Hermann Heiberg
Apotheker Heinrich
Hermann Heiberg

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Zwanzigstes Kapitel.

»Madame!«

Dora, die an einer Weihnachtsarbeit beschäftigt war, guckte empor. »Nun? Schließe doch die Tür, Lene! Wie oft sagte ich es dir schon.«

»Das Fräulein ist draußen. Sie möchte gern einen Augenblick –«

»Wie? Fräulein Wildhagen? Warum kommt sie nicht herein?« – Dora sprang empor. »Was, du bist es, beste, liebste Sophie!? – deshalb –?«

Die Magd trat zurück, und die junge Frau zog die alte Dame ins Zimmer.

»Ist dein Mann zu Hause? Ich ging vorüber, sah Licht und konnte nicht widerstehen –«

»Prächtig, prächtig, beste Sophie – Heinrich ist im Whistklub. Er kommt erst spät wieder. Wie reizend sich das trifft! Du bleibst doch zum Tee?«

Unter diesen schnell hingeworfenen Sätzen löste Dora die Schleife unter Sophiens Hut und zog der noch halb Widerstrebenden den Mantel aus.

Wenige Minuten später saßen die beiden Frauen am Sofatisch und plauderten. Eine aus dem Winterschlaf erwachte Fliege umkreiste die Lampe; bald summte sie ruhelos unter der Kuppel und suchte einen Ausweg. Draußen fiel sanft ein dichter Schnee vom Himmel und verdüsterte die Laternen. Im Zimmer war's warm und behaglich. Es webte und wisperte heimlich in den von dem Lichte unberührten Ecken, und die trauliche Gemütlichkeit, welche den Raum durchdrang, veranlaßte die alte Dame, ihrer jungen Freundin Hand zu fassen und ihr stumm zuzunicken. Das hieß: Ich habe dich lieb, und ich fühle mich glücklich in deiner Nähe.

»Ich war zum Kaffee bei Franzius',« hub Sophie an. »Als ich an der Apotheke vorüberkam, fiel mir ein, daß ich Muskatnußsalbe kaufen wollte. Du weißt, sie ist gut gegen Magenerkältung. Da fragte ich den Provisor – eigentlich doch mal ein netter Mensch! –, ob ihr zu Hause wäret. Er sagte mir schon, daß Herr Heinrich im Klub sei, es schien mir aber doch nicht so ganz sicher. Ich stahl mich in die Küche und bat Lene, dich herauszurufen. – Na, meine liebe, gute Dora, was machst du? Wie hast du dich neulich amüsiert? Hübsch, nicht? Ich habe geweint, daß ich mich geschämt habe. Nein, und diese, – diese – Ähnlichkeit – –«

Sophie hielt inne, weil die junge Frau befremdet emporsah.

Aber schon in demselben Augenblick senkte sie die Augen wieder, stickte eifrig weiter und warf gelassen hin: »Du wolltest sagen. liebe Sophie?« –

Die alte Dame besann sich. Ihr fiel plötzlich ein, es sei richtiger, zu schweigen. Die Tragödie hatte einen großen Eindruck auf sie gemacht. Sie vermutete, daß ihre junge Freundin Ähnliches oder Gleiches dabei empfunden habe, wie sie selbst. Aber diese Voraussetzung schien offenbar nicht zutreffend, und so war's gefährlich, etwas zu wecken, was besser schlummerte. Um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, sagte Sophie:

»Hast du nicht eine Arbeit? Was ich bei mir habe, ist zu fein. Ich vergaß meine Brille. Gott, wie meine Augen schwach werden!«

Frau Heinrich stand auf, zog die Glocke und suchte in ihrem Nähkorb nach einer Stickerei.

»Madame haben geklingelt?«

»Decke gleich im Eßzimmer, Lene. Sieh auch nach dem Ofen. Wir nehmen den Tee heute früher.«

»Für wen?« fragte die alte Dame, eine Arbeit betrachtend, die Dora ihr überreicht hatte.

»Ich denke für den Provisor, für Tibertius, zu Weihnachten. Ich möchte ihm gern eine Freude machen. Ich kann mir nicht helfen, der arme Mensch dauert mich zu sehr.« Und nach kurzer Pause: »Weißt du denn schon das Neueste? Nein, du kannst es ja nicht wissen, und eigentlich darf ich's gar nicht verraten. Nun, du wirst nicht darüber sprechen. Wir werden wahrscheinlich allernächstens eine Verlobung haben. Tibertius –«

»Wie? Was? Der Provisor? Eine Kappelnerin?«

Diese Sache regte doch Sophiens Interesse außerordentlich an. »Nun, und?«

»Christine Lassen?«

»Die Einsiedlerin? Was du sagst –«

»Ja! Es ist so! Vielleicht höre ich heute noch etwas Näheres. Er bleibt wohl nach dem Tee –«

»Ei, ei! Also wirklich! Wie hat sich denn das gemacht? Da bin ich doch sehr neugierig. Erzähle mir –«

Dora begründete ihre Vermutungen ausführlich, und nachdem dieses Gespräch erschöpft war, kam die Rede nochmals auf den Theaterabend und dann auf die so oft besprochene Herzensangelegenheit der jungen Frau.

»Wie geht's denn jetzt?« warf Sophie teilnehmend hin.

Dora seufzte.

»Wie soll's gehen? Fast schlimmer noch als bisher. Als ich neulich Theaterbilletts gekauft hatte, – dir, Sophie, wollte ich auch einige schenken –«

»Ach, meine süße, liebste Dora! Das sollst du nicht. Ich habe schon so viel Gutes von dir. Oh, du Seele!« – Sie richtete sich empor und küßte die sanft errötende junge Frau.

»Also, da machte er mir eine furchtbare Szene. Ich erwiderte nichts, aber das schien ihn nur noch mehr zu reizen, denn er schloß damit, daß, wenn ich mich nicht ändern würde –« Dora hielt inne. Die Erinnerung an den Vorfall überwältigte sie; große Tränen fielen auf die Stickerei, und das Schnupftuch glitt immer von neuem über ihre Augen.

»Wenn du dich nicht ändern würdest?« wiederholte die alte Dame.

Einen Augenblick fand Dora die Sprache auch jetzt nicht; dann sagte sie, gegen ihre sonstige Art, kurz und hart: »Trennung!«

»Wie? Was?« stieß Sophie bestürzt heraus.

»Ja, so klang es aus. Es war nicht mißzuverstehen –«

»Unmöglich, Dora!« Die Strickerei entfiel der Alten, und sie starrte vor sich hin. »Und du?«

»Ich?« entgegnete die junge Frau. »Ich bin so weit, daß ich – am liebsten – Nein, Sophie,« unterbrach sie sich, »es gibt noch einen anderen Ausweg! Es ist gut, daß du gekommen bist! Ohnedies wollte ich dich aufsuchen, um mit dir zu sprechen. Ich will es einmal in anderer Weise versuchen, und wenn das nicht hilft, nun dann – Weshalb nicht Trennung?«

Tief erschrocken sah das alte Fräulein zu ihrer jungen Freundin empor. Was sie hörte, erfüllte sie mit größter Unruhe. Dora redete in einem anderen Tone als sonst. Eine unheimliche Ruhe lag in ihrem Wesen. Auch fuhr sie, ohne Sophiens Gegenrede abzuwarten, fort:

»Wie nun, wenn ich ihm fortan entschieden entgegenträte? Wenn ich – wenn ich –«

»Ach Dora, meine beste Dora. Welche Gedanken! Gegen den richtest du nichts, gar nichts aus! Hast du mit deiner Mama über den Vorfall gesprochen?«

Frau Heinrich schüttelte den Kopf. »Nein, nein, Sophie. Meine Mutter und mein Vater haben kein Verständnis dafür. Sie meinen, ich habe es gut, ich säße im warmen Nest. Was ich noch mehr wolle!?«

»Und deine Mutter ist doch sonst eine so verständige Frau. Aber in solchen Dingen – Ja, ja, ich kann es mir denken. Ist's denn ganz unerträglich?«

»Ja!« bestätigte die Frau. Sie erhob den Kopf und schaute mit einem grenzenlos verlassenen Ausdruck ins Leere. »Es ist so unerträglich, daß ich oft schon bebe, wenn ich nur seinen Schritt höre, daß ich zittere, wenn er den Mund auftut, daß ich vor Ekel vergehe, wenn er in seiner hochmütigen Geringschätzung alles herunterreißt – ja daß ich, daß ich –«

»Daß du?«

»Nun eben! Was ich dir sagte, Sophie« – stieß die junge Frau heraus. »Weshalb nicht Trennung? Lieber betteln, als –«

Jetzt fiel ein Holzscheit im Ofen zusammen; ein Geräusch entstand. Es schien plötzlich, als ob die Dinge ringsum Ohren hätten, als ob sie Mitwisser des Geheimnisses geworden seien und weiterverbreiten würden, was gesagt ward. Unwillkürlich hielten die Frauen inne und schauten sich um.

»Arme, liebe Dora! Was soll daraus werden?« seufzte dann die Alte und schüttelte voll inniger Teilnahme den Kopf.

Dora wollte etwas erwidern; schon öffnete sie den Mund; es zuckte seltsam, unheimlich in ihren Augen. Aber in diesem Augenblick tat sich die Tür auf, und Lene meldete:

»Madame, das Wasser kocht –«

»Es ist gut. Benachrichtige die Herren. Komm, Sophie! Wir wollen Tee trinken.« – Dora erhob sich; die Worte, die sie hatte sagen wollen, unterdrückte sie. Jetzt lag wieder der alte, sanfte Ausdruck in ihren Mienen, und erleichtert folgte ihr die alte Freundin. –

Tibertius kam an diesem Abend trotz seiner Zusage doch nicht; er ließ sich entschuldigen. Sogar ein Billettchen von ihm brachte Kordes, der sich wiederholt verlegen vor Sophie verbeugte und mit der Linken, statt mit der Rechten, das Schreiben überreichte.

»Am Ende habe ich den jungen Bräutigam verscheucht?« warf Sophie gutmütig hin und forschte in Doras Angesicht.

»Nein, nein, durchaus nicht!« erwiderte Dora schnell und begütigend, die Lektüre des Briefes beendend.

Es war an demselben Abend.

»Bitte einen Augenblick! Ich muß mir erst den Schnee von den Füßen abputzen!« betonte Tibertius, vorsichtig die Stiefel abstreichend und dann erst in das Wohnzimmer bei Lassens eintretend.

Christine, die aufgestanden war und wartend im Eingange verharrte, neigte still das Haupt und schritt dem Provisor voran. Die Alte saß an ihrem gewohnten Platz im großen Stuhl, mit einer Handarbeit beschäftigt. Sie erhob, rasch noch eine Masche am Strickstrumpf aufnehmend, den Blick und nickte dem Besuche gelassen zu.

»Böses Wetter!«

»Sie werden nasse Füße haben?« – Beide Frauen sprachen zu gleicher Zeit. Der Alten Worte klangen alltäglich, während sich in Christinens Frage ein freundlich besorgter Ton mischte, der Tibertius beglückte.

»Keineswegs, keineswegs« – erwiderte er und blickte zärtlich auf die Sprechende, deren Hand eben der seinigen entglitten war.

»Nun, wollt ihr euch nicht setzen?« drängte die Alte mit einem starken Anfluge von Ungeduld im Ton. »Und dann kriegen wir auch wohl bald Tee, Christine?«

Die Angeredete nickte und ging.

»Trösten Sie mein Mütterchen nur etwas!« sagte sie noch in der Tür. »Sie ist heute gar nicht behaglich. Nein, nein, liebe Alte, du warst schon den ganzen Tag nicht recht.« –

Tibertius schwatzte hin und her, besonders sprach er über die Leiden der alten Frau. Das mochte sie. Es bot sich ihr dabei Gelegenheit, allerlei Erinnerungen an ähnliche, glücklich überstandene Krankheitsfälle vor ihm auszukramen.

Auch von Tibertius' Fortgang von Kappeln war die Rede. Seine Mienen verdüsterten sich; er antwortete obenhin und wurde schweigsam. Es starrten ihn die Bilder so melancholisch an; jeder einzelne Gegenstand im Zimmer trat so lebendig vor sein Auge; er wollte sprechen und vermochte es nicht. Endlich raffte er sich auf. Es galt zunächst, die alte Frau in eine zutunliche Stimmung zu versetzen, bevor er ihr, wie er es sich heute vorgenommen hatte, sein Herz ausschüttete.

Er fragte nach ihrem verstorbenen Mann. Er sagte, er habe jüngst wieder so viel Gutes von ihm gehört! Welche allgemeine Achtung er genossen! Wie tüchtig er in seinem Fache gewesen sei!

Die alte Frau horchte selbstzufrieden auf.

»Ja, es war geradezu ein Verlust für Kappeln, nicht nur für uns allein! Um sechs war er jeden Morgen auf, Winter und Sommer! Dann mußte der Kaffee auf dem Tisch stehen. Ach, der war präzis; auf die Minute war er am Platz!« (Von dieser Rede ging etwas von boshafter Anspielung auf Tibertius über, der einigemal auf sich hatte warten lassen.) »Nie kam etwas an seinem Schiffe vor, während jetzt Reparaturen an der Tagesordnung sind.« – Und so ging es fort. Der liebe Gott war ein guter Mann, aber Kapitän Lassen, der selige Kapitän Lassen, nahm es reichlich mit dem Schöpfer auf!

Es war nicht günstig, daß die Alte so sehr von der Vortrefflichkeit ihres verstorbenen Gatten überzeugt war! Das Lob anderer erschien ihr ganz selbstverständlich; es überraschte sie nicht eben sonderlich das, was Tibertius gesagt hatte. Noch schlimmer aber war es, daß sie plötzlich anhub: »Es gibt nur einen wahren Beruf, – das ist der Seemannsstand.«

Alles würde Tibertius am Ende geleistet haben, wenn's von ihm verlangt worden wäre: Er würde Harfenspieler oder Seiltänzer geworden sein, um sich Christinens Liebe und der Alten Wohlgefallen zu erwerben. Aber das Wasser haßte er. Schon als Knabe war er ängstlich ausgewichen, wenn seine Kameraden hatten in ein Ruderboot steigen wollen. Er litt geradezu an der Wasserscheu. Und nun war er auch gleich mit seinen Zweifeln wieder da. Wie würde diese in Kajüte und Seeluft alt gewordene Seemannswitwe, ihm, gerade ihm, die Hand ihrer reichen Tochter bewilligen? Er schaute unsicher empor. Aber die alte Frau saß jetzt eben mit freundlicherer Miene vor ihm. Es schien, als ob sie ihn zum Weitersprechen ermuntern wolle. Und da faßte Tibertius endlich Mut. Er riß sich gewaltsam auf und sagte, rasch und geschickt auf Christine übergehend:

»Ist Fräulein Christine auch sehr fürs Wasser eingenommen?«

»Weniger!« erwiderte die Alte kühl. »Sie saß immer hinter die Bücher« (die Bücher, sagte sie) »schon als Kind. Ach! mein Mann hätte so gern einen Jungen gehabt, wie sehr er Christine auch liebte, aber der liebe Gott hatte es ja einmal so bestimmt!«

Es trat eine kurze Pause ein, während welcher Tibertius einen Eimer voll neuer Hoffnungen schöpfte. Er nahm auch wirklich jetzt den letzten Anlauf und sagte in einem festen Tone:

»Frau Lassen, liebe, verehrte Frau Lassen! Schon lange wollte ich mit Ihnen –«

Mit mißtrauischem Blick schaute die Frau empor. Der sprach mit einmal so feierlich, es klang fast weibisch; das mochte sie nicht. – Und es war doch wirklich, um das bißchen Verstand zu verlieren. Jetzt, gerade jetzt, öffnete sich die Tür, und Christine trat, so unzeitig wie die Alte jüngst, ins Zimmer.

»Sie wollten fragen?« knüpfte Frau Lassen mit einem Anflug von Neugierde an.

»O nichts! Nein nichts,« erwiderte Tibertius, sich rasch erhebend, und half Christine beim Auflegen der Teeserviette. Das junge Mädchen bemerkte seine Verlegenheit und sah ihn, als sich zufällig ihre Hände berührten, mit einem still forschenden Blick an. – Es durchzuckte den Junggesellen, als ihn die weichen Flächen ihrer Finger streiften, und sein Auge suchte bescheiden werbend das ihrige.

Er half dann auch aufdecken, aber das mochte die Alte wieder nicht. Sie war immer in einem stillen Ärger über ihn.

»Ach, das ist ja Frauenarbeit. Das lassen Sie man!« sagte sie in einem gereizten Ton. Tibertius fühlte nur zu gut, daß ein Vorwurf in ihren Worten lag. Sie hatte eine Abneigung gegen ihn zu überwinden, er wußte es und konnte es doch nicht ändern. Und weil er dies wußte, kamen ihm von neuem schwere Bedenken und Zweifel, die er vergeblich zu bannen suchte.

Nach dem Essen, im späteren Verlauf des Abends, schlief die alte Frau ein. Sie hatte eifrig strickend dagesessen und aufmerksam zugehört. Aber was gesprochen wurde, verstand sie nur halb, und da sie nicht mitreden konnte, erlag sie um so eher der Ermüdung.

»Ich müßte wohl gehend« betonte Tibertius, rücksichtsvoll zu Frau Lassen hinüberblickend.

»Nein, nein, Herr Provisor. Es überfällt die Mutter jetzt häufig der Schlaf, zumal wenn sie nicht ganz wohl ist. Wir stören sie nicht. Bitte, bleiben Sie.«

»Soll ich Ihnen die Seide halten?«

»Wollen Sie?«

Christine rückte den Stuhl, und bald wickelte sie eifrig.

»Nun haben wir bald Weihnachten –«, hub sie an.

»Ja, und abermals ist ein Jahr dahin. Was das neue wohl bringen mag!«

»Etwas höher, ich bitte. So, so ist's recht! Denken Sie denn wirklich, uns zu verlassen?«

»Ich muß!«

»Sie müssen? Ja so, – ja! – Ihnen gefällt wohl auch Kappeln nicht recht?«

»Doch, Fräulein Christine. Ich möchte nirgend anders sein. Seitdem ich – seitdem ich eine so freundliche Aufnahme in Ihrem Hause gefunden, ist mir der Ort überaus lieb geworden –«

Er stockte, er unterbrach sich, als ob die Handbewegungen beim Seidehalten das Sprechen störten. Christine wickelte eifrig weiter und schaute nicht auf.

In diesem Augenblick holte die alte Frau tief Atem, öffnete den Mund, schnarchte laut und versank in einen bleiernen Schlaf.

Tibertius warf einen Blick ins Zimmer und überflog mit dem Auge alle Dinge auf einmal. Ein nie gekanntes, unruhiges Beben ging durch seinen Körper. Was er hier sah, hatte er alles so lieb gewonnen, es guckte ihn jetzt so freundlich und vertraut an; und dann überkam ihn die Furcht, er könne den Räumen einmal fremd werden; was er hier liebte, werde ihn kalt und feindselig anstarren. –

Es war die angstvolle Nachwirkung seiner Zweifel, die ihn nicht ließen. Konnte, durfte er es wagen, dem schönen Mädchen, das ihm gegenübersaß, sein Inneres aufzuschließen?

Auf dem Tische lag eine dunkelbraune Decke mit gelben, unregelmäßig verteilten Arabesken; er sah diese unter den großen Maschen der darüber ausgebreiteten Häkelarbeit, die aus Christinens Hand hervorgegangen war. Immer mußte er die Tischdecke anblicken. Statt zu reden, irrten seine Blicke über das unbestimmte durchschimmernde Muster, aus dem seine Phantasie stets andere, neue Figuren zu gestalten suchte. Es lag auf ihm wie ein Zauber.

»Ach, ich habe Ihnen nicht einmal Feuer angeboten,« flüsterte Christine, sich plötzlich besinnend. Sie legte den Knäuel beiseite und erhob sich, bevor Tibertius es hindern konnte. Seine Arme sanken herab, es war eine Wohltat. Seide abwickeln war ihm ungewohnt und deshalb nicht unbeschwerlich.

Als Christine den Aschbecher neben ihn setzte und errötend das starken Geruch verbreitende Schwefelholz vor die Zigarre hielt, wollte Tibertius es ihr abnehmen.

»Ach! Sie bemühen sich, Fräulein Christine! –« rief er in seiner hastigen Art und griff ungeschickt nach dem über dem Zögern fast verlöschenden Spänchen. Und nun erstarb das Feuer wirklich. Als sie sich abermals an den Nebentisch begab, folgte Tibertius und sah, wie sie das Zündholz vergebens an der rauhen Fläche einer Dose rieb.

»Erlauben Sie, Fräulein Christine, bitte –«

Aber es gelang ihm ebensowenig! Da lachte sie leise auf. Es flogen lustig schelmische Geister über ihr Gesicht.

»Wie, was denn?« stöhnte die Alte plötzlich im Schlafe auf. Beide schauten erschrocken hinüber. Es war nichts, aber das Geräusch störte ihre Unbefangenheit.

Schon machte Christine eine Bewegung, zurückzutreten, als sich Tibertius noch einmal zu ihr wandte. Zugleich richtete er sich das für seine Pläne notwendige Dunkel der Ecke noch besser ein, indem er dem Lampenlicht den Rücken zukehrte, und nun sagte er mit leiser, eindringlicher Stimme:

»Liebe Christine!«

Die sanfte Röte auf des Mädchens Angesicht wich jäher Blässe.

»Herr Tibertius?« ging's zaghaft über ihre Lippen.

Und da sagte er nochmals:

»Liebe, liebe Christine –,« und faßte dabei ihre Hand. Und da das Mädchen sie ihm ließ, flogen selige Wonneschauer durch die Seele des Mannes, dem kein weibliches Wesen bisher jemals sein Herz entgegengetragen hatte, der es nie für möglich gehalten, daß es geschehen könne. Nun stand diejenige vor ihm und schlug stillbeglückt die Augen zu Boden, die er mehr liebte als sein Ich, die er anbetete, deren Besitz ihm unerreichbar geschienen, und bei deren stummem Geständnisse die ganze Welt für ihn in goldenen Farben aufleuchtete. Und wie es so kam, er wußte es selbst nicht. Er berührte ihre Stirn und fühlte, daß ihr Körper bebte; er flüsterte zärtlich ihren Namen und küßte ihren frischen, weichen Mund.

Der Sand knisterte unter seinen Füßen. Einmal noch blickte er rasch und ängstlich beiseite. Aber dann suchte er hastig und zärtlich ihr Auge und fragte:

»Liebst du mich? Willst du mein werden, Christine?«

Sie schmiegte sich an ihn und neigte das Haupt; sie sagte nichts.

»Und sie?« ergänzte er im jauchzenden Übermaß des Glückes und wies auf die alte, sanft schlummernde Frau.

»Sie wird stets lieben, was ich liebe. Und ich – ich liebe dich!«

Wie aufmunternd blickten jetzt die Bilder von den Wänden herab; wie vergnügt saßen die Geister des Hauses in den Ecken und kicherten. Auch aus den alten Möbeln schien es frohlockend hervorzudringen, und sogar der altfränkische Stuhl schaute stillbefriedigt auf die zwei Menschen, die sich gut waren, die sich liebten, die zueinander gehörten mit ihren unbefleckten Seelen –


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