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»Mein Fritz, mein lieber, guter Fritz,« flüsterte die durch ihre Liebe und ihre erfüllten Hoffnungen um viele Jahre verjüngte Frau Tibertius acht Tage nach der Hochzeit zu ihrem Manne, während sie an seinem Arme durch den Garten des von ihnen bezogenen Häuschens schritt. »Nie hätte ich mir träumen lassen, daß ich noch einmal so innig froh werden und ohne Nebenwünsche mein Glück genießen würde. Das habe ich dir zu verdanken; du bist ein so guter Mensch!«
Er schnitt die Rede ab, schlang seinen Arm um ihren schlanken Leib und küßte sie auf den feinen, unschuldigen Mund.
»Das sagst du mir?« betonte er gerührt und ließ sich neben ihr auf eine Bank nieder. »Das sagst du mir?« wiederholte er. »Das habe ich dir zu danken! Ich durfte niemals erwarten, einmal so glücklich zu werden! Und nun ist es so unverdient, so überreichlich gekommen!«
»Nicht unverdient,« fiel sie ihm ins Wort. »Ich kenne dein Herz; ich weiß, wie dich die Liebe zu allem Guten durchdringt, und das läßt das Schicksal nicht unbelohnt.«
Sie wußten selbst nicht, wie ihnen war. Sonst beide Naturen, die eher ihre Empfindungen in sich zu verbergen suchten, drängte es sie jetzt, ihnen Ausdruck zu verleihen, ihr Inneres dadurch einander aufzuschließen.
Inzwischen begann es zu dämmern. Sie erhoben sich, öffneten eine kleine Pforte und beschritten einen Pfad, der sich an den Gärten entlang zog. Es war derselbe Weg, welcher den Paulsenschen Garten von den nahegelegenen Wiesen trennte. Letztere grenzten an die See, deren geheimnisvolles Rauschen zu ihnen herüberdrang. Frische Seeluft, der sich der zarte Duft der Wiesengräser beimischte, umwehte das junge Paar und erhöhte die Gefühle, die durch ihre Brust zogen.
Als sie nach mehrmaligem Auf- und Abwandeln auch an dem Paulsenschen Grundstück vorüberschritten, sahen sie neben der Gartenpforte eine Frauengestalt, die unbeweglich dastand und, ohne ihr Kommen zu bemerken, den schwermütigen Blick in die Ferne gerichtet hielt. Erst als sie nähertraten, erhob sie das Haupt und erwiderte in ihrer gewohnten zuvorkommenden und zugleich bescheidenen Art deren Gruß.
»Sie hier so allein, Frau Heinrich?« begann er und zog Christine, deren sich leicht eine Schüchternheit bemächtigte, wenn sie Fremden gegenübertrat, mit sich.
Dora reichte beiden die Hand und neigte den Kopf. »Es trieb mich, noch einmal die schöne Luft einzuatmen. – Mein Mann und meine Eltern sitzen in der Veranda. Ich bin ihnen entschlüpft. – Wie köstlich ist der Abend, die Natur –« Sie sprach nicht aus, das Gespräch stockte, und stumm schauten die drei in die fast schon verschleierte Landschaft.
Nur noch undeutlich erkannte man die Wiesenflächen. Ein blauvioletter Hauch lag über ihnen. Einmal unterbrach das Flügelrauschen vieler tieffliegender Stare die sonst lautlose Stille des Abends. Denn das sanft rollende Rauschen der See drüben wirkte kaum wie ein Geräusch; es erschien wie das friedliche Atemholen der Natur, die ihre Geschöpfe besänftigen, sie einlullen wollte zum nahenden Schlaf. Auch eine Möwe im verspäteten Fluge schrie nun über ihnen. Es klang fast schreckhaft, und doch war es für Dora ein alltäglicher, vertrauter Klang.
Nachdem sie noch eine Weile wortlos nebeneinandergestanden hatten, boten Tibertius und Christine der immer noch so schweigsamen jungen Frau eine gute Nacht und wandten sich nach Hause zurück. Dora aber blieb noch stehen und sah ihnen nach.
Wie glücklich waren diese Menschen! Sie so sanft, in unbewußter Holdseligkeit, er so gut, so zufrieden, so dankbar gegen den Schöpfer. Und sie selbst? Sie, die hier in den stillen Abend hinausstarrte und die rauschende Musik der See an ihr Ohr dringen ließ? – Sie war unglücklich, – zum Sterben traurig – –
Endlich wanderte auch sie langsam durch die dunklen Wege und an den nächtlich träumenden Gebüschen des Gartens vorüber in das elterliche Haus zurück.
Herr »Feodor« Tibertius war übrigens in der Folge äußerlich nicht wiederzuerkennen. Alles schien an ihm verändert, und wie man zugestehen mußte, zum Vorteil.
»Weißt du, Fritz, daß ich einen Wunsch habe, den du mir erfüllen mußt,« warf Christine an einem der nächsten Tage hin.
Tibertius beeilte sich, zu versichern, daß er im voraus gewährt sei.
»Ist's wirklich ganz sicher, Fritz?«
Tibertius nickte. »Ganz sicher, bitte.«
»Kehr' dich um, dann sag' ich's.«
»Ach, du süße Törin!« er sprach's widerstrebend, tat aber doch, wie ihm geheißen war.
»Ich möchte gern, daß du, – daß du, – nein, – so nicht! – Sag' mal Fritz, magst du meine Haarfrisur leiden?«
»Gewiß, gewiß! Ich wüßte keine, die hübscher sein könnte.«
»Um so besser! Aber ich würde sie gern gegen eine andere vertauschen, wenn du sie nicht kleidsam fändest.«
»Sicher, sicher, ich glaube es! Aber nun heraus mit der Sprache.«
»Denke dir, ich mag, – ich mag« – setzte Christine an.
»Meine Frisur nicht? Ja, wie soll ich sie denn tragen?«
Der junge Ehemann wollte sich nach diesen Worten umwenden, aber sie hielt ihn fest. »Noch nicht, noch nicht! Höre erst! Es handelt sich gar nicht um deine Frisur, Fritz. Es handelt sich um deinen Schnurrbart!«
So, nun war's heraus! Christinens Vorsicht bei diesem Angriff war in der Tat angebracht, denn Tibertius rief in einem etwas unmutigen Tone: »Na, was ist denn mit dem? Was hat dir der denn getan?«
»Er muß fort, – ganz fort, Fritz!« Christine sprach die Worte kurz und entschieden; ja, es klang, als ob's ihr gar nicht schwer von den Lippen gegangen sei. Sie kannte ihres Mannes Schwäche und war sicher, daß er ein wenig aufbrausen werde.
Tibertius wandte sich trotz des strengen Verbotes und faßte mit einer gewissen ängstlichen Zärtlichkeit den großen Schnurrbart mit der Rechten und Linken, kräuselte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger und drehte sogar nach alter Gewohnheit in der Luft dasjenige weiter, was erst noch wachsen sollte.
»Ich weiß gar nicht, ist denn mein Schnurrbart so häßlich?« hub er an, besah sich im Spiegel, rückte den Kopf hin und her und musterte sein männliches Aussehen. Etwas eitel war er nun einmal.
»Hübsch oder häßlich, Fritz! Ein Versprechen muß man halten! Ich mag dich viel lieber ohne diesen großen, auffallenden Schnurrbart. Für einen Pandurenwachtmeister mag er passen, aber für den Fabrikanten Fritz Tibertius? Nein, Fritz, er muß geopfert werden.«
Tibertius machte allerdings noch Einwendungen; die Sache kam ihm hart an. Aber er gab doch einen Beweis seiner zärtlichen Gefügigkeit, indem er am nächsten Tage, von Glitsch glattrasiert, vor seiner Frau erschien.
»Ach mein herzallerliebster Mann!« rief Christine und flog ihm an die Brust. »Wirklich! Zehntausendmal hübscher siehst du aus! Besieh dich nur!«
Tibertius stimmte dieser Ansicht freilich nicht so lebhaft bei.
»Armes Männchen!« neckte sie, als er sich ungemütlich wie ein geschorener Spitz um sich drehte. »Wie gut ist's, daß wir Sommerzeit haben! Wie kalt würde es dir sonst um Nase und Mund wehen! Armes, armes Männchen. Aber tausend, tausend Dank, und wenn du nun auch –«
»Na, was ist denn nun noch?« – betonte Tibertius, und diesmal in der Tat mit einem sehr merkbaren Anflug von Auflehnung.
Christine fühlte, daß es nicht der richtige Augenblick sei, von ihren übrigen Wünschen zu sprechen. Sie brach deshalb ab und lenkte die Unterhaltung auf einen anderen Gegenstand. Aber Tibertius war nun einmal in eine neugierige Erregung geraten und kam auf den von ihr begonnenen Satz zurück. »Du sagtest vorher, Christine, wenn ich noch etwas anderes ändern würde! Nun, ich bitte, heraus damit! Was gefällt dir noch sonst nicht?«
»Mir gefällt alles, mein herzlieber Schatz. Es war gar nichts. Beruhige dich.«
»Doch, doch, du hattest noch einen Wunsch auf den Lippen. Rede nur! Ich werd's mir überlegen. Wenn's irgend geht –«
»Nein, jetzt nicht, lieber Fritz. Ein andermal!«
Tibertius wurde in diesem Augenblick abgerufen. Der Knecht steckte den Kopf in die Tür und sagte: »Wenn der Herr vielleicht einen Augenblick Zeit hätten –«
Aber Tibertius nickte nur kurz und wandte sich sogleich wieder zu seiner Frau.
»Nun! Christine?«
»Bitte, bitte, liebes Männchen,« flehte sie, »es wartet ja jemand draußen auf dich. Es eilt gar nicht, was ich dir zu sagen habe.«
Er bestand jedoch hartnäckig auf seinem Willen, und sie mußte nachgeben; freilich geschah's auf ihre Weise. Mit der ihr eigenen Grazie verneigte sie sich vor ihm und sagte feierlich:
»Wenn Eure Hoheit zu Tisch kommen, wird meine Eingabe fertig sein. Ich werde in ihr meine Wünsche schriftlich niederzulegen mir gestatten. In Ehrfurcht ersterbend, verharre ich – et cetera, et cetera –«
Nach diesen Worten schlüpfte sie mit einer schalkhaften Miene aus der Tür und ließ ihn stehen.
Wirklich lag mittags neben Tibertius' Teller ein Kuvert, und in diesem befand sich ein Schriftstück mit nachstehenden Versen:
Mein lieber Mann, verzeih' die Freiheit, Und sei nicht bös' und werd' nicht kraus, Schon lange lag's mir auf den Lippen: Ich bitt' dich, zieh' den Schnürrock aus! Ich liebte dich beim ersten Nahen. Ich hört' aus jedem Munde loben Am End', er ist ihm lieb geworden Doch heut', mein Schatz, darf ich es sagen: |
Als Christine am nächsten Sonntag mit ihrem Manne in den Konzertgarten vors Tor ging, war das Wunder geschehen. Tibertius trug einen Gehrock wie andere Menschen und nahm sich in ihm und ohne den unschönen Schnurrbart, an dessen Stelle nur ein kleiner, hübscher Schatten auf der Oberlippe zurückgeblieben war, höchst vorteilhaft aus.
Am Abend desselben Tages hatte das junge Ehepaar Gäste: Herr August Semmler, Fräulein Sophie Wildhagen und, nicht zu vergessen, Frau Kapitän Lassen waren zum Tee gekommen. Die Alte schien durch die Umwandlung, welcher sich Tibertius unterzogen hatte, ganz besonders zufriedengestellt.
»Was ist denn passiert? Sie sehen ja ganz verändert aus. Na, aber 's kleidet Sie gut. Ganz wie zu uns gehörig – viel besser als mit den gewichsten Enden und dem Bedientenrock. Sie sahen ja aus, als ob sie so ein Stallmeister beim Zirkus waren!«
Diese Äußerung ließ allerdings kein Mißverständnis darüber aufkommen, daß Tibertius in seiner bisherigen Erscheinung der Frau Kapitän nicht sonderlich gefallen hatte. Freilich, er sah in solcher Kritik nur eine kleinstädtische Auffassung und wollte zu einer abweisenden Antwort anheben. Schnurrbart und Schnürrock waren einmal seine schwache Seite. Wo diese angetastet wurden, verleugnete sich selbst bei ihm der gutmütige Mensch. Christine aber schnitt, ihren Mann bittend anschauend, alle weiteren Erörterungen ab. Und indem sie sich an seine Schulter lehnte, sagte sie: »Ja, ja, er ist ein lieber Mensch. Dir zu gefallen hat er eingewilligt, Mutter! Er wußte, daß du den Schnürrock nicht mochtest, und da tat er ihn ab!«
Tibertius lächelte und drohte seinem Frauchen mit dem Finger. Als aber die Alte überrascht emporblickte, legte er schnell sein Gesicht in ernste Falten und bestätigte die Worte Christinens.
Und die Alte ließ sich wirklich täuschen. Der Anhauch von Mißtrauen verschwand aus ihren Mienen, und mit einer gewissen Rührung sagte sie rasch und fast verlegen in ihrem schlechten Deutsch:
»Oh, ist wahr? Ach, das kann ich ja char nicht verlangt sein« – und gab sich für den Rest des Abends von ihrer liebenswürdigsten Seite.
Durch solche von Christine ins Werk gesetzte unschuldige Künste gestaltete sich allmählich das Verhältnis zwischen Frau Kapitän Lassen und Herrn Tibertius immer besser, ja, zuletzt so gut, daß die alte Frau eines Tages zu Doras Vater sagte: »Is doch en netten Minschen, Physikus. – Meine Tochter wird chlücklich; den lieben Gott sei chedankt!«
Auch August und Tibertius hatten sich sehr befreundet, und ihre Annäherung ward besonders gefördert, als ersterer nun auch Christine kennenlernte. Ihr feines, gütiges Wesen, ihr schalkhafter Humor, durch den sie ihre Liebenswürdigkeit erhöhte, besonders aber die graziöse Art, mit der sie im Hause waltete, entzückten ihn. Zudem schätzten und liebten beide Dora, die August wie eine Heilige verehrte, und das beförderte noch um ein Beträchtliches seine Zuneigung für Tibertius' Frau. Wenn sie beisammen saßen und plauderten, gedachten sie fast immer der Freundin, die ohne Sonne und Licht in den düsteren Räumen des Apothekenhauses ihre Tage vertrauerte, deren Los immer unerträglicher wurde.
Auch Sophie hatte bei dem jungen Ehepaar die liebevollste Aufnahme gefunden und tauschte häufig ihre Gedanken über ihre gute Dora mit Christine aus.
»Können Sie denn nicht einmal mit den Eltern reden?« fragte Tibertius die alte Dame in seinem Zorn über eine neue Niederträchtigkeit, deren sich Heinrich schuldig gemacht und von der August erzählt hatte. »Ich sollte meinen, wenn der Physikus ein ernstes Wort mit Heinrich spräche, könnte das Eindruck machen. Im äußersten Falle müßte man darauf hinwirken, daß dieses unnatürliche Verhältnis gelöst wird.«
Ein Zug ungläubigen Zweifels trat bei diesen Worten in Sophiens Mienen. Wie oft hatte sie schon mit Doras Mutter geredet, ohne daß diese sich zu einem Entschlusse aufgerafft oder ihren Mann zu einem entscheidenden Schritte getrieben hätte. Es schien den beiden alten Leuten der Mut zu fehlen, ihrem Schwiegersohn gegenüberzutreten; auch stellten sie sich nicht durchaus auf die Seite ihrer Tochter. Dora trage auch schuld, hatte die Doktorin gesagt. Sie sei wortkarg, ohne Wärme und Entgegenkommen. Und was denn aus ihr werden solle, wenn sie sich von Heinrich trenne? Und so blieb es bei bloßem Meinungsaustausch! Wenn Heinrich ihr gegenübersaß und seinen Standpunkt vertrat – und dies war in neuerer Zeit mehrfach geschehen –, so wurde sie entwaffnet. Er hatte einmal eine Art und Weise, durch die er zu überzeugen verstand, durch die er am Ende recht behielt. Und dann das Geld, das Geld! Er war der reiche Mann!
»Es tritt hinzu,« schloß Sophie ihre Mitteilungen, »daß Paulsen vor der Zeit alt geworden ist; der letzte Anfall hat ihn stark mitgenommen; er fürchtet die künftigen erwerbslosen Zeiten. Vermögen ist nicht vorhanden. Da richtet sich denn seine Hoffnung auf die Tochter.
Das hängt alles zusammen, und Dora erwägt diese Umstände auch. Einmal warf sie schon mir gegenüber hin, wie sehr sie die Ungewißheit über die Zukunft ihrer Eltern beunruhige.« –
Wenn Sophie dies den Freunden Doras auseinandersetzte, erschien allerdings manches in einem anderen Lichte, und ihr Mitgefühl mußte sich auf eine stumme Teilnahme beschränken.
Auch Tibertius' alte Pläne kamen wieder zur Sprache, und August nahm sie mit großem Interesse auf. Es leuchtete ihm ein, daß ein großes und sicheres Geschäft zu machen sei, wenn jemand den Apotheken die Präparate, die nur mit großer Umständlichkeit und sicher nur mit weit größeren Herstellungskosten in den Laboratorien hergestellt werden konnten, fertig anbieten würde.
Eines Tages machte Tibertius August sogar den Vorschlag, mit ihm die Sache gemeinsam zu unternehmen. Letzterer dankte überrascht und versprach, das Anerbieten allen Ernstes in Erwägung zu ziehen. Seine Verwandten hatten ihm vorkommendenfalls ein Kapital zugesagt, und August fand hier in der Tat etwas, dessen Ausführung ihm eine große Zukunft zu versprechen schien.