Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Untersuchung in der Spinnerei Reifenwerd mußte eine Komödie sein und war eine Komödie, denn niemand aus der Gemeinde, der unparteiischen Aufschluß hätte geben können, wurde dazugezogen. Unter dem alten Thor begrüßte Rudolf Fürst die Kommission, und unterdessen hoben im rückliegenden Teil der Abtei die Angestellten die Kinder aus den Fenstern. Keines solle sich diesen Vormittag mehr blicken lassen!
Im Dorfe erhitzen sich die Gemüter, die gesamte Bauernschaft tritt für die Schulpflege ein, manche wohl aus Sorge für die armen, kleinen Spinner und Spinnerinnen, manche aus bloßem Haß gegen die Fabrik, die störend in ihr Bauernleben eingreift. Sie ist in Wirklichkeit doch anders, als die Reifenwerder es sich einbildeten, da sie ihre Rechte an die Abtei dahingaben. Das aus einheimischen und fremden Landesgegenden zusammengewürfelte Volk der Spinner Rudolf Fürsts, meist der Ueberschuß älterer Betriebe, bleibt nicht in seinen elenden Wohnungen jenseits der Reif. Am Sonntag, besonders an den Tanzsonntagen, drängen sich die Leute in den »Hirschen«, und ob sie auch den Bauern die Milch schuldig geblieben sind, tragen die Frauen und Mädchen doch schreiende Kleider und entschädigen sich die Männer für die Entbehrungen der Woche mit reichlichem Gutleben. Das ärgert die sparsamen Bauern. Nur einer reibt die Hände, der Hirschenwirt, der sich in seiner Schlauheit, so gut es geht, zwischen den Parteien durchschlängelt und sogar in manchen Dingen der Parteigänger Rudolf Fürsts ist.
»Sucht einmal eine kleine Magd,« knurrt Ludi Immergrün, der Bauer mit den Ringellocken, »wegen des bißchen baren Geldes schicken die armen Leute ihre Mädchen lieber in die Spinnerei, stundenweit aus den Dörfern laufen sie der Fabrik zu!«
»Mit den Knechten ist es noch schlimmer,« versetzt Hans Hegner, »da ärgert mich meiner gestern, den ich den Winter durch gefüttert habe – ein kurzer Wortwechsel – heute morgen meint er trotzig: ›Meister, es ist mir bei Euch verleidet, ich habe in der Abtei um Arbeit gefragt, in vierzehn Tagen trete ich aus!‹ Gotts Donnerwetter, wer hilft mir über den Sommer?«
So schimpfen und klagen die Bauern.
»Unser Pfarrer aber,« sprechen sie anerkennungsvoll, »der redet jetzt anders als damals, wo er noch voll Bücherstaub war. Er greift aus dem Leben, und da hat seine Rede Kraft und Saft!«
In der That! Mit gewaltigem Wort predigt und redet Felix Notvest von der Heiligkeit des Kindes, von der Bedeutung der Jugend als der künftigen Ehre und Wehre des Landes, und weiter, stets weiter führt ihn sein Eifer. Schutz nicht nur den jugendlichen Arbeitern, Schutz auch den schwachen Frauen und selbst den Männern!
Aus der Kirche von Reifenwerd fliegt der Funke über das Land, aus nahen und fernen Fabrikdörfern treffen Abordnungen in Reifenwerd ein, die den Gottesdienst besuchen und den Pfarrer bitten, daß er während der Woche in ihre Gemeinden komme und Vortrage gegen die verderbliche Kinder- und Frauenarbeit in den Fabriken halte, und Tag um Tag erhält Felix Notvest eine Menge Briefe voll freudiger Zustimmung zu seiner politischen Thätigkeit. Sie kommen von Männern, die, wie er, die Gebresten des Volkslebens erkennen, die ihm ihre thatkräftige Mithilfe anbieten, und dabei sind genug Leute von Bildung und Herzen. »Gottlob, ich bin nicht allein!« murmelt er innigst bewegt. Nein, im Ratsaal nötigt Kommandant Stockar, der aus Verachtung und Haß gegen alles, was Fabrik heißt, ein leidenschaftlicher Anhänger des Pfarrers ist, die Regierung mit seiner hagebuchenen Hartnäckigkeit zu einer Erklärung über die Untersuchung in der Spinnerei Rudolf Fürsts und Robert Hohspangs.
Da spricht der große Staatsmann das Wort: »Die Bewegung in Reifenwerd ist aus persönlicher Gehässigkeit gegen den Fabrikanten Rudolf Fürst entstanden. Die junge Industrie unseres Landes muß zuerst in Freiheit wachsen und erstarken, ehe sie beschränkende Bestimmungen erträgt. Die Regierung wird dem Treiben einiger unruhiger und überspannter Köpfe keine Einräumungen machen.«
Beifall bei den Männern des Rings, diejenigen aber, die an Felix Notvest hängen, antworten mit dem Ruf: »Sprengung des Regimentes Hohspang, Umsturz der Verfassung! Wir bedürfen einer neuen. Die gegenwärtige, die unsere Väter im Kampf gegen das Patriziat errungen haben, war vor dreißig Jahren wohl eine Schöpfung, auf die sie stolz sein durften. Die Landeswohlfahrt hat sich unter ihr ungemein gehoben. Wie aber dem Manne allmählich der Konfirmationsrock des Jünglings zu enge wird, so ist sie jetzt für die mannigfaltiger gewordenen Bedürfnisse des Volkes ein zu schmales Kleid.« Mit der Forderung des Pfarrers von Reifenwerd, daß namentlich der in den industriellen Betrieben beschäftigten Jugend der wirksame Schutz des Gesetzes zu teil werde, verknüpfen sie eine Fülle anderer Wünsche, darunter besonders den einen: »Abschaffung der lebenslänglichen Aemter!«
Felix Notvest sieht es: Was er zaghaft und schüchtern begonnen hat, ist wie die Flocke Schnee, die ein Sonnenstrahl an der Kante des Gebirges löst. Bald wird sie ein kleiner Ball, der stärker ins Rollen gerät, wächst und als donnernde Grundlawine die Weite des Landes erschüttert.
Mit schweren Schritten in seiner Stube auf und ab gehend murmelt er: »Und sie wollen, daß ich für so vielerlei, was nicht aus Eigenem stammt, wegen des Einen, das ich will, ihr Führer sei und für das Gesamte die Verantwortung trage.« Sorgenvoll überlegt er.
Ihm ist alles Umstürzen zuwider.
In sein tiefes Sinnen tönt vom Flur eine liebliche Stimme: »Gott grüße dich, Mutter!«
Über sein verdüstertes Gesicht stiegt ein Sonnenstrahl: »Christli!«
»Herr Pfarrer!« In hellem, schlichtem Sommerkleid steht sie vor ihm, errötend reicht sie ihm ihre schmale Kinderhand und hebt sie die dunklen Augen unter langen Wimpern zu ihm empor.
»Wie Frühling im Walde!« denkt Felix Notvest.
Sie kommt häufig nach Reifenwerd, Pfarrer und Dörfler sehen am Sonntag das gespannt horchende Mädchen gern in der Predigt, aber etwas schüchtern ist Christli geblieben, besonders schüchtern gegen ihn, und das Liebliche, Jauchzende ist nicht auf ihr Antlitz zurückgekehrt, das Innerste ihres Wesens ernst und tief.
Weich und duftig liegt ein sonniger Herbsttag über dem Lande.
»Wandern wir eine Stunde durch Gottes schöne Welt, Christli?« fragt der Pfarrer munter. Sie nickt mit scheuem Lächeln, das doch Glück bedeutet: »Ja, ich komme so selten in den lieben Wald!«
Die dunklen Tannen schlagen die Bogen über dem Paar, geheimnisvoll zieht und zirpt in den Kronen der Meisenschwarm. In den Lichtungen steht da und dort ein Ahorn oder eine Birke und leuchtet in der tiefen Sonnenruhe wie eine selige Flamme.
»Also, es geht meinen Eltern gut?« forscht Felix Notvest.
Betreten schweigt Christli einen Augenblick, erst auf seinen bittenden Blick erwidert es mit gesenkten Wimpern: »Es ginge ihnen gut, aber der Herr Antistes bereitet sich Ihretwegen so schwere Kümmernisse!«
Christli schießt das Blut in die Wangen und der Pfarrer wechselt die Farbe.
Mit bitterer Sorge sehen seine würdigen Eltern, die im alten, kunstreichen Haus am Strom nur mit Geistlichen und Gelehrten weltabgewendet verkehren, auf seinen Kampf für die armen Fabrikkinder. Sie wissen in ihrer Stille so wenig von der Not des Volkes! Und seit er sich von Sigunde getrennt hat, ist das unendliche Vertrauen, das sie in ihren Sohn gesetzt haben, etwas erschüttert. Das deckt alle Liebe, die sie für ihn hegen, nicht zu. Vorsichtig, in schmerzenreicher Güte hat ihn der Vater, der von Geistlichen aus dem Anhang des Regierungspräsidenten leise, doch nachhaltig zu der Mahnung gedrängt wird, aufgefordert, daß er seines Amtes in kirchlicherem Sinne walte und nicht das Menschliche zu stark in das Göttliche menge. Ein Schritt noch, und seine armen Eltern sind untröstlich! Zwischen ihm und seinem Vater, dem er in grenzenloser Liebe und Ehrerbietung zugethan ist, wächst eine Dornenhecke empor, durch die sich ihre Hände kaum mehr finden können. Und doch, und doch drängt ihn das Gewissen vorwärts auf dem eingeschlagenen Pfad! Gerührt betrachtet Christli ihren Schützer, der schweigend mit sich selbst kämpft.
»Herr Pfarrer!« flüstert sie verlegen, »wie gut Sie gegen die Menschen sind!«
Eine heiße Bewunderung brennt in ihrem Gesichtchen.
»O Christli!« seufzt Felix Notvest, »die Mißverständnisse zwischen meinem Vater und mir thun mir so weh! Sieh, als ich mein Amt in Reifenwerd antrat, da gab mir der Vater selbst einen Spruch auf den Lebensweg mit: ›Fest sei in der Not, und wenn alles um dich wankt und weicht, so soll dir vor Menschenwitz nicht bangen, so du nur vor dir und deinem Gott in Ehren bestehst!‹ Ich habe nur einmal geirrt, damals als eine wunde Kinderseele in den Kreuzgang kam und Erlösung von mir hoffte.«
»Sprechen Sie nicht mehr davon, Herr Pfarrer!« steht Christli heiß und demütig.
»Ich sehe jetzt die Not,« fährt er mit steigender Stimme fort, »darum will ich für die gute Sache redlich streiten. Ich gehe nicht leichtsinnig mit der Studierlampe des Pfarrers, wie manche mir vorwerfen, in den Kampf. Ich will nichts Unmögliches, ich ziehe meine Kreise nach dem Maßstab eines Mannes, der das industrielle Leben aus Erfahrungen am eigenen Leibe kennt. Du kennst ihn, Christli!«
»Karl,« erwidert das Mädchen freudvoll, »er ist stolz, daß Sie so häufig Briefe mit ihm wechseln und ihm das Vertrauen erweisen.«
Helle Zustimmung glüht im Antlitz Christlis.
Ob sie in ihrer tiefen Zurückhaltung auch wenig spricht, in den dunklen Augen, auf den geröteten Wangen steht es, wie ihre Seele mit derjenigen ihres Schützers bebt und lebt. Sie hat sich ihm wieder zugewendet, und Felix Notvest spricht wie zu einer treuen, verständnisreichen, jungen Freundin mit ihr. Wer kennt die Leiden eines armen Fabrikkindes besser als sie?
Eine Weile gehen die beiden schweigend durch den sonnigen Waldesfrieden. Von Süden leuchten über goldgrüne Tannenwipfel die Schneeberge duftig und traumhaft heran.
In dieser Ruhe werden auch die Gedanken des Pfarrers friedlicher.
Er plaudert mit Christli von ihrem Lehrer und ihrer Kunst und spürt es wohl, daß ihr dabei die Seele wie eine Blume aufgeht.
»So groß und gewaltig wie Fredy Cella werde ich das Spiel nie lernen,« versetzt sie zaghaft.
»Wolltest du es wirklich, Christli?«
»Ja, ja!« flüstert sie andächtig wie ein Bekenntnis.
Felix Notvest spürt es, daß das Herz Christlis von nichts so sehr erfüllt ist wie von ihrer Kunst. Sie nährt eine schwärmerische Verehrung für ihren Lehrer Fredy Cella. Sie liebt ihr Spiel mit der Stärke einer Leidenschaft, und was an dem ernsten, tiefen Mädchen herb und spröde geblieben, gerät, sobald sie den Bogen streicht, in Fluß und Schwung. Ihre Seele blüht in Tönen, aus den dunklen Kinderaugen strömt das Feuer. Sie sucht und sucht, sie gehört zu jenen Künstlerinnen, die für ihre Kunst hungern, in Lumpen gehen und sterben können und bis zum letzten Atemzug glauben, daß sie ihnen doch einmal ein Glück bringe, wie es sonst kein Sterblicher erfährt.
Es ist gewiß eine Freude, mit dem tiefgründigen, zum Höchsten ringenden Mädchen durch das Sonnenschweigen des herbstlichen Waldes zu wandern.
Aus verträumten Sinnen spricht Feliz Notvest: »Christli, wer hätte das gedacht, als ich dein Spiel unter den Linden für dasjenige eines Zigeuners hielt!«
Erschreckt, mit einem Augenpaar, als hätte sie in ihrem jungen Leben schon alle Bitternis der Welt ausgeschöpft, starrt sie den Pfarrer an, totenblaß, die Hand schmerzhaft auf die leichte Fülle verkrampft, wendet sie den Blick von ihm ab, sie schluchzt – das starke Christli weint herzzerbrechend.
Auch er ist über sein unbedachtes Wort zum Tode erschrocken.
»Christli!« stammelt er, »ich glaubte, ich dürfe mit dir über alles sprechen!«
»Nein, über die Thorheit eines Kindes nicht!« stößt sie, das Gesicht in den Händen verbergend, wehvoll und heftig hervor.
Sie steht still, als versage ihr der Gang oder als möchte sie sich von ihm flüchten.
Er spricht ihr milde zu: »Verzeihe mir, Christli!«
Langsam schreiten sie auf dem Waldweg, der zum Brunnen an der Steige führt.
»Ihnen – ich kann Ihnen nicht zürnen, Herr Pfarrer – es thut nur weh!«
»Sieh, da sind wir an der Stelle, wo im Frühling die Maililien wachsen,« versetzt Felix Notvest, »du selber Maililie, Christli!«
»Maililie!« Sie schüttelt das Köpfchen. In einem Ton, als wäre ihre Seele fern, flüstert sie beklommen und traumvoll: »Aus dem Wort kam es, das thörichte Spiel, aus dem thörichten Spiel kommt das andere. – Unglück. Das sagt mir mein Herz.«
Es klingt etwas unsäglich Rührendes in den bebenden, schwebenden Worten.
»Christli!« spricht Felix Notvest bewegt, »sind wir nicht Bruder und Schwester? – Gieb mir darauf die Hand!«
Etwas zögernd, mit abgewandtem Blick streckt er ihm die Rechte hin.
»Ich danke dir, Christli. Und nun vertraue deinem Bruder: Maililien bedeuten Glück!«
»Wenn Sie es sagen, Herr Pfarrer, so wird es schon wahr sein!«
Ein voller, warmer Blick ihrer dunklen Augen trifft ihn, ein gläubiges Lächeln zuckt um ihr Mündchen.