verunglücktes Debüt schon vergessen; sie hantierte in des Sohnes Zimmer umher, wo sie ihm ein besonders fein gesticktes Faltenhemd zurechtlegte, neben den eigenhändig gebürsteten Frack; sie wollte heute Staat machen mit ihm, denn der erste Kasinoball fand statt. Die alte Dame selbst trug zu dem Morgenrock bereits die Gesellschaftshaube, die mit großen goldenen Nadeln auf dem grauen Haare befestigt war.
»Hoffentlich ruft dich niemand heut ab,« sagte sie; »es sieht zwar nach etwas aus, wenn du so recht eilig vom Tische fortgeholt wirst, aber es wär mir doch schad um die Lackstiefel in dem Regenwetter.«
Er schien nicht in rosigster Laune und antwortete ganz obenhin, während er sich erschöpft aufs Sofa warf. Die Mutter aber nahm die Zeit wahr, die ihr bis zum Beginn der Toilette noch blieb, und indem sie ihrem Fritz eine Tasse Kaffee eingoß, versuchte sie noch einmal, sich wegen heute früh zu rechtfertigen.
»Ich hab' die kleine Frau Amtmann immer für ein Gänschen gehalten,« zog sie herzhaft los, »aber für ein so extra dummes doch nicht; gleich so ein Geflenne, als ob's die größte Neuigkeit für sie wär, daß ihre Schwestern an der Schwindsucht gestorben sind.«
»Man erinnert aber doch nicht die Kranken an dergleichen!«
»Erst recht!« rief sie und blieb, die Arme in die Seiten gestemmt, vor dem Doktor stehen. »Du willst sie doch nicht etwa glauben machen, daß sie noch hundert Jahre zu leben hätt?«
»Aber, Mutter, es liegt doch auf der Hand, daß man die Patienten weder ängstigen noch mit derartigen Erzählungen aufregen darf!«
»Doch! Da bin ich andrer Meinung – grad recht angst machen, damit sie sich in acht nehmen! Paß nur auf, die quält ihren Mann heuer nicht, daß er mit ihr auf die Bälle geht, und –«
»Wärst ein ausgezeichneter Arzt, Mutter,« rief er, in etwas gezwungenem Scherz. »Aber nun wird's Zeit, du mußt dich fein machen. Bitte, geh dann voraus – es kann sein, daß ich ein Viertelstündchen später im Ballsaal erscheine; ich habe noch einen Brief zu schreiben.«
Die Rätin verschwand, und er blieb noch ein Weilchen sitzen. Dann stieg er die Treppe empor und pochte an Tante Riekchens Thür. »Ist Mamsell Unnütz da?« fragte er in die Dunkelheit hinein.
»Nein!« klang es zurück.
»Wo ist sie denn?«
»Ja, das mag Gott wissen,« seufzte Tante Riekchen, »ich sah sie schon seit Dunkelwerden nicht mehr. Sie ist ja so sonderbar; vielleicht grämt sie sich, daß sie nicht auf den Ball gehen darf, aber ich hab's nicht dazu, nicht einen Dreier kann ich ausgeben für solche Geschichten.«
Und so ein klein wenig hatte Fräulein Riekchen diesmal recht. Julias Gesicht war während des Mittagessens um einen Schein bleicher geworden, gerade als das Dienstmädchen der Frau Rätin kam, um das Fräulein Julchen im Namen ihrer Herrin zu bitten, an dem schwarzseidenen Gesellschaftskleid besagter Dame die Spitzen etwas moderner zu ordnen, und als das Mädchen hinzusetzte: »Sonst war das der Frau Rätin ganz egal, aber weil sie heut mit unserm Herrn Doktor geht, will sie besonders fein sein.«
Mamsell Unnütz hatte aufs gewissenhafteste das Gewünschte besorgt und dabei die Schilderung solcher Andersheimer Kasinofeste in den herrlichsten Farben vorgemalt erhalten. Der redseligen Frau kam es gar nicht in den Sinn, daß einem jungen Menschenkind das Herz davon schwer werden könne. Mamsell Unnütz war ihr gar nicht denkbar auf einem Balle; aber dem schlanken Mädchen, das dort so eifrig das alte Spitzenwerk auf der raschelnden Seide befestigte, trieb die Sehnsucht ein paar funkelnde Thränen in die Augen. Ach, es war ihr ja nicht um all den Glanz dort, nur darum, daß er hinging – ohne sie. Ein peinigendes Gefühl überkam sie plötzlich, sie kannte es nicht, sie empfand nur seinen Schmerz und wußte nicht, daß es – Eifersucht hieß.
Mit zitternden Händen beendete sie die Näherei, warf das Kleid hastig über einen Stuhl und lief hinaus. Im Flur blieb sie stehen. Wohin nur gleich mit ihrem Weh? Sie öffnete die Thür, die nach dem Garten führte, und trat unter das kleine Vordach. Der Regen plätscherte hernieder, der Wind bog die Aeste und durch die graue Dämmerung leuchteten ein paar helle Fenster herüber. Ja dort, in der eleganten Villa bei Krautners, da saß auch eine, die nicht glücklich war, die einsam bleiben würde heute abend, während alle andern sich freuten – einsam und mit der nämlichen Sehnsucht im Herzen wie sie. Und da trieb es sie auf einmal durch den Regen und Sturm zu der Freundin hinüber, die sie mehr und mehr vermieden hatte, seitdem sie des Bruders Braut geworden war. Sie wollte in ein Paar Augen sehen, das auch nicht heiter blickte, sie wollte Therese einmal wieder die Hand drücken.
Sie hatte ihr wollenes Tuch über den Kopf gezogen und war durch die nassen Wege der Gärten geeilt; nun stand sie auf den Mosaikfliesen des erhellten Flurs vor Theresens Thür und pochte.
»Herein!« klang es fröhlich.
Mamsell Unnütz drückte die Klinke und stand dann auf der Schwelle mit dem Ausdruck eines Kindes, das wahr und wahrhaftig ein Märchen schaut. Strahlend hell war das kleine heimliche Nest erleuchtet, die Flammen der Gaskrone glänzten in den seidenen Falten der Wanddraperien und funkelten wie Hunderte blitzender Sternchen aus dem duftigen blaßblauen silberdurchwirkten Kleide des schönen Mädchens, das sich in heller Lust vor dem großen Spiegel wandte und drehte.
»So tritt doch herein!« rief Therese, »das Zimmer wird kalt. Aber es ist lieb von dir, Julchen, du kannst mir mal helfen, das Ding hier ins Haar zu thun.« Und sie hielt dem Mädchen einen kleinen Brillantstern entgegen, der in allen Farben des Regenbogens strahlte und sprühte. »Gelt, das Ding ist hübsch, Julchen? Denk dir, der Papa hat's mir heut geschenkt.« Und sie probierte nun selbst, wo das blitzende Schmuckstück sich am besten ausnehmen würde, und steckte es geschickt über der Stirne fest, die von goldenen hochfrisierten Haarwellen umgeben war. »Gefalle ich dir?« fragte sie dann und goß eine Flut Kölnisches Wasser über die Hände.
Mamsell Unnütz war an dem kleinen Kamin stehen geblieben und hatte unwillkürlich ihr regenfeuchtes dunkles Kleid an sich gezogen. »O sehr, o sehr!« antwortete sie, »aber – –«
»Nun – aber?« fragte Thereschen und begann ihre ellenlangen Handschuhe anzuziehen, während sie die Jungfer hinausschickte, um den Papa zu holen.
»Aber ich dachte – du – würdest nicht auf den Ball gehen, Therese?«
»Da hast du eben etwas Falsches gedacht. Warum soll ich nicht gehen? Man lebt nur einmal, und vom Trübsalblasen wird es nicht anders in der Welt.«
»Gewiß nicht; ich bildete mir nur ein, es mache dir kein Vergnügen.«
Therese wurde einer Antwort überhoben, denn Herr Alois Krautner erschien in seiner lebhaften Art und begrüßte sein schönes Töchterlein mit einem lauten »Bravo, bravo, Reschen!«
»Und sieh, Papa, wie herzig das Sternchen da oben flimmert!« rief sie und wandte ihm das Antlitz zu.
»Ja, ja! Dafür flimmert's etwas weniger in meinem Geldbeutel,« lachte er, und Julia auf die Schulter klopfend, setzte er hinzu: »Einsperren müßt man den Alois Krautner wegen seiner Verschwendungssucht, aber was soll man denn machen? Sie will eben alles haben, was Mod' ist, alles was Mod' ist – bloß … sie bekommt nicht alles; heut ist's mal geglückt, aber immer geht's nicht so, gelt, mein Mäuschen?«
»Ei freilich, deinen Willen setzt du durch,« nickte sie, scheinbar schmollend, und als sich der alte Herr umwandte, machte sie eine kleine unartige Geste hinter ihm und lachte wie ein Kobold.
»Dafür bin ich auch der Herr im Hause!« rief er gut gelaunt. »Aber weißt du, was ich wollte?« – und er blieb ganz andächtig vor seiner schönen Tochter stehen – »daß dich die Mutter sehen könnt heut abend.« Und dann zog er das rotseidene riesige Taschentuch, schnaubte sich, daß es wie ein Trompetenstoß in die Ohren der Mädchen dröhnte, steckte das Tuch hastig wieder ein und ging der Thüre zu, indem er pfiff: »So leben wir, so leben wir – –«
»Er ist ganz gerührt,« sagte Therese und drehte sich vor dem Spiegel; »sitzt eigentlich die Taille gut?«
»Ich glaube ja – gute Nacht, Therese, und viel Vergnügen!«
»Bleib doch, der Wagen ist noch nicht da.«
In diesem Augenblick kam die Jungfer und hielt etwas versteckt unter der Schürze. Julia hörte, wie sie leise sagte: »Heut sind's gar zwei Stück auf der Post gewesen, Fräulein Therese,« und sah, wie die feine behandschuhte Rechte des schönen blonden Mädchens zwei gelbliche Briefe hastig ergriff und sie in ein Kästchen von japanischer Lackarbeit warf, das auf einem kleinen Tischchen aus Bambusstäbchen und Seidenplüsch stand. Julia kannte sie genau, diese Briefe, sie waren von Frieder; er schrieb stets auf dieses teure parfümierte Luxuspapier. Therese hatte ihr den Rücken zugekehrt und wandte sich auch nicht um, als die Freundin das Zimmer verließ; aber Julia sah im Spiegel, daß auf dem schönen Gesicht ein entstellender Ausdruck von Unmut lag.
Julia ging nicht getröstet von Therese Krautner heim; sie wäre am liebsten zornig auf die Freundin geworden und schalt sich selbst darüber aus. Aber ihre Stimmung war nicht besser. Leise wie ein Dieb schlüpfte sie hinauf in den einzigen Winkel, der ihr eigen gehörte, das kleine Stübchen unter dem Dache. Es war ganz finster hier, allein sie fand doch den alten Lehnstuhl und kauerte sich fröstelnd hinein. Unverdrossen troff der Regen hernieder; sie hörte deutlich das Nieseln und Glucksen des Wassers auf den Ziegeln über sich, aber das Dach war gut und fest, es ließ kein Tröpfchen durch. Hier war sie geborgen, hier konnte sie sich ungestört den finsteren trotzigen Gedanken überlassen, die ihre Seele mit scharfen Krallen packten, so daß sie selbst erschrak vor der Menschenverachtung und der ätzenden Bitterkeit, die sie erfüllte und die durch keine süße Erinnerung, durch keine Hoffnung auf späteres Glück zu bannen war. Monatelang hatte diese Hoffnung geholfen, ihr die öde Gegenwart zu erhellen, heute vermochte ihr Herz auch nicht an ein bißchen Glück mehr zu glauben. Sie saß da, mit geballten Händen, ganz versunken in ihr Elend, und plötzlich entrang sich ein Schluchzen ihrer Brust.
Da sprach eine Stimme: »Um Gottes willen. Unnütz, was soll's denn, daß du hier sitzt? Du mußt dich ja auf den Tod erkälten.«
»Mich friert nie!« sagte sie trotzig.
»Unnütz, ich glaube dir vieles, aber das nicht,« antwortete der Doktor gutmütig. »Weißt du, daß ich eine Viertelstunde bei Tante Riekchen auf dich gewartet habe? Ich wollte dich gern sprechen, ehe ich fortgehe – aber wer nicht kam, warst du. Endlich fällt mir dieses sogenannte Atelier ein. Himmel, wo bist du denn eigentlich? Gib mir die Hand und führe mich hinunter, es ist ja eine tolle Temperatur hier oben.«
Er hatte tastend ihre Hand erfaßt, und nun zog er ihren Arm unter den seinigen. »Komm,« sagte er, »führe mich, ich weiß hier nicht Bescheid im Finstern.«
»Was willst du von mir?« fragte sie, und ihre Stimme hatte einen spröden eisigen Klang.
»Mein Gott, so komm doch erst – ich will dir's auf dem Weg erzählen; viel Zeit habe ich nicht, Kind, ich will – ich muß auf – –«
»Ach ja, auf den Ball! Verzeih, ich vergaß.« Und sie zog ihre Hand zurück.
»Ich soll wohl den Hals brechen, weil du mich losläßt?«
»O nein!« Und unter ihren Fingern sprühte ein Streichholz auf und entzündete ein Lichtstümpfchen in einer winzigen Laterne. »So, jetzt kannst du sehen.«
Sie schritt, ihm leuchtend, aus dem Dachkämmerchen der Treppe zu. »Du wolltest mir in aller Eile noch etwas sagen,« sprach sie, ohne sich umzuwenden.
»Hm – ja – um es kurz zu machen, ich wollte dich fragen, ob du wohl – ob es dir nicht unangenehm wäre, wenn ich dich bitte, mir ein paar Stunden deines Tages zu opfern, mir ein wenig zu helfen bei meiner Arbeit – kurz und bündig: ob du während meiner Sprechstunden die Honneurs in meinem Wartezimmer machen möchtest. Es kommt vor, daß ich einmal nicht gleich da bin, daß Kranke ungeduldig werden, daß sich die Damen untereinander mit der Erzählung schauerlicher Krankheitsfälle aufregen, und so weiter. Da brauche ich ein freundliches Gesicht, ein taktvolles Wesen, ein mitleidiges Herz – und das alles hast du. Unnütz, und deshalb wollte ich dich fragen.«
Sie standen just auf dem Absatz der alten schmalen Bodentreppe, das Laternchen erhellte nur schwach den nächsten Umkreis, aber es genügte doch, dem Manne das glückselige Leuchten zweier dunkler Augen zu zeigen.
»O, wie gern!« sagte sie, und auf dem lächelnden Antlitz war keine Spur von Traurigkeit mehr vorhanden.
»Guter kleiner Unnütz,« murmelte er, gerührt von ihrer Bereitwilligkeit, »denk es dir nicht zu schön!«
»Du glaubst nicht, wie ich mich darauf freue, Fritz, aber – die Tante! Ich muß ja kochen.«
»Ist schon alles in Ordnung, Julia; Tante wird sich wieder ein Mädchen nehmen.«
»Das geht nicht,« rief das junge Mädchen ängstlich, »wirklich nicht, Fritz! Ach, du weißt ja gar nicht, wie – –«
»Ich weiß alles; bitte, frage nicht weiter, Kind! Also, du willst mir helfen?«
»O Gott, freilich!«
»Dann komm morgen früh zu mir, aber etwas vor der Sprechstunde, damit ich dir dieses und jenes noch sage. Und nun auf Wiedersehen, Unnütz! Schlaf süß!«
»Auf Wiedersehen!« wiederholte sie kaum hörbar und sah ihm nach, während er eilig die Treppe hinunterschritt. Er hatte ihr nicht einmal die Hand gegeben, sie merkte es nicht; sie war zu glücklich, daß sie ihm helfen durfte. Was kümmerte sie noch der Ball, was Therese? Sie konnte arbeiten mit ihm, für ihn, das war doch etwas andres als mit ihm zu tanzen!
Wie ein Vogel flog sie die Stufen hinab und in die Stube zu Tante Riekchen. »O wie gut du bist, Tante,« sagte sie innig und trat zu der alten Dame, die mit einem Strickstrumpf am Tische bei der Lampe saß, verdrießlicher noch als heute früh.
Fräulein Riekchen zuckte die Schultern. »Man muß ja wohl Unterstützungen annehmen,« sagte sie bitter.
»Ach nein, Tante; ich meine, daß du mir erlaubt hast, Fritz drunten zu helfen.«
»Na ja, das meine ich auch; oder glaubst du, er will's umsonst von dir haben? Er hat mir genau gesagt, was du monatlich von ihm bekommst.«
Das Mädchen war plötzlich bleich geworden bis in die Lippen. »Er will mir das bezahlen?« fragte sie unsicher.
»Allerdings, und zwar recht anständig.«
»Das will ich aber nicht!« stieß Julia empört hervor.
»Warum denn nicht, wenn ich fragen darf? Hast du etwas zu verschenken? Ob der Herr Doktor, der just in die Mode gekommen ist und dich als Empfangsdame engagiert, der Fritz ist oder ein andrer, das kann dir doch wohl gleich sein!«
Auf Julias Gesicht wechselten jähe Röte und Blässe. »Dann nimm du das hin, was ich verdiene,« sagte sie endlich hart, »und erzähl es mir nie, wann er es dir gibt, und wieviel – ich mag's nicht hören!« Und sie wandte sich ab und ging aus der Stube. Sie – sie seine bezahlte Dienerin! Das hätt er ihr nicht zu bieten gewagt, wenn er sie wirklich liebte!
In stummer Qual rang sie die Hände; und so saß sie die halbe Nacht neben ihrem Bett in der kalt gewordenen Stube und versuchte ihr junges stolzes Herz zur Ruhe zu zwingen. Und dazwischen meinte sie Geigenklänge zu hören und silberdurchwirkte Gewänder zu sehen und ein leuchtendes Blondhaar, in dem ein Sternchen sprühte und funkelte. »Sie muß alles haben, was Mode ist,« hatte Herr Alois Krautner gerufen. Nun, der Doktor Fritz Roettger war ja auch eben Mode – sagte nicht die Tante so?
»Guter kleiner Unnütz!« klang es ihr im Walzertakt immer wieder vor den Ohren; seine hellen klaren Augen blickten aus dem Gewimmel der tanzenden Paare, das sie vor sich sah, zu ihr herüber – »Weißt du es denn nicht. Unnütz, daß ich es gut mit dir meine?«
»Ja,« sprach sie halblaut, »ich weiß es, ich weiß es! Du warst bis jetzt der einzige Mensch, der gütig zu mir gewesen ist, und deshalb hängt meine Seele, mein Leben an dir. Kränke mich nicht, um Gottes willen, kränke mich nicht, es wär mein Tod! Ich kann es mir nicht vorstellen, daß es anders sein soll, daß du mich nicht liebst! Großer Gott, laß es nicht zu, gib ihm Liebe für mich ins Herz – er muß mich lieben, ich will nicht leben sonst!«
Das letzte klang wie ein erstickter Schrei. Aber hier war niemand, der ihn vernahm, und die Angst und Leidenschaft verhallten ungehört und unbeschwichtigt. –
Im strahlend hellen Tanzsaal der »Traube« sammelte sich in dieser Stunde eine unglaubliche Menge von Kotillonorden auf dem schwarzen Frack des Herrn Doktors. Ja, er war mächtig in die Mode gekommen! Und ganz zuletzt schwebte eine lichte blonde Fee zu ihm heran und brachte ihm lächelnden Gesichts den letzten Orden, er schlang den Arm um sie und flog mit ihr über das Parkett. Und neben der Frau Rätin, die mit stolzer Befriedigung dem Paare nachsah, schlug sich Herr Alois Krautner mit der Hand auf die Kniee und lachte. »Schönes Paar, Frau Nachbarin, schönes Paar!« rief er, »gewachsen sind sie wie die Thüringer Tannen!« Und dann musterte er seine eigene verschrobene dicke Gestalt und seiner Nachbarin eckige Figur und stieß sacht mit dem Ellbogen an ihren Arm. »Wo sie's nur her haben? Von uns beiden nicht, Frau Rätin, sicher nicht! Bums, da ist die Musik alle; haken Sie ein, Frau Rätin, möcht die Ehre haben, Ihr Nachbar beim Kaffeetrinken zu sein.«
Und ihrem Fritz zulieb lächelte die Rätin über die wenig schmeichelhafte Offenherzigkeit des alten »Grobians« und legte ihm würdevoll die Hand auf den Arm. – Im Honoratiorenstübchen der Traube aber, wo die junge Herrenwelt die Gesellschaft noch ein wenig durchhechelte, hob ein junger Referendar, der etwas angeheitert schien, dem Doktor sein Bierglas entgegen und sang: »Den Roettger, den Roettger, den lieben alle Mädcher!« Und der ganze Chorus sang es jubelnd mit. Der Doktor machte sich lachend aus dem Staube und daheim angelangt, steckte er die ganze Kotillonherrlichkeit in den Papierkorb; nur ein einziges Sternchen lag am andern Morgen auf seinem Schreibtisch just neben dem Briefpapier.
Und auf diesem Sterne hafteten die Augen von Mamsell Unnütz, die mit stolz erhobenem Kopf neben dem Doktor stand und ihre Instruktion als »Empfangsdame« anhörte.
»Und nun vorwärts,« schloß er fröhlich und nahm einen Augenblick ihre Rechte zwischen seine beiden Hände, »jetzt kommt unsre Arbeit, kleiner Kamerad!«