Hermann Heiberg
Apotheker Heinrich
Hermann Heiberg

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Viertes Kapitel.

Nach diesen Ereignissen waren einige Wochen mit milder Wärme und vorübergehend eingetretenen rauhen Tagen dahingegangen, ohne daß die Vorgeschehnisse besondere Folgen gehabt hätten.

Schuby hatte großmütig vergeben und August mit seinem leicht versöhnlichen Sinn dankend die ihm dargebotene Hand ergriffen. Aber während der Lehrling mit Mixturen und Pillen beschäftigt war, dachte er doch immer an Dora, und seit jenem Ausflug ging es Herrn Heinrich in seinem Kontor nicht besser.

August stand zerstreut mit dem Reiber vor dem Porzellannapf und starrte vor sich hin, und der Prinzipal bemerkte zu seinem Schrecken, daß er zweihundert Zentner, sage zweihundert Zentner getrocknete Pfefferminzblüten aufgegeben hatte, als er seinen Bestellbrief nochmals durchlas.

Dora hatte ihre besondere Auffassung über die Dinge.

»Mittwoch« – schrieb sie in ihr Tagebuch –»waren wir zum Nußpflücken in Henningsdorf. Es war eine himmlische Tour. Ellisens, Doktor Schübelers, die beiden Referendare, Else, Martha Friedrichsen, Kuchens, Franzius und Frau, Gustav Adler und sein Bruder, Tachs, Amtsrichter Hübeler mit zwei fremden Damen, Inspektor Blume, von Tapps, Herr Heinrich und wir.

Wieder großen Ärger über H.! (In Doras Tagebuch war Herr Heinrich stets nur mit H. bezeichnet.) Anfänglich war er ganz liebenswürdig, ließ sich entführen und half, obgleich es ihm recht sauer wurde, sogar beim Nußpflücken. Als ich aber in sehr unglücklicher Weise den Wall hinabglitt, sprach er wieder von oben herab, nannte mich ein Kind und machte seine gewöhnlichen geringschätzenden Bemerkungen. Eines kann mich nur verdrießen: daß ich es immer merken lasse, wenn ich mich über ihn ärgere. Ich glaube, der Mensch« (dieses Wort strich Dora wieder aus, denn es schien ihr selbst in ihren geheimen Aufzeichnungen allzu respektlos) »H. hat seine wahrhaft boshafte Freude daran, mich zu quälen! Er würde sich die Hände reiben, wenn er mich einmal zum Weinen bringen könnte.

Und ist es eigentlich der Mühe wert, mich so viel mit dem alten Knaben« (auch dieser Ausdruck entfuhr Dora, ohne daß sie es wollte, und sie überschrieb ihn hastig mit dicken Federzügen) »zu beschäftigen? Was liegt denn im Grunde daran, ob er gnädig oder ungnädig ist?

Aber nein! Es ist doch unrecht von mir, über Papas intimsten Freund so zu denken und zu sprechen. – Und wie er neulich wieder gut aussah! Der englische Backenbart steht ihm famos, und sein Gesicht ist viel ausdrucksvoller geworden.

Am Abend beim Nachhausegehen war er wieder ganz der Alte. – Ach, ich wollte, ich könnte ihn mal recht, recht demütig vor mir sehen! –

Aber wer imponiert dem?

Nachschrift: Gestern, am Spätnachmittag, sah ich August von drüben. Gott, sieht der arme Mensch elend aus! Er grüßte sehr steif, natürlich wegen meines Briefes! Aber es war gewiß besser so!«

»Was schreiben Sie denn so eifrig?« fragte Schuby, der hinter dem Rezeptiertisch sitzend die Zeitung las und Augusts Feder im Kontor des Herrn Heinrich kritzeln hörte. – Es ging am heutigen Nachmittage sehr still in der Apotheke zu; draußen lag noch Schnee trotz des weichenden Winters. Herr Heinrich war zu Bier gegangen. Die Türglocke schlug nur selten an. Wirklich empörend günstig gestaltete sich seit den letzten acht Tagen der Gesundheitszustand des Städtchens. Die beiden Angestellten hatten wenig zu tun und demzufolge viele Langeweile.

»Ach, nichts!« tönte es zurück.

Schuby schlug die Zeitung um und suchte noch etwas Lesenswertes. Aber alles hatte er schon durchgesehen! Also nichts mehr! Er gähnte mit weitgeöffnetem Munde, griff an seinen blonden Ziegenbart und wiederholte, als abermals das eifrige Kritzeln an sein Ohr drang, in einem rekelig gelangweilten Tone dieselbe Frage.

»Nichts, nichts, Herr Schuby«, klang es abweisend zurück, so mürrisch abweisend, daß Schuby sich erhob und leise ins kühle, karg erhellte Kontor trat. (Dasselbe ging nach dem Hof, und die Vorhänge waren seit sechs Monaten nicht gewaschen.) Nun guckte er August plötzlich über die Schulter.

»Was, Teufel, Sie machen Verse?« rief der Gehilfe im höchsten Grade überrascht. »Na, das mag ein schöner Quatschkram sein!«

»Quatschkram?« entgegnete August. »Solchen Ausdruck kenne ich nicht. Überdies –«

»Auf wen dichten Sie denn?« gähnte Schuby, lehnte sich an den Türpfeiler, holte eine Zigarre hervor und steckte sie, obgleich das Rauchen in der Apotheke streng verboten war, an.

»Ach«, warf August hin, vollendete aber den Satz nicht, sondern raffte seine Papiere zusammen und erhob sich.

»Na, ernsthaft, Semmler. Sagen Sie mal, wen lieben Sie denn eigentlich?«

»Muß man denn immer gleich lieben, wenn man einen Vers macht?«

»Sonst gerät man doch nicht auf solches Blech.«

»Quatschkram! Blech! Diese Ausdrücke!« August wurde immer ingrimmiger.

»Na, mir können Sie es doch sagen, August –«, schmeichelte Schuby, während er an den Ofen ging und die Asche von seiner Zigarre abschlug.

In diesem Augenblick ging die Tür, und der Lehrling wandte sich, seine Papiere beiseite schiebend, rasch in die Apotheke.

Es ward für einen Schilling Bittersalz, für zwei Schillinge pulverisierte Magnesia und für einen Schilling Bären- oder Hirschfett verlangt. »Soll's Hirsch- oder Bärenfett sein?« fragte August, obgleich unter diesen und ähnlichen Bezeichnungen stets nur ausgelassener Rindstalg verkauft wurde, mit gewohnheitsmäßigem Ernst. Dann griff er in die Schublade und gab das verlangte Quantum.

Während dieser Zeit ergriff Schuby eine brennende Neugierde, und er begann in Augusts Werken zu lesen. Das erste Gedicht, auf das sein Auge fiel, lautete:

Nun ich weine, eile,
Sonst kommst du zu spät!
Ach! was soll doch werden,
Wenn's so weitergeht?
Meine Schläfen hämmern,
Angst erfüllt mein Herz,
Eile, Mädchen, eile!
Löse mir den Schmerz!
Hefte deine Blicke,
Holdes Sehnsuchtsbild,
Auf mein bleiches Antlitz,
Das der Gram zerwühlt.
Schlinge deine Arme
Um den Nacken mir,
Laß mich's endlich fühlen:
Du gehörest mir!
Draußen tobt der Winter –
Doch er ist begrenzt,
Denn du weißt es, Liebe,
Daß es wieder lenzt.
Weißt, daß Veilchen duften,
Rosen balde blühn,
Und die lieben Sänger
Wieder zu uns ziehn.
Ach, sei auch mein Frühling,
Zög're keine Stund'!
Seligstes Empfinden,
Küßt' ich deinen Mund,
Hört' von dir ein Wörtlein,
Das mein Herz ersehnt!
Doch ich bleib' alleine,
Und mein Auge tränt. –
Bald geh' ich zum Mühlbach,
Wo das Wasser rauscht,
Und die tolle Nymphe
Liebesgram belauscht.
Sie soll mich umfangen!
In dem nassen Bett
Schlaf' ich, bis die Welle
Meine Spur verweht!

Schuby fand das Gedicht nicht so ganz übel. Freilich, Dichten war überhaupt blödsinnig, und der Inhalt dieser Verse zum Lachen sentimental, aber –

In diesem Augenblick trat August ins Kontor zurück und sah, nach welchen Vorschriften der Delikatesse Schuby zu handeln für gut befunden hatte.

»Das ist unverschämt!« fuhr er wütend auf, riß Schuby die Blätter aus der Hand und stand, blaß vor Zorn, neben dem Gehilfen der Heinrichschen Apotheke.

»Semmler, hüten Sie sich!« rief dieser ebenso erregt und trotzte gegen den Lehrling auf. »Welchen Ton erlauben Sie sich! Schon neulich mußte ich Ihnen –«

»Ach, was Ton! Ich wiederhole, es ist eine Unverschämtheit, eine eines Gebildeten unwürdige Rücksichtslosigkeit, sich an fremder Leute Papiere zu vergreifen.«

»Fremder Leute! Als ob Sie überhaupt in der Schöpfung mitzählten. Sie sind Lehrling, ich bin Ihr Vorgesetzter, und Sie haben den Schnabel zu halten.«

»Schnabel?« rief August. »Ich habe keinen Schnabel. Ich habe das normale Gesicht eines Menschen. Sie aber stecken Ihre Visage in alles hinein, was Sie nichts angeht.«

August wußte in seinem Ingrimm nicht mehr, was er sprach, und eine klatschende Ohrfeige (die genaue Nachahmung der Erziehungsvorschriften des Herrn Heinrich) fiel auf seine Wange.

Aber in demselben Moment schlug auch Augusts Faust dem Angreifer aufs Auge, so stark aufs Auge, daß Schuby unter lautem Aufschrei zurückwich und von Schmerz und Zorn überwältigt, mehr hauchend als sprechend, dem Lehrling zurief:

»Hinaus, infamer Flegel, niederträchtiger Nichtsnutz! Dieser Schlag soll Ihnen teuer zu stehen kommen! Entweder verlassen Sie morgen die Apotheke oder ich! Das wird zur Wahrheit, so sicher wie ich Schuby heiße.«

Und so wurde es nach diesem außerordentlichen Zwischenfall in der Tat. August, dessen Lehrzeit ohnehin in wenigen Wochen abgelaufen war, erlangte von seinem Prinzipal nur nach grausamen Demütigungen ein einigermaßen glimpfliches Zeugnis, schrieb nach Hause, packte seinen Koffer, schickte das von Schuby gelesene Gedicht ohne Unterschrift an Dora und verabschiedete sich aus dem Städtchen, in dem er um seine Liebe und seine Hoffnungen betrogen war.

Schuby triumphierte, obgleich ihm bis zum Wiedereintritt und bis zur Anlernung eines neuen Lehrlings viel Arbeit erwuchs, und drei Wochen nach Augusts Abgang legte er die der Kasse entliehene, dem Fortgegangenen ausgehändigte Summe von einunddreißig Mark an ihren Platz zurück.

»Wer hat denn heute so große Tageseinkäufe gemacht?« fragte Herr Heinrich, als er abends den Schlüssel abzog und sich über den erheblichen Geldbestand wunderte.

»Doktor Schmidt aus Heinsdorf war hier und kaufte Verschiedenes.«

»Was Kuckuck! Doktor Schmidt? der bezieht ja sonst immer aus der Bärenapotheke!«

Den Gehilfen hatte die sonst bedeutungslose Frage in seinem Schuldbewußtsein überrumpelt. Seine Antwort war eine Lüge, deren Ungeschicklichkeit ihm erst auf die Seele fiel, als es zu spät war. Er vermochte deshalb auch nichts zu erwidern, sondern zuckte nur die Achseln und schwieg.

Herr Heinrich aber schüttelte den Kopf und verließ mit einem: »Das ist ja auffallend!« die Apotheke.


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