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Wilder als der Schneesturm im Wald, wütet das Schicksal in den Seelen.
»O Mutter, liebe Mutter,« schreit ein Brief des zerschlagenen Christli, »wie dürfte ich meinem Felix je wieder unter die Augen treten. Ich wußte es ja, daß aus jenem thörichten Kinderspiel unter den Linden Unglück kommen werde. Nun ist durch mich und das Konzert, das Felix nie hat wollen, unendliche Schmach auf sein Haupt gefallen. Darüber muß meine Liebe sterben.«
Zerstört und blaß starrt Frau Wehrli auf die wehvollen Zeilen und findet keinen Trost, wenn sie die trüben Augen zum Pfarrer erhebt. Wie ein Schatten wankt Felix Notvest durch sein Pfarrhaus.
Wohl glaubt im Volke niemand aufrichtig an den Fleck, der auf den Ehrenschild des treuen Führers gespritzt worden ist. Wie weithin auch das bleiche Lächeln der Schadenfreude krieche, daß sich wenigstens der Schein eines Makels an einen hochgeachteten Namen geheftet hat, nimmt man das ›Skelett‹ überall als ein verleumderisches Werk von ausgesuchter Böswilligkeit, und in der Stadt herrscht viel Mitleid mit der jungen Künstlerin, die an der Schwelle ihres Ruhmes um Ehre und guten Namen gebracht worden ist.
Wann aber war die politische Leidenschaft je barmherzig?
Die Gegner Felix Notvests geben sich den Anschein, als glaubten sie an die Wahrheit des Flugblattes. Sie stellen die Flucht Christina Wehrlis als offenes Schuldbekenntnis hin.
Die Lebenslänglichkeit des Pfarramtes aber fällt.
Da fordert die Landeskirche den Pfarrer von Reifenwerd auf, daß er seine politische Thätigkeit und seinen Lebenswandel vor der Synode rechtfertige und gegen die Urheber des Flugblattes gerichtliche Klage erhebe. Unter dem Schreiben steht das Amtssiegel des Antistes, der Name seines Vaters.
»Mein Leben liegt offen da wie ein Buch, gegen ein anonymes Flugblatt verteidige ich mich nicht, ich bedarf keiner Rechtfertigung, weder vor der Synode noch vor dem Gericht.«
Das ist die Antwort Felix Notvests.
Das Unerhörte geschieht!
Vor allem Volk erkennt der Antistes feierlich dem unbotmäßigen Pfarrer Felix Notvest die Würde eines Geistlichen der Landeskirche und das Recht ihrer zu walten, ab. Der Vater dem Sohn! In biblischer Größe wie Abraham, der seinen Sohn schlachten und Gott opfern wollte, ragt der Vorsteher der Landeskirche aus seiner Zeit.
Felix Notvest ist krank, er starrt und starrt und ermißt, was für erschütterndes Unglück er über das stille Patrizierhaus am Strom, über die greisen Häupter der Eltern gebracht hat. Er sieht sie, wie sie händeringend durch die altväterischen Gemächer gehen und, irre an ihrem Sohn, irre an Christli, irre am ganzen Volke, Gott fragen, wie der vom Himmel in heißen Gebeten Erflehte so weit habe abirren können vom guten Wege der Väter. Wie nagt der Gram am ehrwürdigen Vater, daß unter seiner Amtsführung das Antistitium untergeht, das er für eine Einrichtung göttlichen Rechtes hält!
Es geht unter! Umsonst eilt der seiner Würde entkleidete Pfarrer selbst in den Rat, bittet er mit Thränen in den Augen, daß man das Antistitium wenigstens so lange bestehen lasse, bis der jetzige Träger des Amtes, der silberlockige Greis, sein Haupt in den Tod beuge. Ihm antwortet der Kommandant: »Die Gemeinde Reifenwerd hat eine von allen Bürgern unterzeichnete Bittschrift an den Antistes gerichtet, in der wir ausführen, wie haltlos alle Anschuldigungen gegen Euch sind, wie segensreich Ihr in unserer Gemeinde gewaltet habt, und ihm ans Herz legen, daß er Eure Entsetzung widerrufe. Er hat es nicht gethan! Darum ersuche ich den Rat im einmütigen Namen der Gemeinde Reifenwerd, die keinen anderen Pfarrer als Felix Notvest unter sich dulden wird, um die Abschaffung des Antistitiums, um die Einsetzung einer obersten Kirchenbehörde, die unsere gerechten Wünsche achtet.«
So spricht der Mann, der einen Augenblick unter der Freude, daß er seine erste Tochter wiedergefunden, vergessen hat, daß die Ehre seines Hauses unter der Schande der zweiten wankt, und der nun doch vorübergehend noch einmal am öffentlichen Leben Anteil nimmt.
Eine stürmische Sitzung – die ehrwürdige Einrichtung des Antistitiums, die über vier Jahrhunderte bestanden und im Anfang die Blätter der Landesgeschichte mit ruhmeswürdigen Thaten der Barmherzigkeit an Religionsflüchtlingen aus allen Ländern bedeckt hat, ist dahin.
Der neue Kirchenrat setzt Felix Notvest wieder in Ehren und Amt. Soll er dem herzlichen Rufe der Gemeinde folgen, soll er am heiligen Tage der Weihnacht vor sie hintreten und ihr die frohe Botschaft bringen: »Friede auf Erden, an den Menschen ein Wohlgefallen!?« Oder soll er Sohnestreue bis zur letzten Höhe üben und der neuen Behörde antworten: »Ich unterwerfe mich dem Willen meines Vaters.«
Da giebt das Schicksal selbst die Antwort auf den Zwiespalt, der Felix Notvest zerreibt.
Der ins Mark getroffene fromme Vorsteher der Landeskirche erkennt die neue Verfassung nicht an. Mit der dünnen, flackerigen Stimme des Alters predigt der silberlockige Greis auf der Kanzel des Münsters: »Die Gewalt des Antistes ist von Gott, kein Rat, keine Volksmenge, nur Gottes Wille kann den Antistes seines Amtes verlustig gehen lassen, seine landeskirchlichen Entscheide aufheben.«
Plötzlich versagt und bricht die Stimme des Predigers, der auf der Kanzel sein Amt verteidigt, er schwankt, ein Schlaganfall hat ihn getroffen, der Sohn wird an das Sterbebett des Antistes gerufen.
»Mein Felix, mein Felix, wirf keinen Stein auf deines Vaters Grab! Ich that, was mein Amt gebot. Siehe, Gott selbst enthebt mich nun des meinen! In den Himmeln wird die ewige Güte das Rätsel lösen, warum ich und du, mein lieber Sohn, uns nicht haben verstehen können und uns haben Schmerzen bereiten müssen, einer dem anderen!«
»Vater, darf ich Pfarrer in Reifenwerd bleiben?« schluchzt Felix, der am Lager des Sterbenden kniet.
»Bleibe es in Gottes Segen, Felix.«
Der Vater haucht es, die kalten, feuchten Finger suchen die Hand des Sohnes, der kraftlose Mund küßt seine Stirne. Da steht der Atem des Greises still. Der letzte Antistes der Landeskirche ist gestorben.
Und siehe da! Das Wunder der Liebe und Treue, mit dem die Gottheit schon im grauen Altertum ihre Güte an hochbetagten Paaren offenbarte, ereignete sich am Lager des ehrfurchtgebietenden Toten. Auch die treue Lebensgefährtin neigt das Haupt in den Tod.
»Grüße mir das Christli, Felix,« unterbricht die im Lehnstuhl sitzende Greisin ihre leisen Gebete; »sie war uns ein Sonnenstrahl in dunkler Zeit, schreibe du ihr die Worte der Liebe und des Segens, mit denen ich nicht mehr auf ihren Brief antworten kann.«
»Mutter, Christli ist meine Braut!« flüstert Felix Notvest.
»Dann will ich vor meinen Gott und Herrn hinknieen, ich will ihn bitten, daß er ihre Schritte aus der Ferne in die Heimat lenke und ein treues Herz das Leben meines Felix hüte!«
»Mutter!« dankt Felix Notvest, unter strömenden Thränen beugt er sein Haupt in ihren Schoß.
Wie er wieder aufblickt, sieht er eine Verklärte.
Wie Philemon und Baucis, im Leben und Sterben einander getreu, ist das greise Elternpaar dahingegangen.
Von zwei Gräbern hinweg, über die der Schneesturm treibt, tritt Felix Notvest auf die Kanzel von Reifenwerd und entbietet seiner Gemeinde die frohe Botschaft: »Friede auf Erden, an den Menschen ein Wohlgefallen.«
Noch tiefer als die herzensgewaltige Predigt erschüttert die Gemeinde der Anblick ihres wiedergewonnenen Pfarrers.
Felix Notvest ist ergraut, nein, über Nacht weiß geworden wie das Land, auf das der Schnee fällt, silberlockig wie sein Vater, der Antistes. Lautes Weinen geht durch die ergriffene Gemeinde.