J. C. Heer
Felix Notvest
J. C. Heer

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XXIV.

Judith hat sich nicht um das erlösende Geld an Lony gewandt. Dafür ist der Ökonom Franz Wohlgut seinem Ziele ein gutes Stück näher gekommen.

»Ich muß immer daran denken, wie ich dem Vater deine Verlobung mit Franz mitteile! Ich weiß nur nicht, soll ich ihm deine Angelegenheit so mundrecht machen, daß ich ihm Tag um Tag einen Tropfen gebe, oder mit einem Schlag das Ganze? Das ist nichts Leichtes, Judith! Gelt, von Lyon aber sagt er nichts mehr, die Phantasien habe ich ihm ausgetrieben.«

Einen Augenblick steht das Spinnrad der Frau Susanne still, das glatte Gesicht ist hell und die dunklen Augen brennen. »Eine gescheite Frau,« meint sie dann belehrend, »kann mit ihrer Liebe den stärksten Männerkopf brechen, aber es braucht Geduld, viel Selbstüberwindung und Sanftmut. So habe ich mich als junge Frau schon des Vaters angenommen, sonst wäre er nicht Kommandant, Großrat und der Erste im Dorf geworden. So halte es, Judith, mit Franz, und du wirst gewiß glücklich mit ihm!«

Die Wintersonne scheint freundlich in die Stube, die Spatzen sitzen vergnügt auf den dürren Zweigen des Fensterspaliers und spreizen das Gefieder, aber Judith seufzt vor ihrem schön geschnitzten Rad.

»Was dir nur fehlt, Kind?« fragt die Kommandantin, die das Werg der Kunkel wieder emsig durch die Finger gleiten laßt.

»Kein Vergnügen hat man mehr, nicht einmal eine Schlittenpartie!« erwidert Judith gedrückt. Vielleicht sagt sie es bloß, weil sie andere beklemmende Gedanken nicht verraten will.

»Mir gefällt es, daß der Vater jetzt wieder so viel zu Hause weilt,« versetzt Frau Susanne, »morgen hat er allerdings eine Sitzung in der Stadt, seit langer Zeit die erste wieder.«

Judiths Augen glänzen auf, sie holt das Zeitungsblatt. »Im Theater wird ›König Lear‹ gespielt. Das ist ein berühmtes Stück.«

»Wenn es nur etwas wie der ›Viehhändler aus Oberösterreich‹ wäre!« meint Frau Susanne, »bei dem hat der Vater so herzlich lachen können.«

»Jetzt hat er sich aber in den Kopf gesetzt, das Theater sei nicht für Bauersleute!« antwortet Judith kleinmütig.

»Ich will mit ihm sprechen,« versetzte die Kommandantin.

Wie er am Abend heimkommt, brummt der Kommandant schon ein wenig, daß Frau Susanne und Judith mit ihm ins Theater fahren wollen.

Allein der Aufenthalt im schneebehangenen Wald, das Fällen der mächtigen Tannen, der Imbiß am lodernden Feuer, die prickelnde Winterluft, der Gedanke an den schönen Erlös aus den Hölzern, haben sein Herz fröhlich gestimmt. Wie die Kommandantin über das gesunde Rot seiner Wangen scherzt, Judith dienstbeflissen zum Abendtrunke sieht, da knurrt er, ein Lächeln zerdrückend: »Gut, so wollen wir uns die Komödie ansehen, und du, Judith, machst dann vielleicht auch wieder ein anderes Gesicht, als wenn du Gott den Essig ausgetrunken hättest. – Was schrickst du so zusammen?« Kopfschüttelnd betrachtet er seine Tochter.

Der Bauernstolz fährt ins Theater.

Breit und behäbig sitzt der Kommandant im schwarzen Rock und Stehkragen, die schwere goldene Uhrkette sichtbar, das Urbild der Bauernwürde und Bauernwohlhabenheit, im Schauspiel, rechts neben ihm in dunklem Seidenstaat die Frau Großrätin, links die blühende Judith, welche das prächtige helle Kleid trägt, durch das sie in Schulden gekommen ist. Was schert es sie! Die heidelbeerdunklen Augen blitzen, sie schürzt das Mündchen vor Vergnügen und die Sorgen sind vergessen! Das Spiel ist im Gang, auf der Bühne erhebt sich der König zornbebend vom Thronsessel und ruft Cordelia zu: »Folg deinen Wegen ohn' unsre Lieb' und Gunst, ohn' unsern Segen!« Da stutzt der Kommandant, schwere Erinnerungen treiben ihm das Blut ins Gesicht. Er wendet keinen Blick vom Spiel, er schwitzt, und wie die harten Töchter Goneril und Regan den alten Vater vertreiben, da stöhnt er und murmelt: »Das sind zwei schlechte Weiber!« Er gebärdet sich so laut, daß sich einige Zuschauer verwundert nach dem alten, stolzen Bauersmann umsehen. Judith sitzt neben dem unruhig gewordenen Vater wie auf Kohlen, und die Frau Kommandantin schämt sich seiner. Wie der Vorhang fallt, sagt sie spitz: »Es ist ein dummes und übertriebenes Stück!« – »Es ist nicht so schön wie der ›Viehhändler aus Oberösterreich‹,« flüstert Judith, der Kommandant aber knurrt: »Es ist ein gescheites Stück!«

Das Spiel beginnt wieder. König Lear irrt in Sturm und Wetter auf der Heide. Da erhebt sich der Kommandant, ohne daß er es selbst weiß, von seinem Sitz, in grenzenloser Spannung begleitet er die Handlung, und wenn ihn die furchtbar verlegenen Frauen mit sanfter Gewalt niederziehen, steht er immer wieder auf. Umsonst flüstert ihm die Kommandantin zu: »Es ist ja nur eine Komödie!« umsonst entsteht um ihn ein Gemurmel von Frage und Antwort: »Was ist das für ein verrückter Bauersmann?« – »Bst! Es ist der Großrat von Reifenwerd, Kommandant Stockar!« Umsonst rufen die Zuschauer hinter ihm: »Setzen Sie sich doch!« – er spürt es nicht, wie er allgemeines peinliches Aufsehen erregt. Die Kommandantin ist blaß vor Ärger, Judith flennt und verläßt im Zwischenakt das Theater.

Die liebliche Cordelia erscheint wieder, »Dein Unglück, Vater, beugt mir ganz den Mut, sonst übertrotzt' ich wohl des Schicksals Wut.« Da stöhnt der Kommandant: »Lony – Lony! –« Er stöhnt es so laut, daß man es einige Reihen weit im Theater hört. Ein Diener mahnt ihn zur Ruhe. Wie aber der wahnsinnige König die erwürgte Cordelia auf seinen Armen bringt und zärtlich in die Klage ausbricht: »Tot, mein armes Närrchen?« da schreit der Kommandant: »Das ist falsch – gottlob im Himmel, meine Lony lebt!«

Eine ungeheure Aufregung entsteht, viele glauben, der Großrat von Reifenwerd sei plötzlich irrsinnig geworden, man will ihm Hilfe bringen, er aber knurrt: »Laßt mich, so klar im Kopf wie heute war ich noch nie!«

Eine schreckliche, stumme Schlittenfahrt nach Reifenwerd! Die Kommandantin und Judith wagen nicht sich zu rühren, so heiß blitzt und wetterleuchtet es in den Augen des Kommandanten, der mit den Zähnen auf den Schnurrbart beißt und auf die Pferde einhaut.

»Geht zur Ruhe!« herrscht er beim Eintritt ins Haus Frau und Tochter an, »ich aber will thun, was ich wie ein Narr unterlassen habe – bei Gott im Himmel, ich werde kein König Lear!«

Er rollt drohend die grauen Augen, und wortlos gehen die beiden Frauen.

In der Nacht schreibt er Lony einen schönen, von Liebe überquellenden Brief. »Ich will nicht schlechter sein, meine Lony, als der alte Franzose und komme selber nach Lyon!«

Seit vielen Jahren ist dem Kommandanten nie so wohl gewesen wie an dem grimmigen, in roten Rauch gehüllten Wintermorgen, an dem er zum Pfarrer geht und nach der Adresse Direktor Wehrlis fragt. »Der Brief kommt nicht zu früh,« sagt Felix Notvest sorgenvoll, »wenn er nur nicht zu spät kommt, wenn Lony darüber nur aus dem Heimweh genesen und ihren Kindern Hans Ulrich und Lony eine kraftvolle Mutter sein mag. Ob sie aber genesen kann, steht bei Gott. Ein eben eingetroffener kurzer Brief Karls ist sehr ernst.«

Der Kommandant ist aus allen Himmeln gestürzt. »Sie muß genesen! Sie muß!« ruft er und eilt auf die Post.

Nein, so etwas Wahnsinniges wie den Tod Lonys läßt Gott im Himmel nicht zu!

Zu Hause trifft er Judith, deren Augen bläulich unterlaufen sind.

»Judith, du siehst auch aus, als wäre der Zorn Gottes über dich gefahren!« fährt er sie grimmig an. »Du bist gar kein frisches Mädchen mehr, sondern bald eine Vogelscheuche. Du bist auf dem besten Weg, eine alte Jungfer zu werden. Das kommt von deinem unerträglichen Hochmut. Die Bursche haben dir den Hof gemacht, früher, meine ich; jetzt kommt ja keiner mehr. Wie viele sind es eigentlich gewesen, sechs oder sieben? Stets aber, wenn man geglaubt hat: Jetzt ist ein Schwiegersohn da! so sind sie weggeblieben, zuletzt auch der reiche Müllerssohn und der Leutnant, den du im Bade kennen gelernt hast. Was für eine Schande! Man hat einen Stall voll auserlesenen Viehs, die schönsten Felder, die bestgelegenen Weinberge, einen rauschenden Wald. Aber die Tochter, die nicht weiß, wie hoch sie thun will im Luxus, findet keinen Mann! Ich möchte jetzt doch erfahren, wie ich im Alter zu stehen komme!«

Bei den donnernden Worten des Vaters laufen Judith die Thränen des Elends und der Wut über die Wangen, aber sie spricht nicht. Jetzt ist, von den lauten Worten des Vaters hergelockt, die Mutter da.

»Mein Leben lang gehe ich mit dir nicht mehr ins Theater, Hans Ulrich!« beginnt sie tadelnd. »Wer hätte geahnt, daß du über dem Stück so allen Bedacht verlieren würdest!«

»Ich aber danke euch, daß ihr mich hingeführt habt,« höhnt er grimmig, »da haben die Komödianten einem alten Narren das Licht gut vor die Nase gesteckt.«

»Wenn du sagst, die Judith würde eine alte Jungfer, so bist du wirklich ein Narr!« lacht Frau Susanne kalt. »Hast du jetzt noch nicht gemerkt, Hans Ulrich, daß es bei Judith eine große Aenderung giebt?«

Er schielt nach der Tochter, die weinend abseits steht, und kann seine Neugier nicht verhehlen. »Was soll ich gemerkt haben?« knirscht er.

»Ich bin zuerst auch erschrocken darüber!« versetzt Frau Susanne sanftmütig.

»Worüber?« keucht er.

»Sie hat sich mit Franz Wohlgut versprochen.«

Da taumelt der Kommandant wie ein Berauschter auf. »Ihr Nattern, ihr Schlangen! Da würde ich wahrhaft der närrische König! Das giebt ein schönes Neujahr! Holt mir einmal den Franz Wohlgut, daß ich ihm ins Gesicht lache. Gott im ewigen Himmel! Seit wann findet sie denn die Narbe des Lumpen schön?«

Da wendet sich Judith wie eine Rasende gegen den Vater. »Franz ist kein Lump!« schreit sie mit verzerrtem Gesicht. »Kränke ihn nicht! Sonst – –«

»Doch, doch, der ist ein Lump – er ist ein Erbschleicher!«

Judith stürzt zu Füßen des Vaters und rauft sich das Haar. »Vater,« schreit sie verzweifelt, »wenn Franz mich nicht nimmt, muß ich in die Reif springen. – Mache mich nicht elender, als du die Lony gemacht hast!« Sie windet sich vor seinen Füßen. »Geh zum Pfarrer,« winselt sie, »und bestelle das Aufgebot!«

»Ja, steht es so?« gellt die Stimme der Frau Susanne, welche starr die Hände ringt. »Gott, das wußte ich nicht.« Der Kommandant ist kreidebleich, er schwankt wie ein zitterndes Rohr, er sinkt auf einen Stuhl und legt die Arme, die schwer wie Blei sind, auf den Tisch.

Es ist eine unheimliche Stille zwischen den drei Menschen.

Zuerst findet die Kommandantin die Sprache wieder: »Franz ist wenigstens redlich, tüchtig und geschickt. Wir werden uns drein fügen müssen!« lenkt sie ein.

Der Kommandant antwortet nicht, mit bebender Hand beginnt er Barry zu streicheln und sagt: »Barry, suche die Lony,« aber die Lippen unter dem grauen Schnurrbart zucken, daß er fast nicht sprechen kann. Der Hund rennt in der Stube hin und her, schnuppert und bellt. Es ist ein Spiel, das ihm sein Herr schon lange im Heimlichen beigebracht hat! Er streichelt den Hund wieder, dann fragt er wie nebensächlich: »Ist Franz im Wald?«

»Ja,« wimmert Judith, »Vater, was willst du?«

»Ich will ihm sagen,« antwortet der Kommandant in unheimlicher Ruhe, »du kannst die Judith, die mißratene, gefallene Hochmutsfratze haben, und die Mutter, die sie erzogen hat, auch. Ich verkaufe mein Heimwesen, und aus dem Erlös gebe ich ihm ein schönes Draufgeld. Und wenn ich das Heimwesen verkauft habe, so suche ich für mich und Barry in Lyon ein ruhiges Plätzchen und lebe bei der Lony und ihren Kindern.«

Eine wilde Flamme schießt aus den Augen Judiths. »Das Haus, Vater, und das Heimwesen mußt du vor der Hochzeit Franz abtreten, das ist seine Bedingung. Sonst geht er und nimmt mich nicht. Ich muß dir doch alles sagen! Er ist halt stolz, er will nicht von der Laune seines Schwiegervaters abhängen!«

»Sprich nur zu!« würgt der Kommandant hervor, »meine liebe Judith, du redest wie ein Engel!«

»Dann können du und die Mutter bei uns wohnen, und Franz sagt, er werde gegen euch anständig sein!«

Die blauen Augen des Kommandanten sind aus den Höhlen gequollen, sein Gesicht ist schrecklich.

»Jene Verena, die ihrem Vater saure Milch vorsetzte, ist im Schnee umgekommen. Was du deinem Vater vorsetzest, ist aber mehr als saure Milch! – Was sagst denn du dazu, Frau, daß die Judith solche Reden über die Lippen gehen läßt?«

»Du, Hans Ulrich, hast sie erzogen, nicht ich. Wer hat sie stets in die Stadt mitgenommen und ihr dort vom Männer- und Weibervolk schmeicheln lassen?« heult Frau Susanne.

Das trifft. »Luft! – Luft!« Der Kommandant reißt am Hemdkragen und steht auf.

Ruhelos jagt der Großrat Stockar in diesen Tagen mit dem Schlitten durchs Land. Er sucht einen Käufer für sein Heimwesen, mit einem Schlag steht es in allen Blättern zum Verkauf ausgeschrieben, reiche Bauern und Bauerssöhne aus anderen Dörfern kehren im »Hirschen« an und sind neugierig und lüstern nach dem schönen Gut.

Franz Wohlgut ist nicht mehr im Haus.

In der Gemeinde ahnt man den Zusammenhang, des Raunens und Redens ist kein Ende. »Der Undank Judiths ist dem Kommandanten über den Verstand gegangen,« sprechen die einen, die anderen sagen: »Es giebt doch noch Zeichen und Wunder – er hat mit Lony Frieden gemacht!«

Frau Wehrli, der Pfarrer und Christli sind voll schöner Hoffnung, daß sie nun genesen möge.

»Ich habe einen Brief von Lony!« tritt der Kommandant eines Tages mit leuchtenden Augen ins Pfarrhaus.

»Und wir einen von Karl!« erwidert Frau Wehrli. »Lony ist genesen!«

»Ja, es ist manchmal auch ein Glück dabei, wenn ein alter Bauer ins Theater geht. Das war kein Thor, der den ›König Lear‹ geschrieben hat! Frau Wehrli, Ihr müßt Euch das Stück auch einmal ansehen.«

Wie der Kommandant herzlich plaudern mag.


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