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19

Es ging dem Winter entgegen, und auf dem Freihof waren wieder gelassenere Zeiten eingekehrt. Balz besaß in einem Hintergemach des Hauses seine Tischlerei und lieferte da- und dorthin hübsches Gerät. Stets mußte ihn Gertrud mahnen, daß er seine Brust schone. Und der Freihöfler fand wieder mehr Geschmack an dem stillzufriedenen Hausgenossen.

»Rate einmal, was Balz noch für einen Herzenswunsch hat,« wandte sich Gertrud an den Vater. »Er wagt es nur nicht wegen der ansehnlichen Kosten, mit dir davon zu sprechen.«

»Was ist's denn?«

»Er wünscht sich auf Weihnachten ein Harmonium!«

»Das kaufen wir jetzt schon –ich höre gern schöne Musik,« stimmte der Freihöfler zu. »Ich habe zu Martini mit Geldangelegenheiten in der Stadt zu tun. Da soll er mitkommen und das Instrument auswählen, von dem Geld Röbis ist ihm ja ein hübscher Posten übriggeblieben.«

Als die beiden Männer zur Bahn fuhren, war es Gertrud eine große Freude, sie so einig zu sehen; eine noch größere war es, als sie wiederkamen und mit dem Harmonium eine Kiste Bücher brachten. Ihr war, eine Weihe gehe durchs Haus, als Balz auf dem Instrument probte.

»Und die Bücher?« fragte sie.

»Du weißt, ich habe mein Sparkassengeld von Aue bezogen,« erklärte er ihr selig, »und stets war es mein Traum, wenn ich einmal seßhaft sei, selber Bücher zu besitzen, den ›Armen Mann aus dem Toggenburg‹ und noch manche –manche! –Ich habe dir von einer Plätterin in Osnabrück erzählt; durch sie lernte ich die Leihbibliothek kennen, ich las eine Weile die gleichen leichtsinnigen Schriften wie sie, später gefielen mir aber solche Bücher besser, in denen ich etwas von der Heimat spürte, überhaupt die schönen, wahren Bücher! –Wahr? –Gertrud, man darf das nicht immer buchstäblich nehmen, sondern sie sind Sinnbilder, Gleichnisse des Lebens, und wenn wir übel ihren Inhalt nachdenken, so lernen wir daraus so viel wie aus einer Predigt.«

»Mein gebildeter Balz!« lachte Gertrud. »Du gute Seele, ich weiß schon lang', wie man Bücher auffassen soll.«

Sie freute sich aber seiner geistigen Regsamkeit.

Lind und leis spann der Schnee Haus und Hof, Felder und Wälder ein. In die Sternennächte klangen die getragenen Töne des schönen Instruments hinaus, und über die drei Menschen auf dem Freihof kam der Frühling mit seiner Sonne, sie wußten nicht wie.

Der für Balz und Röbi so verhängnisvolle Ostermontag jährte sich. Hier und dort im Dorf erinnerte man sich an den unglücklichen Ritt, aber nachdem es Balz in der Friedensrichterfamilie so gut ging, sprach man mit Heiterkeit und harmlosem Sticheln davon. »O, es würde noch mancher arme, fremde Geselle oder Knecht gern vom Pferd stürzen, wenn er dann grad so auf ein Butter- und Honigbrot fiele wie Bläser! Auch kein Wunder, daß sein Heißhunger geheilt ist, die schöne Gertrud sieht ja zu ihm, als ob er eine goldene Stecknadel wäre.«

Auf dem Freihof kümmerte man sich nicht um die Unterhaltungen der Dörfler. Die Tage, Wochen, Monate und Jahreszeiten gingen ihren Lauf, und von Zeit zu Zeit ereignete es sich, daß bei Gertrud ein Freier vorsprach. Sie ließ alle ablaufen, und je nach Art und Stand des Besuches zollte ihr der Freihöfler Beifall oder ließ die Stirnlocke wie ein Flämmchen aufspringen; fast kerzengerade richtete sie sich empor, als sie dem bildhübschen jungen Bauern aus dem Thurgau, der wieder ein Rind zu kaufen gekommen war, ein höfliches Körbchen gab.

Sie stritten aber nie wieder laut, nur ließ der Freihöfler noch jeden Brief Röbis, der stets wieder Anknüpfungen suchte, an den Schreiber zurückgehen.

So hörte Gertrud vom Liebsten oft lange nichts.

Gegen den Herbst hin hatte sie im Pfarrhaus zu Büchlisberg Patin zu stehen. Da schob ihr Burgener ein Zeitungsblatt aus der Stadt hin. In den akademischen Nachrichten war ein Satz rot angestrichen. Er lautete einfach: »Den Titel eines Doktors beider Rechte hat mit Lob erworben Herr Robert Heidegger aus Haldenegg. Der junge Gelehrte gedenkt zunächst auf einer Studienreise das Gefängniswesen der verschiedenen Länder kennen zu lernen und sich nachher als Anwalt in unserer Stadt dem Kriminalfach zu widmen.«

Errötend bat sich Gertrud das Blatt aus, um es dem Vater vorlegen zu können.

Er fand es am Montag früh beim Morgenessen. Ein Blick darein, und er bemerkte kühl: »Was ist der Doktor Besonderes, wenn einer so viel Geld gekostet hat wie Röbi? –Das Leben muß ausweisen, was an ihm ist!«

Seine Worte hinderten aber Gertrud nicht, Röbi einen vor Freude überströmenden Brief zu schreiben, und Balz schickte ihm die schönste Glückwunschkarte, die im Dorfe aufzutreiben war. Sie trug das Bild eines mit Rosen umwundenen Ankers und hatte goldene Fransen.

Von der Studienreise des jungen Doktors erhielt Gertrud häufig Briefe, und sie spürte nun, daß sein Titel doch auf den Vater gewirkt hatte: er schickte keines der Schreiben mehr zurück, sondern weigerte sich bloß, darein zu blicken, auch wenn Gertrud oft von wunderschönen Reiseschilderungen sprach, die Röbi zu entwerfen wisse.

Einmal bekamen aber auch der Freihöfler wie Balz einen Brief, nicht von Röbi, sondern von Klaus Hannecke. Außer vielem anderen schrieb er ungefähr: »Von Herrn Doktor Heidegger mit einem leider allzu flüchtigen Besuch beehrt, drängt es mich, hochgeschätzter Herr Friedensrichter, Ihnen und Ihrer verehrten Tochter meinen warmen Dank für die schöne Heimat auszusprechen, die Sie meinem unvergeßlichen Freund Balz Bläser bereitet haben.«

Balz schwärmte für Röbi wie in den Tagen vor dem mißlungenen Eierspiel, und der Freihöfler ließ es gelten, daß der Besuch bei dem Freund Balthasars ein schöner Herzenszug sei.

Es dauerte dennoch eine ziemliche Zeit, bis Gertrud es wagte, Röbi wieder auf den Freihof zu rufen.

Die Apfelblüte zog aufs neue mit rosigem Schein durch das Land. Schon hatte sich das böse Osterfest zum drittenmal gejährt, und Röbi war bereits ein Anwalt mit gutem Namen.

Mit gespannter Aufmerksamkeit las Gertrud in einer Zeitung, die er ihr geschickt hatte, eine Schwurgerichtsverhandlung, in der er einem Unglücklichen zu mildem Recht verholfen hatte.

Der Fall war folgender: Ein Bauernsohn, bisher von unbescholtenem Ruf, hatte die Jahre dahin seinem Vater treu und bescheiden gedient. Er verlobte sich mit einem rechtschaffenen, aber ziemlich mittellosen Mädchen. Nun war der Alte über die Wahl des Sohnes aufgebracht. Er quälte und reizte ihn bis aufs Blut. Als der Sohn zu einer mehrwöchigen Militärübung einrücken sollte, versuchte der Vater ihn mit ein paar Fränklein abzufertigen. Ein hitziger Handel entstand. Es kam von seiten des Alten zu Tätlichkeiten. Der Sohn, der eben das Gewehr zur Hand hatte, stieß ihn mit dem Kolben vor die Brust, und der Vater erlag in der folgenden Nacht den inneren Verletzungen. Dafür beantragte der Staatsanwalt sieben Jahre Zuchthaus, und jedermann erwartete, daß die Geschworenen, die unter dem Banne des schrecklichen Wortes »Vatermörder« standen, mit dem hartnäckigen und kalten Ankläger gehen würden. Da setzte sich aber der Verteidiger Doktor Robert Heidegger mit dem Glutfeuer seiner jungen Jahre für den unglücklichen Bauernsohn ein. Selbst hingerissen von seiner ergreifenden Rede, wandte er sich den Geschworenen mit den Worten zu: »Ich will Ihnen erzählen, wie rasch ein sonst rechtschaffener junger Mann schuldig werden kann. Ich war vor nicht langer Zeit in ähnlicher Lage wie der Angeklagte.« Und er rief ihnen das unglückliche Eierlesen auf dem Freihof ins Gedächtnis zurück. »Ich fand damals keinen Richter als den in mir selber,« fuhr er fort. »Um so mehr ist es meine Pflicht, Ihre Milde für den heutigen Angeklagten zu erbitten. Gestehen Sie dem jungen Manne zu, daß die Tat in ihrer Plötzlichkeit mehr ein Unglück als ein Verbrechen war. Vernichten Sie sein Leben nicht durch die entehrende Zuchthausstrafe, erkennen Sie auf ein paar Jahre Gefängnis. In diesem Fall hat seine Braut versprochen, ihm die Treue zu bewahren, er kann wieder ein rechter Mann werden und gedeihen. Wenn aber noch einer von Ihnen, meine Herren Geschworenen, in seiner Seele über das Urteil schwankt, das er abgeben soll, so durchforschen Sie einmal die Erinnerungen an Ihre eigene Jugend, ob Sie nicht Gott dafür danken müssen, daß schwarze Flügel Sie wohl berührt, aber nicht in den Abgrund geworfen haben. Ich bitte aus Herzensgrund um Ihr Verständnis für den Angeklagten!«

Und siehe da, als sich die Richter nach mildem Schuldspruche der Geschworenen zur Beratung zurückzogen, gingen sie nicht mit dem Staatsanwalt, sondern –ein schöner Sieg der Menschlichkeit –mit dem jungen, feurigen Verteidiger und erkannten für den Angeklagten bloß auf Gefängnis.

Gertrud bot das Blatt mit zitternden Händen dem Vater.

Als er es sinken ließ, konnte er eine tiefe Bewegung nicht meistern.

»Gertrud, nun hast du mit deinen Hoffnungen Recht behalten!« sagte er nach einer Weile. »Aus dem Most ist Wein geworden –aus dem leichtsinnigen Röbi ein Anwalt des volkstümlichen und natürlichen Rechts, wie er es versprochen hat. –Schreibe ihm, er sei mir auf dem Freihof wieder willkommen!«

Da brachen ihre Tränen gewaltsam hervor.


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