J. C. Heer
Felix Notvest
J. C. Heer

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VIII.

Gelähmt und gebrochen sitzt der alte Kleinfabrikant im Lehnstuhl und läßt die halbverknöcherten Hände auf der gestreiften Wolldecke ruhen, die seine Kniee umhüllt, aber aus dem klugen Gesicht spricht doch noch etwas von der ehemaligen Kraft des Mannes, der sich aus eigenem Können zum Besitzer einer Werkstätte und zum Meister einer kleinen Arbeiterschar aufgeschwungen hat. Reglos ruht er im wallenden weißen Bart, und manchmal läßt er das eine Lid müde sinken.

Jetzt richtet er die tiefliegenden Augen, deren Blick hie und da ein wenig verschwimmt, voll auf Sigunde.

»Deine Verlobung mit dem Herrn Pfarrer ist dein erster glücklicher Streich, mein Sorgenkind. Wenn du deinen Verlobten nur auch in Ehren hältst!« mahnt er mit väterlichem Nachdruck.

Und dann wendet er sich an Felix Notvest.

»Sei meiner Sigunde ein nachsichtiger Freund! Sie ist ein von seinen Launen hin und her getriebenes, den Eingebungen des Augenblicks folgendes Kind, ein Wesen mit glücklichen Anlagen, das alles hätte lernen können, leider aber doch nichts gelernt hat, weil seine Einbildungskraft zu groß, die Willensfestigkeit zu klein ist. Felix, nütze die Stunde, wo sie ihr besseres Selbst sucht, ja recht gut aus!«

Der Großrat liebt es, mit dem jungen Pfarrer über seine Kinder zu plaudern, und wenn er den Namen Ruedis nennt, umfliegt seinen Mund manchmal ein Lächeln väterlichen Stolzes. »Er weiß genau, was er will, er kommt schon an sein Ziel.« Dann fährt er mit veränderter Miene und Stimme fort: »Nur die Heirat mit der Fremden will mir nicht in den Kopf. Sie trennt ihn vom eigenen Volke ab, und dann ist er nur Fabrikant, nichts als Fabrikant. Darum würde ich gern sehen, wenn er jetzt Großrat werden könnte, das würde ein Band zwischen ihm und dem Volke.«

David Fürst läßt die Augenlider sinken, bis er nach einer Weile wieder zu sprechen beginnt: »Es thut mir herzlich leid, Felix, daß Ruedi aus Furcht vor Scherereien die Antiquitäten der Abtei so voreilig durch einen Vertrag dem italienischen Händler zugesichert hat; es wäre mir eine große Freude, wenn ich jetzt sagen könnte: Da, mein Lieber, was im Kloster nicht niet- und nagelfest ist, gehört dir. Doch ist es zu spät. Trage es Ruedi nicht zu stark nach!«

Felix Notvest beißt sich auf die Lippen, er denkt an seine Eingabe, und das unheimliche Schweigen, das sich über diese Angelegenheit breitet, fällt ihm schwer auf die Seele.

Zweimal schon war Sigunde in der Stadt. Hat sie mit dem Regierungspräsidenten gesprochen? Sie sagt nichts davon, und aus Zartgefühl will er sie nicht fragen.

Ueber alle die Dinge, die ihn bedrücken, hilft ihm seine reine, große Liebe hinweg. Was hat es auf sich, daß die Dekanin wegen der Verlobung das Pfarrhaus zu verlassen und in die Stadt überzusiedeln droht und die Häupter der Kirchenpflege bedenklich die Köpfe dazu schütteln? Er selber bleibt ja nicht mehr lange in Reifenwerd!

Ströme sonnigen Lebens gehen von Sigunde aus, und eine besondere Freude ist für Felix Notvest die Einführung seiner Verlobten in das Elternhaus, das alte Patrizierhaus am grünklaren Fluß, der aus einem anmutigen See wallend an den Grundfesten der behäbigen Stadt vorüberzieht.

Sie fahren über die Steige, sie treten in den geräumigen, mit Steinplättchen belegten, mit Barockstuccaturen ausgeschmückten Flur, der den Besucher mit den Bildern würdevoller Pfarrer und Gelehrter in Halskrause und Barett und mit den Porträts sanfter, geistreicher Frauen empfängt, welche an die ehrenvollen Ueberlieferungen des Geschlechtes der Notvest erinnern.

Dem jungen Paare wandelt feierlich ein altes entgegen, und Sigunde, die ein ebenso einfaches wie vornehmes Kleid trägt, das ihre jugendlich vollen Formen entzückend zur Geltung bringt, neigt den stolzen Blondkopf vor den Eltern Felix Notvests.

»Gesegnet sei dein Eingang, Auserwählte unseres Sohnes!« spricht der Antistes mit feinem Lächeln, lüftet zum Gruß das Sammetmützchen auf den weißen, spärlichen Locken und zieht Sigunde an seine Brust. Die Mutter, ein zartes Frauenbild in schwarzseidenem Kleid, das weiße Häubchen auf dem schlicht gescheitelten Haupt, küßt die Stirne Sigundens und wendet die gütigen Augen, die lichten Frieden verbreiten, zu ihrem Sohne: »Ich danke dem Herrn, der meine Gebete erhört hat. Du hast gut gewählt, Felix!« Zustimmmende Mutterfreude schwebt auf dem von hundert feinen Fältchen durchzogenen, doch wie von einem letzten Schein der Jugend rosig überhauchten Gesichte der würdigen Frau. Felix Notvest aber ist von Sigunde entzückt, wie anmutig und ungezwungen sie auf den ruhevollen, schlicht vornehmen, von kindlicher Frömmigkeit durchbebten Ton des Elternhauses eingeht und die frohe Laune des Herrn Antistes anzuregen weiß.

Was für eine ehrfurchtgebietende Erscheinung ist der greise Vorsteher der Landeskirche!

Wie eine Patriarchen-, wie eine Prophetengestalt, wie ein Führer aus der großen Zeit der Glaubenskämpfe, ragt der hohe Mann, in dem sich das Wesen des Predigers mit reicher klassischer Bildung und leisem Humor verbindet, in die Gegenwart. Scheint auch die große, schmale Adlernase auf eine Kämpfernatur zu deuten, giebt sie im Zusammenspiel mit den klugen, milden Augen und dem menschenfreundlichen Ausdruck der Züge doch nur das Bild geistvoller Ueberlegenheit.

Der eigene Sohn sogar spürt eine Art Befangenheit vor dem hochverehrten Manne, der jetzt mit Sigunde die Gemächer des Hauses durchwandelt und den nußbaumenen, geschnitzten Schränken die mannigfachen Reliquien, die sich im Laufe der Zeit und der Geschlechter im Hause gehäuft haben, entnimmt. Es sind Geschenke, die Religionsflüchtlinge aus deutschen Landen, aus England und Frankreich, welche bei den Vorfahren Zuflucht und Heimstätte gefunden, in dankbarem Sinne zurückgelassen oder in besseren Zeiten aus der wiedergewonnenen Heimat als Gruß gesandt haben, und allerlei Andenken von führenden Geistern der Litteratur, die auf ihren Reisen Gastfreundschaft in der Familie der Notvest genossen haben.

An jeden Gegenstand, Ring, Becher, Haarlocke oder silberbeschlagenes Buch, Pastellbildchen oder Silhouette, knüpft der Antistes eine artige Geschichte, und ebenso artig widmet Sigunde dem Gespräch und den Dingen, die ihrem Erfahrungskreis doch ferne liegen, leuchtenden Auges ihre Aufmerksamkeit.

Der Antistes ist entzückt von ihr, wie seine Gattin.

Das Tischgespräch fügt es, daß der alte Herr auch auf das öffentliche Leben zu sprechen kommt. Dabei läßt er eine leise Mißbilligung durchklingen, daß sich infolge der allgemeinen Aufklärung des Volkes die Achtung vor den hohen Behörden verringert, der kirchliche Sinn ab- und der weltliche zugenommen habe, und man spürt es dem Vorsteher der Landeskirche wohl an, wie ihm bei aller Milde des Geistes die Neuerer ein Greuel sind.

Die feinsinnige Mutter aber lenkt das Gespräch in den häuslichen Kreis zurück. Mit ebenso inniger wie natürlicher Frömmigkeit erzählt sie Sigunde, wie freundlich Gott ihren würdigen Gemahl und sie durch eine glückliche Ehe der sich nahenden goldenen Hochzeit entgegengeführt habe.

»Und nachdem wir schon nicht mehr auf die Erfüllung unseres zwanzigjährigen Gebetes hoffen durften, segnete uns der Herr und schenkte uns unseren Felix, unser liebes einziges Kind!« lächelt die Greisin voll Mutterglück. »Wir haben ihn nun freilich wieder ziehen lassen müssen,« fügt sie nachdenklich bei, »das Haus ist einsam und wir haben den Plan gefaßt, zu Gottes Wohlgefallen und unserer Freude irgend ein armes, aber braves und begabtes Mädchen bei uns als Tochter aufzunehmen, damit sich das stille Heim wieder mit dem Sonnenschein der Jugend belebe.«

»Christli!« ruft eine Stimme in Felix Notvest, und das Blut schießt ihm in die Wangen.

Die Augen Sigundens aber hangen groß und bittend an der Antistin.

»Lassen Sie mich Ihre Tochter sein und Ihre Liebe mit niemand als mit Felix teilen!«

Die Mutter lächelt: »Ja, nun hebt Ihr gesegneter Eintritt in unseren Kreis die Absicht auf, deren Verwirklichung uns vielleicht Unruhe gebracht hätte.«

Sigunde küßt die Hand der gütigen Frau. Das Glück der Eltern ist vollständig, der junge Pfarrer gerührt von der kindlichen Hingebung Sigundens, die lächelnd auf den Teppich niederkniet und dem Antistes die Nachmittagspfeife anzündet.

Später spielt der Herr Antistes, der ein feinsinniger Liebhaber und Kenner der klassischen Musik ist, die Hausorgel, und in weihevoller Freude vergehen die Stunden, ein hochbeglücktes junges Paar kehrt am Abend von nicht minder beglückten alten Eltern nach Reifenwerd zurück.


Der folgende Sonntag aber bringt die Entscheidung über das künftige Schicksal der Abtei.

Zum letztenmal schauen die lichtgesättigten Spitzbogenfenster der Klosterkirche, die auf so viel Sturm und Drang niedergesehen haben, auf eine Gemeindeversammlung der Bauern von Reifenwerd. Sie sind Zeugen eines heftigen Tagens. Die Parteien der »Leinenen«, die mit dem Kommandanten gehen, und der »Baumwollenen«, die sich um Karl Wehrli scharen, sind fast gleich stark; davon, daß Rudolf Fürst Großrat werde, ist keine Rede, und er selbst muß, um sich wenigstens die Abtei zu gewinnen, die höchste Selbstüberwindung üben, die es im politischen Leben geben kann.

Mit bleichem Gesichte erhebt sich der stattliche Mann und spricht in seinem gequetschten Deutsch: »Man hat mir nachgesagt, daß ich nach der Großratwürde strebe, dem ist aber nicht so, und ich schlage Hans Ulrich Stockar, den Kommandanten, als Mitglied des Großen Rates vor, damit er die Vorteile des Bauernstandes, die einige allzu Ängstliche durch meine Pläne gefährdet glauben, in der Behörde wahren kann. Ich hoffe, durch diesen Vorschlag eine friedliche Abtretung der Abtei zu erleichtern!«

Wie viel Mühe dieser Schachzug den jungen, ehrgeizigen Mann gekostet haben mag! Den Schweiß von der Stirne wischend, setzt er sich.

Die Erklärung überrascht, die einen finden sie edel, andere flüstern: »Er ist ein Fuchs!« doch genehmigt jetzt die Gemeinde, die fast einstimmig den Kommandanten zum Mitglied des Großen Rats gewählt hat, mit einer kleinen Mehrheit die Abtretung ihrer Abteirechte an Rudolf Fürst.

Der Beschluß übt einen gewaltigen Eindruck auf die Bauern.

Der neugewählte Großrat ruft in zorniger Entrüstung: »So, jetzt könnt ihr mit den Glocken Rudolf Fürsts dem freien Bauernstand ins Grab läuten. Wehe Reifenwerd!« Der Ruf vermehrt die Verwirrung.

Manche schauen sich noch einmal in dem alten, ehrwürdigen Gotteshause um, in dem ihre Voreltern, Eltern, sie und ihre Kinder zur Taufe gebracht und als Konfirmanden eingesegnet worden sind, wo sie mit ihren Frauen am Altar gestanden und so manchem Freund ihrer Jugend das Lebewohl ins dunkle Jenseits entboten haben. Dem dickköpfigen, gebeugten Säckelmeister laufen die Thränen über die Wangen, andere flüchten sich rasch über die Brücke ins Dorf hinüber, als scheuten sie von jetzt an die geweihte Stätte, die sie verraten haben.

Der Wein muß helfen, die Entscheidung in ein rosiges Licht zu stellen.

Der »Hirschen« füllt sich mit Gästen.

»Es ist gut gegangen,« spricht Jakob, der starke, breitschulterige Sohn des Hirschenwirts, und muntert die Leute zum Trinken auf.

»Wenn's einmal ans Sterben kommt,« lacht der Schleifer Keller, die blaue Weinnase schneuzend, »schlafe ich doch lieber, wo es nach Rebenblüte duftet, als an der Reif, wo es nach Fischen riecht!«

»Ich habe auch für die Fabrik gestimmt,« brummt Ludi Immergrün, der Bauer mit den Ringellocken, der den Kopf stets auf die Seite legt, und stellt das Weinglas fest auf den Tisch, »das gewaltthätige Donnern und Wüten des Kommandanten hat mich geärgert! Was, wir oder unsere Kinder in die Fabrik? Mein Diethelm, meine Kathri? Zwischen uns und Rudolf Fürst ist die Reif! Uns kann es gleichgültig sein, was er drüben treibt!«

Von Herzen glücklich über den Ausgang der Gemeindeversammlung ist niemand, am wenigsten Rudolf Fürst.

Mit finsterer Stirne steht der junge Fabrikant neben seinem Vater, dem im Lehnstuhl sitzenden Großrat, und hält die Hand auf das Fenstergesimse gestemmt. »Ich bin also deinem Rat gefolgt und habe im voraus auf die Wahl verzichtet und, wie man sagt, den bösen Hunden Brot vorgeworfen, aber an diese Stunde werde ich, wenn in Zukunft ein Reifenwerder von mir einen Gefallen wünscht, denken. Das Dorf soll es spüren, daß es mir die Ehre der Großratswahl nicht hat anthun mögen! Ich hoffe nur, daß die starrköpfigen Bauern, wie es der Kommandant prophezeit hat, in meine Gewalt kommen. Und wenn sie am Thor der Abtei um Arbeit bettelnd stehen, dann ist das Lachen an mir: Tretet ein ihr stolzen Herren von Reifenwerd!«

Ein finsteres Lächeln spielt um die Lippen des jungen Mannes.

»Ruedi, Ruedi,« stöhnt der Alte, sich mühsam im Lehnstuhl aufrichtend, »trenne dich nicht von der Heimat, von dem Volke! Wer das thut, ist ein armer Mann, und wenn ich dich so reden höre, brennt mich die Reue, daß ich aus Liebe zu dir die Abtei nicht habe Lehrerseminar werden lassen. Ruedi, lieber Ruedi, um das Andenken deines Vaters willen werde nicht der Fluch von Reifenwerd!«

Der junge Mann aber schweigt, und sein Blick geht am sorgenvollen, bebenden Haupt des Vaters vorbei auf die Mauern der Abtei.

»Am Montag über acht Tage kommt die Genehmigung der Verträge vor den Großen Rat,« sagt er ableitend, »am Dienstag rücken die Bauleute ein. Es geht jetzt rasch, Fabrik, Kirche, Villa, das wird alles zu gleicher Zeit in Angriff genommen, anders, als wenn sich ein Reifenwerder drei Jahre überlegt, ob er ein Lusthäuschen in seinem Weinberg erbauen will oder nicht!«

Ueber diesem Gedanken erhellt sich sein Gesicht.

»Ich möchte jetzt an Kitty schreiben.«

Mit einer raschen Bewegung löst er sich aus der Gesellschaft des mahnenden Vaters. Der einsame, alte Mann aber seufzt: »Es ist gut, daß ich die großen Veränderungen nicht mehr erlebe!«

Da treten Felix und Sigunde, aus dem Kreuzgang kommend, in das Zimmer. »Wie seltsam der Atem des Vaters geht,« flüstert sie erschrocken. Sie horchen angstvoll. David Fürst, der die Hände auf der Wolldecke liegen hat, röchelt, er schlägt noch einmal, als wäre er über irgend etwas Fremdes erstaunt, die Augen auf und flüstert: »Ruedi –«. Ihm fehlt aber die Kraft, weiter zu sprechen, und er neigt das Haupt zur Linken.

Die Schauer des Todes beben durch das Gemach.

Der Leiter patriarchalischer Kleinindustrie ist dahin, der junge, willensstärke Führer der Großindustrie hat freie Hand, offenen Weg, und als Ziel winkt eine Million.


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