J. C. Heer
Felix Notvest
J. C. Heer

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XXXII.

Die Räder stehen still!

Um die Werkstätten des Obersten Fürst, die ehemalige Abtei, ist ein Schweigen, wie damals, als Felix Notvest darin zeichnete und die junge Dominikanerin, auf eingesunkenem Grabstein sitzend, seine Blätter las. Ja, viel drückender. Dann und wann erzittert die ruhige Luft von einem Seufzer im Gebälk.

Der Oberst schaut sich beinahe befriedigt in den toten Räumen um, er hat die Arbeiter überrascht, nicht sie ihn, als es zwischen ihnen und ihm zum Krache kam. Es handelt sich, wie er es nennt, um die große Säuberung seiner Betriebe. Er hat mit einem Schlag alle diejenigen, die Heuelers Blatt im Geschäft verbreiteten, lasen oder bei sich trugen, zusammen gegen hundert Arbeiter, entlassen. Die Antwort darauf ist der allgemeine Streik. Die Arbeiter fordern Lohnerhöhung, die Abschaffung eines unleidlichen Spioniersystems in der Fabrik, Neuordnung des Bußenwesens und allerlei Dinge von kleinerem Belang.

In der schönen Frühlingswitterung bietet der Streik zuerst ein artiges Bild; die Feiernden spazieren mit Weib und Kindern in den blühenden Wald, die Ordnung bei den Zügen und Versammlungen, in denen sie sich stärken, ist vollkommen. Aber bald ist die Freude am Sonnenschein und Lenz dahin, und die Arbeitseinstellung hat ein furchtbar ernstes Gesicht. Oberst Fürst weist jede Verhandlung mit den Abordnungen der Arbeiter zurück, die Bäcker wollen den Frauen kein Brot, die Händler keine anderen Nahrungsmittel mehr borgen, die Menge der Schaulustigen, welche herbeiströmen, um das im Lande noch nie erlebte Schauspiel einer großen Arbeitseinstellung zu sehen, steigert die Verwirrung, und die Streiker spüren es wohl, daß die Zuschauer ihnen so wenig, wie dem Obersten Fürst, dem »Maschinenkönig«, wie man ihn jetzt im Lande nennt, freundlich gesinnt sind. Die Unbeteiligten finden, das Ereignis des Streiks, das bisher nur in den großen Industriebezirken des Auslandes vorgekommen ist, sei eine Verunehrung des eigenen Landes und fragen: »Wie hat Reifenwerd, das schöne ruhige Dorf, solch ein Wespen- und Hornissennest werden können?«

Die Regierung sucht ehrlich zu vermitteln.

Aber Rudolf Fürst herrscht ihre Abordnung nervös erregt an: »Machen Sie keine Worte, meine Herren Regierungsräte, thun Sie Ihre Pflicht, senden Sie genügend Militär zum Schutze der Fabrik und einen Obersten, der nicht zittert, wenn es eine Salve in die aufrührerische Bande gilt. Dann wollen wir sehen, wer es länger aushält!« Er schlägt mit der Faust auf den Tisch und stampft auf den Boden:

»Ich lasse mir das Leben von den Meuterern nicht weiter versauern!«

Enttäuscht zieht sich die Abordnung in die Stadt zurück, die Tage vergehen in peinigender Ungewißheit, die Aufregung wächst. Da verbreitet Heuelers »Tambour« das Gerücht, der Oberst lasse in fremden Industriegegenden Hunderte von Arbeitern zum Ersatz für seine bisherigen anwerben.

Der Feiernden bemächtigt sich die Verzweiflung, die Leidenschaften gären auf. In der Stadt stehen eine Kavallerieabteilung und zwei Bataillone Infanterie, ruhiges Bauernblut, unter der Führung eines umsichtigen Obersten marschbereit.

Die Regierung ist entschlossen, ihre Pflicht zu thun, Leib und Leben des Obersten Fürst und seine Fabrik zu schützen. Der Streik von Reifenwerd soll namentlich keinen Schatten auf die Landesausstellung, die sich vorbereitet, werfen.

In diese Tage voll Unheildrohung fällt die Katastrophe in der Villa Venedig.

»Fredy Cella, der Künstler,« erzählen die Zeitungen, »kehrte mit dem Spätzug von seiner an Erfolgen und Ehre reichen Konzertreise in den russischen Städten nach der Heimat zurück. Sogleich nach seiner Ankunft ließ er sich von einer Mietdroschke in die Villa Venedig fahren, deren Besitzerin, wie man weiß, ihm freundschaftlich nahesteht, fand aber, da er sich anzumelden vergessen hatte, das Thor verschlossen, das Haus dunkel. Vor dieser leicht erklärlichen Thatsache verlor nun, wie es scheint, der ohnehin stark überreizte von seiner langen, hastigen Reise angegriffene Künstler die letzte Fähigkeit ruhiger Überlegung. Arbeiter fanden ihn gestern morgen in der Nähe der Villa, wie er in trostlosem Zustande zwischen Wasserpflanzen an einer ziemlich tiefen Stelle des Sees stand, in den er wohl in einem Anfall von Schwermut gewatet war. Man erkannte bald, daß man es mit einem Geistesgestörten zu thun hatte, und in den ersten Morgenstunden erfolgte seine Überführung in die Landesirrenanstalt. Wie der Besitzerin der Villa, seiner Gönnerin und feinfühligen Freundin Frau Hohspang, in schonungsvoller Weise Kenntnis von dem Vorfall gegeben worden war, besuchte sie den auf so tragische Weise zu Falle gekommenen Meister. Als er sie erblickte, verfiel er eine Weile in Weinkrämpfe, verlangte dann ungestüm sein Instrument, und ein Grauen wird die stets umweben, die sein Spiel gehört haben, diesen Schwanengesang, diesen Verzweiflungsschrei eines untergegangenen Genies! Denn darüber kann man sich nach der psychiatrischen Untersuchung leider keinem Zweifel mehr hingeben: Fredy Cella, den die einen den Gottes-, die anderen den Teufelsgeiger genannt haben, ist der Kunst, ist der Welt und uns allen für immer verloren! Was die in die Lebensgewohnheiten unseres berühmten Künstlers eingeweihten Freunde schon lange befürchtet haben, ist Ereignis geworden. Der schlummernde Bruder der genialen Begabung, der Irrsinn, ist in seiner Seele jäh erwacht.«

»Wieder ein Opfer Sigundes!« flüstert Felix Notvest erschüttert beim Lesen der Nachricht. Seine Gedanken kehren aber rasch zu den Ereignissen im Dorf zurück. Er weiß es wohl, daß in aller Munde die Frage schwebt: »Warum rührt sich der Pfarrer nicht, der sonst stets das volkserlösende Wort gefunden hat.«

Freilich rührt er sich! Aber in seiner Weise. Die unschuldigen Frauen und Kinder der Feiernden sollen nicht hungern. Wie sich die Armut zur Stunde der Brotverteilung um das Pfarrhaus sammelt! Der alten Frau Wehrli, die an den Körben sitzt, lacht das Herz, wenn die hungrigen Kinder die Zähne in das frische Brot schlagen, und manches abgehärmte Gesicht hängt in bewundernder Liebe an dem Manne, der aus vollem Herzen giebt! Wie aber auch das Volksführerblut in ihm aufwallt, wie man ihn auch drängen mag, weiter geht Felix Notvest nicht.

Vor ihm sitzt ein Streikführer, ein junger, intelligenter Mann mit finsterem, verwegenem Gesicht, und dreht die Mütze auf den Knieen. »Sie wollen uns also zu keinem annehmbaren Frieden verhelfen?«

»Ich sage Ihnen ja,« erwidert Felix Notvest, »daß ich die vaterlandslose Richtung in Ihrer jungen Partei vom Grund meiner Seele aus verwerfe! Ich würde, wie der Oberst, das Blatt Heuelers in meiner Fabrik auch nicht dulden!« Da knirscht der Arbeiter:

»Sie sind also an Ihrer früheren politischen Thätigkeit Apostat geworden. Ihr Bekenntnis wollen wir uns für die Zeit Ihrer Wiederwahl merken! Sie steht vor der Thüre.« Der Pfarrer erwidert ruhig:

»Sie haben bei meiner Wahl gar nicht mitzuwirken, Ihre Sprache verrät Sie ja als Fremder.« Der Arbeiter aber droht: »Es sind genug von Ihren Wählern in unseren Reihen, um Sie zu Fall zu bringen!« Entrüstet weist ihm Felix Notvest das Haus.

Der Pfarrer ein Spielball der Parteien! Hat er das gewollt, als die Verfassung die Lebenslänglichkeit der Ämter aufhob. Wie unvollkommen ist alles Menschenwerk! Eine Weile brütet er. Da meldet ein Bote: »Eine amtliche Depesche!«

Rasch und schwer atmend, liest sie Felix Notvest.

»Die letzte Hoffnung auf eine friedliche Beilegung des Streikes ist ein Vermittelungsversuch durch Sie. Die Augen des Landes ruhen ehrerbietig und vertrauensvoll auf dem bewährten Führer. Wir bitten um Ihr Eingreifen, um Bericht vor Abend, damit wir, wenn es die Umstände verlangen, unsere Vorkehren gegen Ausschreitungen treffen können!«

Das ist die Botschaft der Regierung.

»Was soll ich mehr ausrichten als andere?« spricht er vor sich hin.

Schweren Herzens tritt er aus seinem von Kunstgedanken umrankten Asyl in die zähneknirschende Wut der Streikenden, die fühlen, daß ihre Sache eine verlorene ist.

Da fesselt ihn eine friedevolle Frühlingsidylle. Am Waldrand oben sitzt ein alter Mann mit feinem alten Hund an der Sonne. Hans Ulrich Stockar freut sich wohl, daß er die Gußtanse nicht am Rücken hat. Und er kann während des Streiks so schön an Lony denken.

Gleich aber entrollt sich vor Felix Notvest auch ein Bild der häßlichsten Leidenschaften. Ein Hause Arbeiterweiber knäuelt sich mit geballten Fäusten, mit Schimpfrufen und Geschrei um einen Wagen. Es ist Sigunde! Gott, wie wagt sich das Unglücksweib, die Wahnwitzige, in dieser Stunde nach Reifenwerd! Blaß und hilflos hat sich die schöne Frau im Wagen erhoben, der von den Arbeiterinnen so umstellt ist, daß er weder vor- noch rückwärts gelangen kann. Alle Schelte und Schimpfe, die das arme Weib dem reichen, das häßliche dem schönen zuschreien kann, fliegen um Sigunde, die mageren Fäuste strecken sich drohend in das offene Gefährt, im nächsten Augenblick wird sie die Beute der wütenden Weiber sein.

Wen haßt man in Reifenwerd mehr, als die üppige, hochfahrende Schwester des Fabrikherrn!

Da verbreitet sich der Ruf: »Der Pfarrer kommt, der Pfarrer!« Mit einem Schlag hat der Wagen der stolzen Frau freien Weg, die wüsten Schreierinnen aber jubeln wie Kinder: »Der Pfarrer! Jetzt hat der Streik bald ein Ende. Wir gelangen wieder zu Arbeit und Brot!« Sein bloßes Erscheinen hebt den Alpdruck, der auf den Verzweifelten lastet.

Sigunde, die frei aufatmet, bemerkt mit maßlosem Erstaunen, welche Macht Felix Notvest über die Gemüter und die wildesten Leidenschaften des Volkes übt.

Sie nickt dem Vorüberschreitenden zu, und ein leises Lächeln der Dankbarkeit schwebt um ihren schwellenden Mund.

Sie kann ohne die kleinste Anfechtung durch die Menge der Streikenden, die sich zerstreuen, zu ihrem Bruder fahren.

Hinter Sigunde her tritt Felix Notvest in das Schlößchen Reifenloh. In einem Vorzimmer wartend, hört er den heftigen Wortwechsel zwischen dem Obersten und Sigunde: »Warum sollte ich mir den Streik nicht ansehen dürfen,« spricht sie, »in dem Unglück, das Fredy Cella betroffen hat, brauche ich Zerstreuung.« Der Oberst aber flucht und wettert: »Du bist das leichtsinnigste Weib der Welt. Du hast dich nie vor Gästen schützen können, die alles, was sich in der Villa Venedig an Lustbarkeiten ereignet, haarklein dem ›Tambour‹ erzählten. Jetzt tauchst du im unglückseligsten Augenblick hier auf. Jedermann wird darin eine strafbare Aufreizung der Streiker erblicken. Den Schaden habe ich. Hätten dich die Weiber nur geschüttelt, du Wahnsinnige!« Heller Kampf ist zwischen den Geschwistern.

Endlich wird Felix Notvest gerufen. Da geschieht das Unerwartete.

Wie Oberst Fürst gegen jeden Vermittelungsversuch glashart bleibt, gesellt sich Sigunde als Mitkämpferin zu ihm! »Bruder Oberst, ich will es! Die halbe Fabrik ist mein. Ich ziehe meine Kapitalien zurück, wenn du halsstarrig bleibst.« Wie eine Gebieterin herrscht das schöne gereizte Weib den Bruder an. »Die armen Leute sollen nicht verhungern. Wenn du nicht willst, so verteile ich selber Geld unter sie.«

Der Oberst schweigt schäumend vor Wut, aber sie droht zu gehen.

»Ich glaube, nicht Fredy Cella, sondern du bist irrsinnig geworden,« keucht Fürst, »ich wünsche dir viel Glück zu deiner Reise nach Italien!«

»Eben, ich möchte mit der Erinnerung an eine gute That scheiden, es ist etwas für mein trauriges Herz!«

»Chamäleon einst, Chamäleon jetzt,« höhnt der Oberst, »Herr Pfarrer, Frau Hohspang möchte sich bei Ihnen wieder zu Ehren bringen.« Felix Notvest ist von dem Benehmen Sigundes verwirrt. Ihm ist, er dürfe sich dieser Hilfe nicht freuen, es lauere eine Bosheit dahinter. Aber sie bleibt stark. Der Oberst muß verhandeln. Im Schweiße ihres Angesichtes ringen die beiden Männer, der Fabrikant sich in den Rauch seiner schweren Zigarre hüllend. Es ist wenig genug, was Felix Notvest an Zugeständnissen für die Streikenden gewinnt, doch für die meisten wieder Arbeit und Brot, nur diejenigen, die der Oberst auf der »schwarzen Liste« führt, bleiben ausgesperrt. Wie Felix Notvest nach einer Stunde von seinem Widersacher geht, lehnt am Fenster des Vorzimmers Sigunde. »Ich danke Ihnen, daß Sie sich der Unglücklichen erbarmt haben!« grüßt er kühl.

Da errötet sie mit einem zauberischen Lächeln wie ein Kind.

»Ich vermesse mich nicht zu dem Glauben, Herr Pfarrer, daß ich damit Ihre Verzeihung erlangt habe,« flüstert sie mit gesenktem Haupt. »Was ich that, geschah auch nicht Ihnen zu lieb, sondern meinem Bruder zu leide, ich habe aber eine aufrichtige Bewunderung für Sie. Kein Jüngling mehr und doch noch Illusionen für andere! Das erquickt.«

Der Blick der grauen Augen hängt verlangend und bewundernd an ihm, ihre Lippen sind durstig geöffnet.

Allein Felix Notvest geht. Erwartungsvoll empfangen ihn die Streikenden, dann beraten die Führer über die Zugeständnisse des Obersten hin und her, endlich fällt unter dem Druck der Umstände und unter den stehenden Bitten der Frauen der Entscheid: »Zufrieden sind wir zwar nicht, aber wir nehmen morgen um sechs Uhr die Arbeit wieder auf.« Dazwischen gellt der Ruf des jungen Arbeiters, mit dem intelligenten, doch verwegenen Gesicht:

»Wenn der Pfarrer ernsthaft gewollt hätte, so hätte er auch die Ausgesperrten wieder ins Geschäft gebracht. Er selber hat es uns nicht zu gut bereiten wollen!« Der einzelne Ruf verhallt in dem freudigen Gemurmel Hunderter von Stimmen:

»Gott sei Dank! Auf einen Streik lassen wir uns nie mehr ein!«

Das Land hat nicht umsonst auf Felix Notvest gebaut. Die Regierung wird heute aufatmen.

Durch den goldenen Maienabend fährt Sigunde nach der Stadt. Sie hat ihr Gemüt etwas erleichtert, sie hat sich wieder als die große Lebenskünstlerin erwiesen, für die sie in ihren Kreisen gilt und gelten will. Die Begegnung im Schlößchen Reifenloh, die sie hell und fröhlich anmutet, hat rasch einen dunklen Punkt ihres Lebens bedeckt. »Fredy Cella!« seufzt sie tief. In den Zeitungsberichten über den Untergang des Künstlers ist nämlich ein kleiner Irrtum. Freilich hat Fredy Cella seine Ankunft im voraus gemeldet. Er mußte aber das Thor geschlossen, das Läutwerk abgestellt, die Villa dunkel finden. Das war die Strafe, die sie ihm auf eine kleine Untreue gesetzt hatte. Daß er aber in den See waten und irrsinnig werden sollte, nein, da ist ihr Gewissen rein!

Nur eins! Nie, nie will sie Fredy wiedersehen! Es überrieselt sie, wenn sie an den Abschied von ihm denkt, an seine dämonische Musik, sie erschauert im linden Abend. In Italien wird sie ihres berühmten Freundes, mit dem sie so wundervolle Nächte verschwelgt hat, in Wehmut gedenken, seiner thörichten, glühenden Liebe stille Thränen nachweinen. Nur nicht wieder in sein zerstörtes Angesicht blicken.

Sie wendet sich zu erfreulicheren Gedanken. Es war doch hübsch, daß sie Felix Notvest einen kleinen Dienst hat erweisen können. Der Bruder hat vielleicht recht: Sie will sich bei ihm wieder zu Ehren bringen.

Was könnte sie für Felix Notvest, der aus ihrer Schuld weiß geworden ist, alles thun – selbst eine Abtei bauen!

Sie träumt und seufzt.


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