Hermann Heiberg
Apotheker Heinrich
Hermann Heiberg

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Sechzehntes Kapitel.

Einige Tage nach diesem Vorfall schaute Dora, in Gedanken versunken, vom Speisezimmer in den Hof hinab. Es war schon Spätnachmittag, aber die Luft war hell, heller als gewöhnlich; sie trug die durchsichtige, stahlhelle Färbung, die den Herbsttagen eigen ist. Alle Gemächer im Hause erhielten durch die dichten Gardinen, Vorhänge und Teppiche etwas überaus Düsteres; besonders galt dies von den nach dem Hof gelegenen Zimmern.

Der Hund des Knechtes lief geschäftig hin und her, bald in den Garten, bald in den Hof; einmal suchte er sich durch die angelehnte Tür des Laboratoriums zu klemmen, stand einen Augenblick wie ein nachdenklicher Mensch vor der verschlossenen Pforte und begann dann von neuem mit seinem ruhelosen Hin- und Herlaufen. Ihn fröstelte offenbar; er suchte nach einer warmen Ecke. Es sprudelte auch so kalt aus der Röhre des Mauerbrunnens und plätscherte so eisig in das alte Sandsteinbecken, das beim Neubau hier aufgestellt war! Daß Jakob bereits den Hof abgefegt und allerlei in den Ecken sorgsam zusammengestellt hatte: den Handwagen mit den hohen Rädern, eine kleine, braunfarbige Leiter mit zwei neueingesetzten Sprossen, einen umgestülpt an den Mauervorsprung gelehnten Eimer, auf dem ein ausgewaschenes Wischtuch zum Trocknen ausgebreitet war, erhöhte noch das trübselig karge Bild.

Dora stand lange und blickte hinaus, und doch waren ihre Gedanken weit fort. Es war nur ein mechanisches Stehen, kein bewußtes. Im Garteneingang, auf den Wegen lag das vom Sturm herabgeschüttelte gelbe Laub. Wo im Sommer das Auge gehemmt ward durch belaubte Bäume, drang es nun bis auf den fernliegenden, großen Rasen, der allein noch mit etwas Grün bedeckt war. Um so trostloser stach die übrige Umgebung gegen ihn ab.

Die junge Frau seufzte auf. Ringsum in der dunklen Wohnung war es so einsam und öde. Der Anblick der Natur schuf keine belebenden, schuf weit eher todestraurige Gedanken. Sie machte ihr Herz noch mutloser, ihren Sinn noch trüber.

In dem Augenblick, wo sie sich zurückziehen wollte, streifte ihr Blick den gegenüberliegenden Flügel, und da sah sie Tibertius bei einer Lampe in seinem Zimmer sitzen. Heute war sein Ausgehtag, aber Dora hatte schon mehrmals beobachtet, daß er, statt unter Menschen zu gehen, lesend oder schreibend in seinem Zimmer hockte.

Sie trat unwillkürlich zurück, aber blieb doch noch eine Weile in der Nähe des Fensters stehen und spähte hinüber. Tibertius saß, den Kopf auf die Hände gestützt, vor seinem Schreibtisch und starrte mit verlorenem Ausdruck ins Leere. Er sah aus wie ein Mensch, dessen sich äußerst traurige Erinnerungen bemächtigt haben, den etwas sehr sorgenvoll bewegt und der vergeblich nach einer Befreiung sucht. Endlich stand er auf, stützte die Hand auf den Tisch und hielt offenbar eine Rede, eine laute, gewaltige Rede. Der, zu dem er sprach, befand sich freilich nicht im Zimmer; es war wohl gut, denn Tibertius' Brust hob sich immer höher, sein Auge blitzte immer zorniger.

Nachdem er gesprochen, ging er unruhig auf und ab, und endlich trat er ans Fenster, drückte die Stirn gegen die Scheiben und starrte – ganz wie Dora vorhin – auf den Hof. Auch dabei bewegte sich sein Mund; er war noch immer in einer heftigen Erregung. Zuletzt zog er die Vorhänge herab, und nun trat auch Dora zurück.

Was sie soeben gesehen hatte, beschäftigte sie außerordentlich. Irgend etwas Bedeutsames mußte dem Provisor begegnet sein.

Als am nächsten Tage zu Tisch gerufen wurde, und die beiden in der Apotheke Angestellten ins Speisezimmer traten, beobachtete Dora ihn aufmerksamer als sonst. Bisher waren Provisor und Gehilfe ihr fast wie zwei Automaten vorgekommen. Beide nahmen stets einmal die Suppe, zweimal Fleisch und Gemüse, sprachen nur, wenn man sie anredete (sie wurden sehr selten oder nie angeredet, da Herr Heinrich meist stumm und unwirsch dasaß), standen zu gleicher Zeit, die Stühle in derselben Weise an den Speisetisch rückend, auf, machten immer dieselben höflich ehrerbietigen Verbeugungen und verschwanden in derselben Reihenfolge, wie sie gekommen waren. Der Gehilfe blieb ein wenig zurück, und Tibertius eilte mit dem hastig tänzelnden Schritt, der ihm eigen war, zur Tür hinaus.

Heute wurde während des Essens häufig die Glocke unten gezogen, wodurch dann einer der Herren, in der Regel Kordes, zum Aufstehen veranlaßt wurde.

Sehr häufig wehrte Tibertius, von irgendeinem, seiner Gewissenhaftigkeit entsprießenden Drange beherrscht, den Jüngeren ab, rief milde betonend: »Bleiben Sie nur!« und eilte selbst fort. Heute aber tat er, als ob ihn die Sache überhaupt nichts angehe, und als Kordes noch einmal wieder in der Tür erschien, um nach einer von ihm gesuchten Arzneiware zu fragen, erwiderte er, ganz im Gegensatz zu seiner sonstigen, fast übereifrigen Art gar nichts. Herr Heinrich guckte den Provisor mit der Miene der Majestät an und schien ihn durch diese Mahnung aufrütteln zu wollen. Als aber trotzdem Tibertius sitzen blieb, ließ er sich von Kordes die Sache noch einmal wiederholen und stand mit den hämisch anzüglichen und heftigen Worten: »Nur Unordnung! Nichts als ewige Unordnung! Und alles muß man selbst tun!« vom Tisch auf und eilte mit dem Gehilfen hinab.

Dora warf einen raschen Blick zu Tibertius hinüber und sah, daß er die Lippen aufeinander preßte, aus dem Brot, das neben ihm lag, eine große Kugel drehte und endlich, ohne aufzuschauen, die schwarzen Schnurrbartenden mit den Zähnen bearbeitete. Es trat eine peinliche Pause ein.

»Darf ich Ihnen noch ein wenig Suppe anbieten?« brach Dora das Schweigen und sah Tibertius mit einem guten, versöhnenden Blick aus ihren melancholischen Augen an.

Er fühlte, daß sie sich auf seine Seite stellte, obgleich er durch sein Verhalten auch Schuld auf sich geladen hatte. Das überraschte ihn, aber um so mehr erquickte es ihn auch. Wie gern hätte er ihr sein Herz aufgeschlossen, und wie gern wäre ihm Dora, die einen Zusammenhang zwischen seiner geistigen Erregung und seinem heutigen Benehmen vermutete, zu Hilfe gekommen! Aber ehe noch einer von ihnen das Wort fand, traten die beiden Herren wieder ins Zimmer.

Nach aufgehobener Tafel sagte Heinrich, pedantisch einen Apfel schälend und das Kernhaus aus der Hälfte herausschneidend, auf Doras zaghafte Frage, ob sich mit dem Provisor etwas ereignet habe: »Der Hansnarr hat gekündigt und ärgert sich, daß ich ihm keine guten Worte gegeben habe. Deshalb spielt er nun den Gereizten, wird sich aber wohl bald besinnen, daß er dabei nur den Kürzeren ziehen kann.«

»Gekündigt? Tibertius? Weshalb?« stieß die junge Frau erschrocken heraus.

»Weshalb?« erwiderte Heinrich phlegmatisch und verarbeitete langsam, vornübergebeugt, die geschälte Frucht mit den großen, stark hervortretenden Zähnen. »Nun eben, der Esel geht immer aufs Eis, wenn ihm zu wohl ist.«

Aber Dora beruhigte sich dabei nicht. In dem Auge des Junggesellen war, als er ihr für ihre Teilnahme gedankt hatte, etwas erschienen, das sie nicht vergessen konnte. Er war unglücklich, und zwar durch die Schuld Heinrichs! Ihr Gefühl sagte ihr das, und ihr Mitleid regte sich um so lebendiger, als sie wußte, was es hieß, mit ihrem Manne einen Kampf aufzunehmen.

Bisher hatte Heinrich, obgleich er wortkarg und zum Lobe selten aufgelegt war, stets anerkannt, daß Tibertius ein brauchbarer Mensch sei. Um so ungerechter, um so herzloser fand es Dora, daß er jetzt eine solche Stellung ihm gegenüber einnahm.

Nur zu häufig erfuhr die junge Frau wichtige Dinge, die ihr eigenes Hauswesen betrafen, erst aus dem Munde ihrer Mutter, die wiederum den Physikus ausforschte. Gegen diesen war Heinrich mitteilsam geblieben wie früher, und so gelangten auch die Gründe, die des Provisors Abgang veranlaßt hatten, auf diesem Wege zu Doras Kenntnis und bestätigten ihre in der Angelegenheit vorgefaßte Meinung.

Wenige Tage später streifte die junge Frau in der Abenddämmerung den Provisor auf dem Flur. Sie wandte sich gegen die Treppe, als er ebenfalls im Begriff stand, hinaufzugehen.

Herr Heinrich war zu einem Karpfenschmaus geladen und hatte eben mit dem Physikus das Haus verlassen.

Dora bemerkte, daß ihr Begleiter, der höflich verlegen neben ihr herschritt, ein Tuch gegen die Backe drückte, und fragte ihn, ob ihm etwas zugestoßen sei.

»Ja, ich habe starkes Zahnweh«, erwiderte der Angeredete. »Ich werde morgen zum Arzt gehen müssen.«

»Wenn ein Apotheker sich nicht helfen kann, werden Mittel anderer kaum nützen«, scherzte Dora. »Aber vielleicht könnte ich Ihnen doch Linderung verschaffen. Ich habe auf unserer Reise in Paris von einem Zahnarzt eine Tinktur erhalten, die, auf Watte geträufelt, Wunder bewirkt. Wollen Sie sie versuchen? Bitte, treten Sie doch einen Augenblick näher.«

Tibertius murmelte zwar allerlei, durch das er Doras Anerbieten ablehnen wollte, aber er schritt trotzdem mit ihr ins Wohngemach und wartete, bis seine Herrin mit dem Versprochenen zurückkehrte.

Während der Provisor auf ihr Geheiß seine Wange einrieb, fragte die junge Frau schüchtern:

»Und ich hörte zu meinem großen Bedauern, daß Sie uns verlassen wollen, Herr Tibertius –?«

Der Mann schaute überrascht empor. Er ward durch den teilnehmenden Ton, in welchem Dora sprach, freudig berührt.

»Es ist der Wille Ihres Herrn Gemahls, gnädige Frau, nicht der meinige. Es wird mir nicht leicht, fortzugehen, – indessen –« Er sprach nicht aus.

»Und haben Sie schon eine andere Ihnen zusagende Stellung gefunden? Wissen Sie, wohin Sie gehen?« schaltete Dora gütig ein.

Tibertius schüttelte den Kopf. »Noch nicht, Frau Heinrich. – Es ist mir auch ziemlich gleich, wohin ich meine Schritte wende. Ich erwarte vom Leben nichts mehr. – In meinem Alter –« Alles kam so trostlos aus des Sprechenden Munde.

»Und es läßt sich nicht doch noch machen, daß Sie bei uns bleiben? Versuchen Sie es; ich werde auch zu helfen suchen. Sie sollten nicht so zaghaft in die Zukunft blicken, Herr Tibertius. Wenn die Sorge am größten, ist die Hilfe am nächsten.«

»O, meine liebe, gütige Frau!« rief der Junggeselle, dessen Ohr solche Teilnahme seit Jahren nicht vernommen hatte, und dem sie jetzt in einem so herzlich warmen Ton unerwartet entgegenschlugen. »Wie danke ich Ihnen für Ihr Interesse! Wenn Sie wüßten, wie wohl das tut, wie sehr ich –«

Der unruhig Wandernde stockte. Sein Gefühl überwältigte ihn solchergestalt, daß ihm die Stimme versagte; er vermochte sich auch nur hinabzubeugen und die Hand der jungen Frau mit seinen Lippen zu berühren. Im nächsten Augenblick schloß sich hinter ihm die Tür. –

Im Zimmer war es wieder einsam und still. Dora schaute hinüber auf ihr Elternhaus; sie hatte jeden Stein dort lieb; die Mauern schienen ihr aus einem andern Material gefügt, als diejenigen, welche sie hier mit ihrer fast großstädtischen Pracht umgaben. Wie hatte es sie berührt, als der Mann soeben die Worte aus seinem Innern hervorgeholt hatte. Wie lange war hier auch für sie kein Laut erklungen, der aus einem guten, warmen Herzen drang. Traten doch selbst die Eltern ihr mehr mit stummem Vorwurf, als mit Äußerungen warmer Liebe gegenüber. Wann erscholl zwischen diesen Wänden je ein lebendiges Lachen, wann ein zärtliches Neckwort, oder gar der Ton herzinniger Zuneigung?!

Düster und unheimlich drang's überall ihr entgegen aus Ecken und Winkeln, aus dem hohen, steifen Bücherschrank mit seinen geradlinigen Reihen, ans den modernen, neuglänzenden Möbeln, die nicht mit zu leben schienen mit den Bewohnern, wie drüben im Elternhause. Dort, wo ehrwürdiges Alter, langjähriger Gebrauch und das anheimelnde, warme Kolorit, das die toten Dinge annehmen durch die Berührung mit den Menschen, fröhlich zusammenwirkten, wo jedes einzelne Stück mit dem Ort eins schien, auf den es durch Gewohnheit und Alter gleichsam angewiesen war und sein Recht behauptete in stiller, schweigsamer Würde. –

Dora überdachte ihr Leben! Wie jung sie noch war! Wie würde es sein, wenn die ersten Anzeichen des Alters sich bemerkbar machten! Wie lang war ein Tag und nun gar ein Jahr in diesem Grabe! Wie traurig, liebeleer lag die Zukunft vor ihr. – Ihr grauste; mit trostloser Miene ließ sie sich in dem dunklen Gemach in einen Sessel gleiten und sann und grübelte weiter.

»Wie, du hast noch kein Licht, beste Dora?« ertönte dann plötzlich die Stimme der Frau Doktor Paulsen.

Die junge Frau flog empor. –


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