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Frühling! Die Jugend des Dorfes eilt in der Abenddämmerung an die Reif, setzt brennende Kerzen auf Schindeln und Brettchen, läßt sie auf den Wellen tanzen und erfüllt die Straßen mit dem Ruf: »Sankt Fridolin?- Winter bachab!«
Wieviel drängendes Leben herrscht in Reifenwerd. Ueberall fleißige Bauersleute, Rudolf Fürst oder Oberst Fürst, wie er jetzt den militärischen Titel führt, vergrößert seine Werkstätten, welche die ehemalige Abtei bald ganz umschließen, Hunderte von fremden und einheimischen Arbeitern bauen die Eisenbahn, die hinter der Fabrik über die Reif setzt. In der gleichen Richtung wie die alte Landstraße, doch einige hundert Schritte von ihr getrennt, durchschneidet sie die Aecker und Felder der Reifenwerder, läuft zum Bürgerwald an der Steige und dringt dann durch das Thälchen eines der Reif zuströmenden Baches und einen längeren Tunnel in die Stadt. Die Bauern grollen der Fabrik, sie grollen der Bahn, mit noch mehr Sorge erfüllt sie ein anderer Vorgang.
Die wegen Schlägerei bestraften Bursche, die aus dem Gefängnis zurückgekehrt sind, leidet es um ihres Ehrenmakels willen nicht mehr im Dorf. »Amerika!« ist ihre Losung. Der eine zieht ledig, der andere mit einer wohlhabenden Bauerntochter, ein paar wandern mit Vater, Mutter und Geschwistern über die großen Wasser. Für die Häuser und Felder, die sie verlassen, fehlt es an bäuerlichen Käufern. »Wozu noch mehr Land erwerben?« fragen einander die Reifenwerder. »Neben der Fabrik, welche die Arbeitskräfte an sich zieht, finden wir die dienstbaren Hände nicht, die es bebauen.« Da fallen die Häuser und Felder der Auswanderer dem Obersten Fürst zu, der jede Gelegenheit nützt, um sein Besitztum in Reifenwerd zu vergrößern. Die Wohnungen vermietet er an seine Schreiber, Werkführer, Schlosser und Spinner, auf die Felder stellt er seine Vorratsschuppen, »Klein- Amerika,« wie die Bauern spottweise die stets wachsende Ansiedelung nennen, die jenseits der Reif um die Abtei entstanden ist, greift nach Alt-Reifenwerd hinüber.
Das erschreckt die Bauern wie der Sturz des Kommandanten. »Es geht ein fauler Wind durch unsere Gemeinde.«
»Ja, gewiß ein fauler Wind!« wendet sich der dickköpfige Säckelmeister, dem die Arme immer tiefer hangen, an den Pfarrer. »Unsere Töchter geben jetzt ihre Hand den Schreibern und Angestellten des Obersten, diesen halben Herren. Da sind wir Bauern die guten Schwiegerväter, die Milch und Brot umsonst in die jungen Haushaltungen schenken. Schaut nur, was Ludi Immergrün seiner Kathri alles heimlich zustecken muß, damit ihr windiger Schreiber mit den engen Tuchhöschen anständig durch das Dorf gehen kann.«
Der Hirschenwirt mit dem Bäuchlein und den kleinen Zwinkeraugen, der bei den Plaudernden steht, kratzt sich im Haar.
Er hat seinem Sohne Jakob, der die Freiheitsstrafe verbüßt und jetzt in einer tüchtigen Wirtstochter eine herzige Frau gefunden hat, in einer ziemlich fernen Berggegend um spottbilligen Preis eine neue hübsche Fremdenpension gekauft, deren Besitzer an dem Bau verblutet ist. Nun quält ihn die heimliche Sorge, ob das Paar das Haus in Aufschwung zu bringen vermöge.
So wühlen überall im Dorfe die Sorgen, doch ist der Pfarrer gerade jetzt im Auftrag Karl Wehrlis, der ihm ein lieber Freund geworden ist, mit einer erfreulichen Aufgabe beschäftigt.
»Es ist mein Herzenswunsch,« schreibt Karl Wehrli, »daß der Name meines lieben Weibes, meiner unvergeßlichen, früh Heimgegangenen Lony, durch eine That des Segens im Gedächtnis der Heimat bleibe. Bewegt von der Erkenntnis, daß ich selber durch ein paar gute Bücher den Weg ins Leben, zu Glück und Ehre gefunden habe, bitte ich Dich, mein Felix, in Reifenwerd eine öffentliche und unentgeltliche Jugend- und Volksbibliothek einzurichten, die zu Ehren der geliebten Toten den Namen?Lony- Stiftung? führen und mit jährlichen Zuschüssen, für die ich sorge, vermehrt werden soll. Lasse darin die Lebensbilder großer Männer nicht fehlen.«
»Lony-Stiftung!« Was mag dabei der von der Höhe des bürgerlichen Lebens gestürzte Kommandant Stockar denken, der jetzt mit Frau Susanne als ein ungern Geduldeter im Hause seines Schwiegersohnes Franz Wohlgut wohnt?
Auch darüber plaudern die Männer.
»Mir würgt es die Brust, wenn ich ihn sehe,« keucht der Sackelmeister, »wie er so verloren durch die Aecker geht oder hinauf in die Reben schwankt, sich mit Barry unter eine Tanne setzt und den Tag verbrütet.«
»Ja, wenn dem Manne geholfen werden könnte!« versetzt der Pfarrer, »aber was hilft es, wenn ich Franz Wohlgut ins Gewissen rede? Er ist ein Mann ohne Ehre, der mit dem erschlichenen Vermögen an der Börse spielt. Das ist öffentliches Geheimnis, und die Kaufleute in der Stadt schütteln die Köpfe über den neumodigen Bauern von Reifenwerd, der großgestiefelt und gespornt in die Produktenhalle tritt und Geschäfte nach Tausenden von Franken abschließt.?- Armer Kommandant!«
Wie gern ihm der Pfarrer helfen würde!
Seit Felix Notvest seine Eltern verloren hat, seit Christli am entsetzlichsten Tag ihres Lebens von ihm geflohen ist, lebt er in einem heißen, oft über das Ziel schießenden Drange, das Unglück in der eigenen Brust mit Wohlthun zum Schweigen zu bringen, hohe Schatten mit Thaten unbegrenzter Güte zu versöhnen. Sein Glück und dasjenige Frau Wehrlis ist der letzte Satz aus Karls Brief:
»Ich spähe ins Vaterland,« schreibt er, »ob sich dort irgendwo eine günstige Gelegenheit für mich finde, Schöpfer einer großen Industrieanlage zu werden. Ja ich überlege es mir ernsthaft, ob ich nicht bald kommen, eine Weile ohne Geschäft mit meinem Buben das Land durchreisen und ihm dessen Schönheiten weisen soll. Der Plan zu einer großen Fabrik giebt sich dann vielleicht von selbst. Jedenfalls sei versichert, daß mein Bube mit dem ehrsamen Reifenwerder Namen Hans Ulrich dem guten Großmütterchen nicht als welscher Springinsfeld in die Arme eilt. Dafür sorgt seine ernste Erzieherin, Christli. Der lebhafte, mutwillige Bube hängt mit rührender Liebe an ihr. Sein Betteln hat sie dazu gebracht, dem Worte untreu zu werden, das sie sich selber geschworen hat. Sie, die nie wieder eine Violine berühren oder den Ton eines Instrumentes um sich dulden wollte, giebt ihm Unterricht in den Anfangsgründen des Geigenspiels. Das ist doch ein Zeugnis für die Heilkraft der Zeit. Felix mag die Hoffnung nicht fahren lassen.«
Der Pfarrer selbst beginnt zu hoffen und zu glauben. In schwebender Ferne sieht er das gelobte Land, in dem er und Christli im Frieden wandeln werden.
So bald kommen aber Karl Wehrli und Christli nicht.
Halb gezwungen und mit innerem Widerstreben schließt Karl Wehrli einen neuen Vertrag mit der Gesellschaft in Lyon ab, der er als technischer Direktor vorsteht.
»Und unser armes eigensinniges Christli findet allein den Heimweg nicht!« stöhnt Felix Notvest, von Sehnsucht überwältigt. »Ich vertrauere mein Leben im einsamen Pfarrhaus und meine Maililie verwelkt in fremdem Land!«
Die Zeit vergeht, es wird wieder Frühling und noch einmal Frühling; käme jetzt Christli, so könnten sie mit der Eisenbahn bis nach Reifenwerd fahren und im kleinen Bahnhof aussteigen, der sich nahe bei der Eisenbahnbrücke zwischen den Fruchtfeldern des Dorfes erhebt.
In der Stille, in der er jetzt lebt, erinnert sich Felix Notvest, daß seine Kindheit von einem kunstsinnigen Heim umgeben war. Haben die Stürme des Lebens die freundlichen Bilder des Elternhauses eine Weile bedeckt, so glänzen sie jetzt wieder hervor. Die neue Eisenbahn kommt seinen Kunststudien entgegen. Sie führt ihn häufig nach Rheinsee. Da vertieft er sich in die Sammlungen Lombardis, mit gereiftem Verständnis forscht er in den Reliquien der untergegangenen Abtei Reifenwerd. Manche schöne Abhandlung über ältere und neuere Kunst der Heimat reift im Frieden des Pfarrhauses zu würziger Frucht. Unauffällige Anerkennungen für die gründlichen und gediegenen Arbeiten fallen ihm zu, aber nicht aus dem Schoße seiner Partei, von seinen politischen Freunden, die zum Volke der nüchternen Nützlichkeitsmenschen gehören, sondern sie kommen aus jenen Kreisen der Stadt, die bei der großen Bewegung zu Robert Hohspang standen, aus dem alten Bürgerhaus mit seinen kunstfreundlichen Bildungsüberlieferungen, aus dem Stand reicher Großkaufleute, die auf ihren Reisen die Kunst der ausländischen Städte kennen und schätzen gelernt haben. Sein Name beginnt als der eines feinsinnigen Kunstkenners zu klingen.
Ja ihm ist, ein Frühlingslüftchen der Kunst wehe durch das eigene Land, dessen neue Verfassung er umsonst mit einem Satze zu gunsten der vaterländischen Kunst hat krönen wollen.
Die Kunst hat wenigstens eine hohe Freundin und Gönnerin, welche die schönen Denkmäler von Reifenwerd nicht weniger als er selber liebt. Es ist die Schützerin und Förderin alles Schönen, Sigunde Hohspang, das glückliche Weib.