Hermann Heiberg
Apotheker Heinrich
Hermann Heiberg

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Dreizehntes Kapitel.

»Also morgen! Endlich!« betonte Frau Doktor Paulsen und füllte ihrem Manne die Suppe auf.

»Kein Salz auf dem Tisch?« stieß der Physikus, statt etwas zu erwidern, unwirsch heraus.

»Gott, hat Lene wieder das Salz vergessen!« Frau Paulsen erhob sich, klingelte, wiederholte der eintretenden Magd mit einem bezeichnenden, auf den Gatten gerichteten Blick das Wort Salz! und nahm von neuem neben dem wortkargen Hausherrn Platz. Am folgenden Tage sollte das junge Ehepaar aus Italien zurückkehren, und nicht nur die nächsten Anverwandten waren in einer höchst erwartungsvollen Stimmung, sondern die halbe Stadt nahm Anteil an dem Ereignis und war voll neugieriger Spannung, Dora als junge Frau zu begrüßen.

Gleich nach der Hochzeit, unmittelbar nach dem großen Diner bei Paulsens, waren die »jungen Heinrichs« abgereist. Das weißseidene Kleid – wann hatte Dora jemals Gelegenheit, es wieder anzuziehen? – hing noch in Frau Paulsens Kleiderschrank. Ihre Tochter war gleich vom Elternhause aus in den Wagen gestiegen; erst nach ihrer Wiederkehr sollte sie die eigenen Räume beziehen.

Hin und wieder hatte die Frau Doktor einen Blick in Doras kleines Zimmer geworfen; nicht allzuoft. Eine seltsame Scheu hielt sie ab; es kam ihr vor, als ob darin alle Gegenstände sie vorwurfsvoll anblickten. Ihr ward angstvoll ums Herz, wenn sie in den verlassenen Raum schaute, in denselben Raum, in dem das junge Ding seine glücklichen Mädchenjahre verlebt hatte.

»Nun, es war auch Zeit«, sagte sie im Verfolg des begonnenen Gesprächs zu ihrem Manne, »die Sehnsucht nach dem Kinde drückte mir schon das Herz ab. – Hier, hier, Paulsen, ist noch ein schönes Mittelstück, im Schwanzstück sind ja so viele Gräten.«

Aber der Physikus erwiderte auch diesmal nichts; er war heute bei wenig guter Laune.

»Ist dir nicht wohl, Mann?« warf Frau Paulsen, nach Tisch ihrem Gatten nähertretend, besorgt hin.

»Doch – doch –«, gab der Angeredete, sanft abwehrend, zurück, bewegte den Kopf und strich sich mit der Hand über die Stirn. »Es ging mir nur so allerlei durch den Sinn.«

Das war seine Art, wenn ihn etwas stark beschäftigte, er mochte dann nicht reden. Die Frau Doktor wandte sich fügsam ab, und ihr Mann stieg die Treppe hinauf, um nach seiner Gewohnheit ein Schläfchen zu machen. –

Aber noch zwei andere Personen in Kappeln befanden sich an diesem Tage in einer nicht gerade übermäßig gehobenen Stimmung. Es waren drüben der Provisor und der Gehilfe.

Sie hatten gute, bequeme Tage gehabt; die waren, wenn Heinrich zurückkehrte, dahin.

Der Provisor war ein alter Junggeselle, der schon in vielen Apotheken beschäftigt gewesen war und fast mehr Städte kennengelernt hatte, als der unsteteste Handwerksbursche. Es erschien das um so auffallender, als er ein ehrlicher und gewissenhafter Mann war.

Dies Zeugnis hatte ihn auch wie ein guter Engel seit den zwanzig Jahren, während welcher Zeit er den Wanderstab in der Hand gehalten, begleitet.

Es war ihm allemal rasch wieder gelungen, eine neue Stellung zu gewinnen. Und eigentlich war's gar nicht Veränderungssucht, die ihn weitertrieb, sondern eine im geheimen von ihm gehegte Hoffnung. Er glaubte stets an einem anderen Orte bessere Aussichten für das Zustandekommen einer schon seit langen Jahren genährten, aber bisher weder selbst genügend eifrig betriebenen, noch durch Glückszufall geförderten Idee zu haben.

Tibertius, so hieß der Provisor, wollte eine chemische Fabrik anlegen. Das war sein Plan. Nur nach einer Richtung hin war er seinem Ziel nähergerückt. Er hatte sich eine große Bibliothek angeschafft. Sie begleitete ihn auf seiner Wanderschaft wie der von Fellhaar entblößte Koffer. Er wußte ganz genau, daß seine neuen Prinzipale ihn stets mit den vorwurfsvollen Worten empfingen: »Eine ungeheure Kiste ist schon angelangt. Wir mußten sie vorläufig auf den Flur stellen. Sie sorgen wohl, daß sie bald beseitigt wird –«, worauf dann Tibertius, des Unwillens in den Mienen der Hausherrin gewohnt, erwiderte:

»Jawohl, um Vergebung! Es ist meine Bibliothek; ich werde sie schleunigst auspacken und fortschaffen!« –

Freilich erhöhten die Bücher doch auch wieder des Apothekers Ansehen. Wer geistige Nahrung so hoch stellte, wie Tibertius, machte gewiß keine allzugroßen materiellen Ansprüche. Du lieber Himmel! Was kostete das alles heutzutage, und wie stark aßen die »Leute«!

Bei diesem Worte wandte Tibertius allezeit Auge und Ohr ab. Er wollte es nicht gehört haben, weil es ihn zu sehr aufbrachte. War er nicht ein gebildeter Mann!?

Tibertius hatte etwas Unstetes in seinem Wesen und etwas Geckenhaftes in seiner Erscheinung. Im stillen lachte man über ihn, und oft hatte sich die Welt schon den Kopf darüber zerbrochen, ob sein Wuchs natürlich oder diesem von ihm künstlich nachgeholfen sei. In Stade, wo er zuletzt beschäftigt gewesen war, behauptete man, er trüge ein Frauenkorsett. Er war in der Tat gebaut wie ein Weib, und wenn der große Henriquatre nicht sein Gesicht geschmückt hätte, wäre man versucht gewesen, ihn für ein solches zu halten.

Aus irgendeiner unerklärbaren Laune trug er einen sogenannten polnischen Rock mit einer langen Reihe Knöpfe. Das Halstuch fiel in losen Enden an dem ausgeschnittenen Kragen herab, und unter dem Wespenwuchs der Taille erschienen durch Stege festgehaltene, oben weitbauschig und nach unten trichterartig spitz zugeschnittene Beinkleider.

Beim Sprechen hatte er die Angewohnheit zu lächeln und vorgebeugt die Hände zu reiben; er zerschmolz vor verlegener Höflichkeit.

Ungeachtet dieser auffallenden äußeren Erscheinung und seines verbindlichen Wesens war Tibertius ein wortkarger und im Verkehr fast scheuer Mensch.

Geschäftlich tat er gewissenhaft seine Pflicht, aber er war ein wenig Phantast, ein Träumer; statt zu handeln, baute er in seinen Mußestunden Luftschlösser. So war er denn auch immer in abhängigen Verhältnissen geblieben, trotz seines vorgerückten Alters. Aber er besaß Kenntnisse; er hatte viel gelesen.

Von dem Gehilfen mit Namen Kordes war weniger zu sagen. Er war ein langer, stiller Mensch, der es selbst nicht recht begriff, daß er sich die Erlaubnis nahm, auf der Welt zu sein. Zudem – und das erhöhte seine Verlegenheit – besaß er an der rechten Hand nur vier Finger. Der mittelste fehlte, und immer verfolgte ihn der Gedanke, daß man das nicht nur bemerke, sondern ganz besonders die Blicke darauf richte.

Aus diesem Grunde haßte er besonders die Kinder. Wie oft schon hatten kleine Männchen und Fräulein vor dem Ladentisch gezischelt und mit ihren neugierigen Augen beobachtet, was er tat. Dieser Vierfingerige war zu interessant! Ja, einmal brachte ein kleiner, naseweiser Bengel ein ganzes Heer von Kameraden mit, und während der eine für einen halben Schilling Süßholz und der andere für einen halben Schilling Lakritzensaft verlangte, verteilte sich die übrige Schar vor der erwähnten Barriere, um besser das Wunder in Augenschein nehmen zu können. Wie haßte Kordes die unverschämte Brut; er hätte sie alle unsanft hinausspedieren mögen!

Er war der Sohn eines Arztes, der früher auf dem Lande praktiziert hatte.

Wissenschaftliche Interessen, wie Tibertius, besaß er nicht, aber er machte, wenn dieser sich in seiner Gutmütigkeit mit ihm abgab, bisweilen recht treffende Bemerkungen, die bewiesen, daß nur nicht recht gefördert war, was in ihm saß.

Im Gegensatz zu Tibertius, der alles mit einer gewissen Hast und Unruhe betrieb, war Kordes von einer schläfrigen Gelassenheit; nichts brachte ihn aus seiner Ruhe.

Die Kränze, die für den Empfang der Herrschaft aufgehängt werden sollten, waren angekommen. Tibertius, der den geheimen Wunsch hegte – er hegte ihn stets, sowie er mit einem gutgestellten Mann in Berührung gelangte –, Heinrich, der reiche Heinrich werde ihm das Geld für die chemische Fabrik vorschießen, war besonders bemüht gewesen, die Ausschmückung des Hauses glänzend zu gestalten.

»Ach. bedienen Sie mal!« rief er Kordes zu, während er auf der Leiter stand, ein großes Blumengewinde über der Tür zu befestigen suchte und gerade einen Kunden sich nähern sah.

»Sie müssen in einer Viertelstunde wiederkommen; das muß erst gemacht werden!« hörte er den Gehilfen sagen, und damit war einstweilen die Störung beseitigt.

Tibertius fragte aber doch von der Leiter herab: »Was war's denn?« Und als Kordes ihm Antwort gab, rief er zurück: »Na, das hätten Sie doch lieber gleich mitgeben können. – Moschus? Da scheint's ja böse auszusehen.«

»Ich dachte, wir wollten erst hier mal fertig werden,« erwiderte der Gehilfe, und Tibertius beruhigte sich.

Zum Glück hatte die Verzögerung diesmal keine Folgen. Der Particulier Jasper entging auch ohne Moschus der bereits eingeleiteten Übersiedlung in die himmlischen Gefilde, und Kordes und Tibertius hatten keine »tödliche Fahrlässigkeit« auf dem Gewissen. –

Außerordentlich schön waren die Räume der jüngst Vermählten. Wie oft hatte die Frau Paulsen sie schon Bekannten gezeigt! Die ganze obere Etage war mit größtem Luxus eingerichtet. Nach der Straßenseite lagen die Wohnräume und zwei einfenstrige Gemächer; das eine links für Dora, das andere für Herrn Heinrich bestimmt. Saal und Speisezimmer sahen nach dem Garten hinaus. An das letztere schlossen sich Küche und Wirtschaftsräume im Seitenflügel des Hauses. In diesem befanden sich oben auch die Zimmer für die Gehilfen; und der gesamte Hausboden in zwei Abteilungen diente als Lagerraum. Im Erdgeschoß des Flügels lag das Laboratorium, und in einem Anbau nach dem Garten befanden sich hübsch eingerichtete Kabinette, in denen auf Vorausbestellung warme Bäder verabreicht wurden. Ein Springbrunnen plätscherte vor dem Eingang. und ringsum im Garten standen schöne, alte Bäume, die Schatten verbreiteten und Frieden und Einsamkeit förderten.

Alles war ebenfalls hier geschmackvoll und blitzte von Ordnung und Sauberkeit; auch die Apotheke, deren Schränke, Ladentisch und Repositorien aus poliertem Mahagoniholz bestanden, machte einen sehr großstädtischen Eindruck.

Während aber droben die Dinge neu und modisch waren, wehte unten noch der Geist einer vergangenen Zeit. Zwei prächtige, geschnitzte Schränke flankierten den Hausflur; der Fußboden war abwechselnd mit schwarzen und weißen Fliesen belegt; schlanker Messingbeschlag glänzte an den weißgestrichenen Türen, und auf den Geländerpfosten einer alten, aber wundervoll erhaltenen, breiten Treppe standen zwei dickbauchige, hellblaue Vasen aus dem vorigen Jahrhundert, denen ein sanfter Potpourri-Duft der guten alten Zeit entströmte.

Diesem Duft mischte sich ein sanft narkotischer Hauch aus dem Innern der Apotheke hinzu, der solchen Häusern unverwischlich anhaftet, wie dem Frühling der belebende Atem. –

Eine Stunde vor Mittag sollten die »jungen Leute« eintreffen. Dora hatte den Eltern geschrieben, daß sie gleich am ersten Tage – es war ein Sonntag – ihre Tischgäste sein möchten.

Frau Paulsen hatte indessen den Braten gekauft, mit denen die Zurückkehrenden bewirtet werden sollten.

Wie reizend sah Dora aus, als sie dem Wagen entstieg, aber auch wie ernst! Immer von neuem flossen die Tränen, als sie ihre Mutter und ihren alten Papa umarmte.

Tibertius und Kordes erhielten zunächst nur einen flüchtigen Gruß. Der Kutscher sprang vom Wagen herab, um Jakob beim Hineintragen der Koffer behilflich zu sein; die Nachbarhunde bellten; kleine Kinder standen im Sonntagsstaat neugierig vor den Türen; just kam der Briefträger; dazwischen drängten sich eilfertig die beiden Dienstmädchen, Stine und Lene; Herr Heinrich putzte in gewohnter Pedanterie an seiner Kleidung. Das alles glitt rasch an Doras Augen vorüber, und dem allen entfloh sie und eilte rasch ins Haus.

Ihr Gefühl war zu mächtig; was nach Ausdruck in ihr rang, vertrug keine Zeugenschaft Fremder auf der Gasse.

Endlich flog der Wagen davon; noch einmal bellten die Hunde, dann war alles wieder still und leer. Nur des Sommers Sonnenschein brütete wie bisher über den Dächern.

»Nun, Dora«, stieß die Frau Doktor heraus, nachdem sie sich nochmals umarmt und im Wohnzimmer Platz genommen hatten. »Nun, meine teure Dora! Wie ist's dir denn ergangen? Und bist du glücklich?«

Herr Heinrich war ins Schlafzimmer gegangen; drüben am Fenster knitterte der Physikus mit der Zeitung, in die er sich vertieft hatte. Kein Horcher war sonst zugegen. Frau Paulsen zitterte das Herz. Sie wagte kaum, bei der Frage ihr Kind anzusehen, und ihr bangte vor der Antwort. Aber sie, die sie anredete, erwiderte nichts. Sie legte erst ihr Köpfchen an die Schulter derjenigen, die sie doch am meisten auf der Welt liebte, dann wandte sie das Haupt ab, verharrte stumm und schluchzte leise.

Sie weinte ganz still; sie bezwang sich. Der alte Mann drüben könnte es ja hören, Heinrich könnte ins Zimmer treten und ihre geröteten Augen sehen.

Bei dieser stummen Antwort veränderte sich Frau Paulsens Angesicht; es riß ihr wie mit Zangen ans Herz. In furchtbarer Deutlichkeit wurde sie sich des Unrechts bewußt, das sie an ihrem Kinde begangen. Es grauste ihr selbst vor dem Schacher, den sie mit einer schuldlosen Seele getrieben, die sie schier vernichtet hatte.

Furchtbare Schauer zogen durch ihre Brust, und auch sie vermochte nicht mehr zu reden.

Nun erhob Dora langsam das Köpfchen und sah sie an. Und als sie der hilflose, ängstlich erschrockene Blick ihrer Mutter traf, nahm gleich ein Engel von ihrem Innern Besitz. In der qualvollen Furcht, durch eigenes Leid ein Leid in der Brust dieser teuren Frau anzufachen, gar schon heraufbeschworen zu haben, flüsterte sie sanft und beruhigend: »Was ist's, meine liebe Mama? – Es wirkt ja nur die Freude des Wiedersehens nach – nur die Freude war es – die Freude und die Erfüllung meiner Sehnsucht. –«

Und sie, die eben noch zitternd gezweifelt hatte, suchte zu glauben, was ihre Tochter sprach, glaubte es, weil sie es hoffte, – ja, sie schaute mit angstbefreitem, glücklichem Blick ihrer Dora nach, als diese nun auch auf ihren Papa zutrat und ihn herzlich und lange umhalste.

»Frauen haben ja immer erst mal allerlei zu besprechen!« erklärte der Physikus lautdenkend und begab sich, im Vorüberschreiten die Gegenstände musternd, ins Nebenzimmer.

Aber doch nicht deshalb allein!

Diesen Augenblick hatte er kommen sehen unter Bangen und Sorgen. Er hatte nicht den Mut gefunden wie seine Frau, eine Frage an Dora zu richten. Aber als nun die blühenden Wangen des jungen Weibes sich an die seinigen schmiegten, als sie ihn so stürmisch liebkoste, da erhob auch er zur Gewißheit, was er ersehnt hatte.

»Sie ist glücklich!« murmelte er, von dem furchtbaren Alp befreit. »Und sie ist mir gut,« fügte er hinzu und gedachte mit froher Zuversicht der kommenden Zeiten, wo er der freigebigen Hand seiner Tochter einmal bedürfen werde. – In der Tat! Auch dieser Gedanke kam ihm, und der drängte sich sogar vor die anderen.


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