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An einem wundervollen, warmen Spätsommernachmittage – einige Wochen nach diesen Ereignissen – eilte eine kleine Gesellschaft an die Schiffbrücke Kappelns, um eine Seefahrt zu unternehmen.
Es waren bekannte Personen, Frau Paulsen und Frau Heinrich, Tibertius und Frau, Sophie, Frau Franzius, Kuchens, Blanka von Tapp und August, der die Apotheke vor einigen Tagen verlassen und einem neuen Provisor Platz gemacht hatte. Die Sozietät mit Tibertius war nunmehr eine beschlossene Sache.
Der Physikus war über Land gefahren, und Heinrich hatte am Morgen unerwartete Geschäfte vorgeschützt. Es war Stadtgespräch, daß er seine Wahl zum Bürgerworthalter betreibe und mit allen erdenklichen Mitteln in der Einwohnerschaft Anhang für sich zu gewinnen suche. Sein gefügiges Werkzeug hierbei war Glitsch, dem er seine Gegendienste bei der nächsten Stadtverordnetenwahl zugesagt hatte. Der Barbier blieb auch nicht untätig, redete, schwatzte, log und kundschaftete, lief bei Heinrich aus und ein und berichtete, daß allen Anzeichen nach der Erfolg ein unzweifelhafter sein werde.
Heinrichs Abwesenheit bei der heutigen Wasserfahrt war allerdings auch von niemand bedauert worden, am wenigsten von Dora. Sie selbst hatte – freilich nur im engsten Kreise – die Anregung zu diesem Ausflug gegeben. Einmal die frische Seeluft wieder einzuatmen. sei ihr höchstes Verlangen, hatte sie ihren Freunden gesagt, und diese beeilten sich, den Wunsch der armen Blinden zu erfüllen.
Erst am Mittage dieses Tages hatten sich auf Anregung der Doktorin Paulsen und ohne Wissen Doras noch Frau Franzius, Kuchens und Blanka von Tapp angeschlossen, und Mile Glitsch und Lene, welche die Proviantkörbe trugen, bildeten den Nachtrab der kleinen Gesellschaft.
Dora schritt an Sophiens Arm einher und ließ einen leisen Unmut über die nachträglichen Einladungen durchschimmern. Überhaupt schien's der alten Dame, als ob Dora etwas besonders Schweres bedrücke; sie ging stumm und in sich gekehrt neben ihr her, und auf die Frage, was sie beschäftige, oder ob ihr etwas fehle, antwortete sie mit wehmütigem Kopfschütteln.
»Stört es dich, Dora, daß die älteren Damen dabei sind?« fragte Sophie. »Ist dir irgend etwas nicht recht? Mich dünkt, du bist heute so verstimmt und genießest nicht, was du so sehnlich herbeigewünscht hast.« – – Aber sie brach ihre Rede schnell wieder ab und drang nicht weiter in die junge Frau. War's doch das erstemal, daß sich die Blinde seit ihrem Unglück wieder in einer Gesellschaft befand, ohne daß ihr Auge die Schönheiten der Natur in sich aufnehmen, ihr Herz sich daran erfreuen konnte. Und überdies lagen qualvolle Tage hinter der armen Dora. Die Zerrissenheit ihres Inneren erhielt immer neue Nahrung durch das empörende Benehmen ihres Mannes. Heinrich hatte ihr in hämischer Weise die Begegnung mit Bernhard vorgeworfen. Zu allen Menschen, die ihm in der Seele verhaßt seien, erhalte sie gerade die engsten Beziehungen, hatte er ihr zugerufen. Er habe es ja immer gesagt, daß sie ein geradezu erstaunliches Talent besitze, jede Voraussetzung, die er seinerzeit an sie geknüpft habe, zuschande zu machen. – Und was der spitzen und grausamen Redensarten mehr waren, mit denen er sie verwundet hatte.
Noch einmal hatte Dora Bernhards Hand in der ihrigen gefühlt, noch einmal den Ton seiner Stimme gehört. Dann setzte er mit seinem jungen Weibe, deren mitleidiger Abschiedskuß der Blinden Inneres mit unsagbaren Qualen durchschauerte, die Hochzeitsreise fort.
Noch einmal – zum letztenmal – – –!
Die Fahrt auf dem Wasser war prächtig, obschon der Bootführer einigemal kreuzen, demzufolge die Segel umlegen und dadurch die Gesellschaft wiederholt belästigen mußte. Fast gegen den Wind trotzte das schlankgebaute Boot mit seinen straffen Segeln auf. Hin und wieder spritzten auch an den Planken gebrochene Wellen ihre frischen, boshaften Tropfen in das Innere und veranlaßten die Damen zu jähen Schreckensrufen. Aber vor ihnen die See, so durchsichtig, so vergnügt; ihr Atem so rein und belebend, und ringsum die Ufer im Sommerprangen, im Duft der Schönheit und im Zauber stillen Friedens. See- und Teergeruch in seiner feinen belebenden Mischung drang auf die Bootsinsassen ein, die vergnüglich schwatzten und nun endlich mit vollem Winde dem Ufer am Rotensande zustrebten. Es war derselbe Ort, an dem damals Bernhard und Dora durch stumme Blicke die Fäden ihrer jungen Liebe angeknüpft und unter dem Bann ihres süßen Geheimnisses der Zukunft nicht gedacht hatten. Er ein blutjunger Student, sie fast noch ein Kind!
Traf ihn ein Vorwurf? Schwerlich! Vielleicht wollte er ihr gerade zu einer Zeit nahen, als er erfuhr, daß sie das Weib eines anderen geworden sei. So brach sie gar selbst die Treue? – – Gleichviel! Vorbei! Vorbei! Gewesenes und Künftiges gleich trostlos! Vorüber alles, was sie einst hoffnungs- und freudevoll ans Leben geknüpft hatte.
Zeitig nachmittags war die Gesellschaft aufgebrochen; trotzdem verflogen die Stunden schnell, und der Abend regte sich.
Man hatte sich gleich nach der Ankunft gelagert, Feuer gemacht und Kaffee bereitet. Eine gemütliche Stimmung belebte die kleine Gesellschaft, und Tibertius und August waren voll zarter Aufmerksamkeit gegen Dora. Dann ging's durch den Wald und auf hübschen Umwegen zurück.
Als die Sonne sich neigte und die Herren die Vorbereitungen auf einem Lagerplatz trafen, woselbst das Abendbrot eingenommen werden sollte, richtete Dora an Sophie die Bitte, sie an den Strand geleiten zu wollen.
»Komm, Sophie, ich möchte gern noch einmal drunten am Wasser sitzen und den Wellen zuhören. Auch verlangt es mich auf Augenblicke nach Ruhe. Die lange Wanderung hat mich sehr angegriffen.«
Die alte Dame entsprach bereitwillig den Wünschen Doras, nahm ihren Arm und verständigte die Gesellschaft.
»Willst du nicht lieber ein Tuch um die Schultern nehmen?« mahnte Frau Paulsen, Dora nähertretend. Doch die junge Frau dankte mit einem lebhaften »Nein, nein, Mama,« neigte sich der Sprechenden zu und küßte sie zärtlich.
»Mein liebes, gutes Kind –,« flüsterte die Doktorin, überrascht und erfreut über einen Wärmeausdruck, der ihr neuerdings so selten geworden war.
Nachdem die beiden Frauen eine Weile fast wortlos im weichen Sande gesessen hatten – Dora hielt Sophiens Hand und drückte sie wiederholt –, schien die erstere doch ein leises Frösteln zu befallen. Sie bat deshalb jetzt selbst, daß die Freundin ihr ein Tuch holen möge. Rasch eilte Sophie fort, um den Wunsch zu erfüllen.
Sobald jene den Rücken gewandt, richtete sich das junge Weib empor und ging vorsichtig, aber sicheren Schrittes dem Strande zu. Sie horchte. – – Ringsum alles still! Sie rief mit halblauter Stimme den Bootführer. Keine Antwort. Sie rief nochmals. Nichts! Wohl, er war, wie sie auch hoffte, irgendwo im Walde mit seinem Jungen. Nun lauschte sie nach dem Wasser hinüber.
Sie hörte das knarrende Geräusch der Fahrzeuge an den Pfählen des Brückenstegs. Stets lagen hier Ruderboote. Dem Geräusch folgend, schritt sie geradeaus und suchte das Brückengeländer zu erreichen. Nun faßte sie es, tastete sich langsam vorwärts, gelangte bis ans Wasser, beugte sich hinab, suchte, fand und ergriff die eiserne Bootkette, die lose um den Pfahl gelegt war. Kräftig zog sie das Fahrzeug heran, glitt hinein, achtete nicht des Falles, den sie tat, suchte vielmehr nach einem Ruder und stieß, nachdem sie dieses einigemal vergeblich ins Wasser getaucht, vom Lande ab.
Alles gelang, als ob ein Sehender, vielleicht nur im Bootfahren Unbewanderter gehandelt hätte.
Der Gedanke, welcher die Blinde beherrschte, schärfte ihre übrigen Sinne und ersetzte durch sie gleichsam die Sehkraft.
Zunächst gehorchte das Boot nur unvollkommen, bald ward es aber von einer Brise erfaßt und trieb langsam in die offene See hinaus.
Nun eben trat Sophie wieder aus dem Gehölz hervor und wandte den Blick nach dem Strande. Und da sah sie auf dem Meere das Fahrzeug und darin, hoch aufgerichtet, eine Frauengestalt!
Wie? Was? Ging eine Täuschung vor? War's nicht Dora in ihrem hellen Sommerkleide? Grenzenlos beunruhigt spähte die alte Dame mit ihren Blicken am Ufer entlang. – Und dann ein jäher Aufschrei! – Die junge Frau war fort. Kein Zweifel, – Dora war es, sie war es, die da –
Ein furchtbarer Gedanke, der durch Sophiens Brust raste, wurde ihr zur Gewißheit. – Zurück! Zurück! »Dora! Dora! Hil–fe! Hil–fe! –« schrie sie und eilte zum Strande.
Die Blinde hörte die Töne, und ihre Gestalt schien heftig zu beben. Dennoch bewegte sie ein weißes Tüchlein. Es flatterte – ein letzter Abschiedsgruß –, scharf sich abzeichnend, durch die unbewegte Luft.
Und immer weiter schwamm das Boot, und immer angstvoller erklangen die jetzt vereinten Rufe der vor Schreck fast erstarrten Frauen am Ufer, während die Männer atemlos eilend an die Brücke stürzten.
Inzwischen war das einsame Boot in einen breiten Goldstreifen gelangt, den die Abendsonne auf das Meer gesenkt hatte. In eigenartiger Schönheit hob sich das dunkle Fahrzeug ab von dem Feuerstrom, der aus der See hervorgequollen schien, und regungslos stand es in der goldenen Flut.
Und nun senkte Dora das Tüchlein und zugleich – jetzt – jetzt – auch den Körper! Sie kniete nieder, erhob betend die Hände zum Himmel und – glitt dann sanft hinab in die Tiefe. –
Für Sekunden durchdrang ein heiliger Schauer die Brust der Freunde; denn wie ein hehres Wesen, das von Sehnsucht überwältigt wird zurücksinken in den goldenen Feuerquell des Sonnenlichtes, das einst seinen Lebensfunken geweckt hat, tauchte die Gestalt in die brennende Glut. Und dann hallte ein einziger vereinter Schreckensruf vom Ufer her über das Wasser, und die aufgestörte Woge zog weite, immer weitere geheimnisvoll kreisende Ringe. –
Aber auch sie verschwanden; die Meeresfläche ward wieder glatt. Ein herrenloses Fahrzeug schwamm hinaus in die offene See, – und die Welt lag im alten Frieden. – –
Am Morgen nach diesem entsetzlichen Vorfall traf ein Brief an den Physikus ein, der anfänglich ebenso unbeachtet blieb wie alle die andern eingelaufenen Schreiben. Eine unsichere Hand hatte die Adresse auf das Kuvert geschrieben.
Dumpf vor sich hinbrütend, in namenlosem Schmerz, für alles unempfänglich, starrte der Physikus vor sich hin, während Frau Paulsen mit gramzerrissener Seele am offenen Gartenfenster stand und ihren Gedanken eine andere Richtung zu geben suchte.
Es war die erste ruhigere Stunde nach einer Nacht furchtbarer Aufregung. Endlich griff Paulsen, sich ebenfalls aufraffend, nach den Eingängen und öffnete auch das beregte Schreiben. – Und dann hörte seine Frau hinter sich ein langgezogenes dumpfes Stöhnen; als sie sich umwandte, sah sie, daß ihr Mann wie vernichtet auf dem Sofa hockte, schwere Tränen unaufhaltsam über seine Wangen rollten und seine bebenden Finger ein Blättchen krampfhaft umfaßten. Jetzt preßte er es an seine Lippen. Sie sprang hinzu und ergriff es in fieberhafter Aufregung. Und da stand zitternd geschrieben:
»Liebe, teure Eltern, verzeiht, o verzeiht Eurer Dora, die Euch so unaussprechlich liebte!«
Was die Welt bisher leise geflüstert hatte, was aber in seiner eigentlichen Bedeutung nicht erkannt war, weil die sanfte Dulderin gegen Fremde niemals eine Klage über die Lippen gebracht, wurde nun laut erzählt, wuchs an zu einem allgemeinen Gerede und rief bei allen Gutgesinnten äußerste Empörung hervor.
Heinrich war der Mörder dieser Frau, der niemand nähergetreten war, ohne sie zu lieben, und deren Wert nun, nachdem sie nicht mehr unter den Lebenden weilte, jedem erst zum vollen Bewußtsein gelangte.
Die öffentliche Meinung bäumte sich auf gegen den herzlosen Schurken in der Apotheke. Heftige Stimmen, laute und versteckte Entrüstungsanklagen erhoben sich, und sie wurden so übereinstimmende, daß von einer Wahl Heinrichs zum Bürgerworthalter nicht mehr die Rede war.
Glitsch riet dem Apotheker sogar, ein schweres Unwohlsein vorzuschützen und dem Leichenbegängnisse seiner Frau fernzubleiben. –
Wenige Wochen später vernahm man die Kunde von dem Verkauf des Hauses und der Apotheke an Tibertius und August. Der bisherige Besitzer verschwand aus der Stadt, ohne Abschied zu nehmen.
Auch der Physikus und seine Frau zogen nach Veräußerung ihres Grundstücks nach Mecklenburg zu dem Bruder. Weder von ihnen noch von Heinrich hat man wieder in Kappeln gehört.
Als nach Jahresfrist die Stimme eines kleinen Geschöpfes durch die jetzt so hellen Räume der Apotheke klang, beugte sich Tibertius hernieder, hob sein Kind empor und flüsterte seinem Weibe ins Ohr:
»Soll's Christine heißen?«
Aber sie schüttelte den Kopf, umfaßte seinen Hals und raunte ihm zu:
»Nein, Fritz! Dora wollen wir unsern süßen Schatz nennen.«
»Ja, Dora!« leuchtete es in Tibertius' Augen auf, und »Dora!« nickte mit feuchten Augen der Geschäftssozius August Semmler, als man ihm davon Mitteilung machte.
Und »Dora Christine Tibertius« hob der Prediger feierlich an, netzte des Kindleins Stirn und taufte es im Namen der Dreieinigkeit.
Aus den Blumen, die das Taufbecken umrahmten, quoll ein feiner Duft. Heilige Stille erfüllte den Raum, und ein abgeschiedener Geist schien unsichtbar den Ort segnend zu weihen, den jetzt zärtliche Liebe und Übereinstimmung in einen Tempel des Glücks verwandelt hatten.
Ende.