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Um sechs Uhr des Morgens begannen Meister Hildebrand und sein seltsamer Geselle am Freihof die Arbeit und klopften zunächst bis in Mannshöhe die morschen Schindeln ab.
Sie weckten mit ihrem Hämmern niemand mehr.
Die Ärmel zurückgestreift, war Gertrud schon mit dem Reinigen der Fenster beschäftigt. Das lief mit manchem Hin- und Herwenden des Kopfes und nachprüfenden Augen flink, doch gründlich. Oft fiel der Strahl der Sonne auf die reichen, braunblonden Zöpfe der eifrig Schaffenden und ließ sie goldig erschimmern, am reizendsten, wenn ihr die Sonne zugleich mit den Zöpfen die hohe, freie Stirn traf.
Der Freihöfler, der sich zum Gang auf das Feld rüstete, schaute ihr mit verstohlener Vaterfreude zu.
Nachdem er vor Jahren den ihr nachgeborenen Stammhalter, einen lieben Buben, der eben in die Schule treten sollte, durch Scharlach verloren hatte, war sie sein einziges Kind, und ohne daß er es je laut ausgesprochen hätte, seine Herzensfreude, das Gottesgeschenk in seinem sonst einsamen Witwertum und sich meldenden Alter.
An Gertrud war etwas wie junger Tag und Frühling. Die Frische ihres lieben und gescheiten Gesichts erinnerte ihn an ihre verstorbene Mutter, die in den jungen Jahren auch das Urbild gesunder, schlichtstolzer Weibesschönheit gewesen war. In einigen Zügen übertraf Gertrud sogar ihre Mutter, die Augen waren größer und hatten ein tieferes, wärmeres Blau, die schmale Nase einen feineren Schwung, und neben den mütterlichen Vorzügen der Raschblütigkeit, des unmittelbaren Denkens und Tuns ging ein Einschlag seines eigenen schweren Blutes durch ihr Wesen und stimmte ihre jugendliche Fröhlichkeit aus den Grundton eines körnigen Lebensernstes.
Sie war wie von selber rechtschaffen und tüchtig herangewachsen, und er hätte in all ihren Jugendjahren für sie keinen ernstlichen Tadel gewußt –bis auf die jüngste Zeit!
Jetzt war ihm ihre frühe, der Öffentlichkeit allerdings noch vorenthaltene Verlobung ein noch nicht ganz verwundener Schmerz. Was hatte es ihm geholfen, daß er, um möglichst lang Freier von ihr fernzuhalten, den Freihof aus einem gutgehenden Gasthaus in ein stilles Bauerngehöft umgewandelt hatte? Der Freier war ja doch gekommen, sein Mündel, der Student Robert Heidegger. Er hatte für den hoffnungsvollen und reichbegabten jungen Mann schon deswegen manches übrig, weil der schon vor zehn Jahren verstorbene Vater Röbis sein liebster Freund und Militärkamerad gewesen war. Zugleich aber ärgerte er sich stets wieder über ihn, weil die brausende Jugend oft über die Stränge schlug; so neuerdings mit der leichtsinnigen Mensur, die wohl nicht die erste gewesen war.
Etwas tiefsinnig holte der Freihöfler die Hacke aus der Scheune und schritt ins freie Feld hinaus.
Da hielt Gertrud, die eben auf einem Stuhl stand, in ihrer Arbeit inne und las noch einmal den Brief Röbis durch.
Ob der Vater wohl ein Eierlesen auf dem Freihof bewilligen würde?
Ja, das von der Haldenegger Jungmannschaft vor drei Jahren veranstaltete Osterfest hatte einen prächtigen Verlauf genommen und war beim Volk im schönsten Gedächtnis. Wie viel hatte sich aber seither durch den Tod der Mutter auf dem väterlichen Besitz geändert! Nachdem die als vorbildliche Wirtin landbekannte Mutter an einer raschen Krankheit dahingeschieden war, hatte der Vater ohne langes Besinnen das altertümliche Wirtschaftsschild von der gegen die Straße gewendeten Mauer entfernt und das Haus zu einem einfachen Bauerngehöft umgestaltet.
Wenn ihn Freunde und Bekannte mit Ausdrücken des Bedauerns fragten, warum er es getan habe, erwiderte er mit lächelndem Humor: »Meine Frau war wohl eine Wirtin, ich aber nie ein Wirt, das wißt ihr!«
Ja, die Mutter war leichtblütiger gewesen, doch hatten sie sich beide verstanden und sich gegenseitig in der vornehm ehrbaren Wirtschaftsführung ergänzt.
Seit ihrem Tod trat die Anlage zu sinnendem Ernst beim Vater noch stärker hervor, und seinem nach innen gewandten Wesen entsprach der Umgang mit der Scholle, mit den Tieren im Stall, mit den Bäumen in Feld und Wald und der großen freien Natur besser als mit vielerlei Leuten. Soweit sein Menschenbedürfnis reichte, genügte ihm der Verkehr, den die beiden Ämter, das eines Gemeinderates und das des Friedensrichters von Haldenegg, mit sich brachten.
Ob Röbi wohl wünschte, daß sie, Gertrud, mit dem Vater über das geplante Osterspiel und das Überlassen der Wiese spreche?
Vielleicht lag die Bitte zwischen seinen Zeilen; es war aber wohl klüger, wenn er zueist den Vater mit dem Schmiß versöhnte und ihm dann das Anliegen selber vortrug.
Wenigstens wollte sie dem Vater eine Stunde ablauschen, in der er guter Laune war.
Die gute Laune des Freihöflers gab sich jedoch nicht so bald. Tag um Tag hatte er einen scharfen Ärger auf Hildebrand. Der Tischler arbeitete auf den Gerüsten, die jetzt den Freihof umgaben, je nur ein paar Stunden, worauf er unter irgend einer Ausrede und mit dem Anschein dringender Geschäftigkeit fortlief und sich in einem Wirtschäftchen unten im Dorf die Zeit vertrieb. Das erbitterte den Vater gegen den unzuverlässigen Mann, und dann regte sich seine Sinnlose und sträubte sich wie ein Federchen empor, ein Zeichen verhaltenen Zorns, das Gertrud von früher Kindheit an kannte.
Der Geselle aber gefiel dem Vater.
Balz werkte mit den langen, behenden Gliedern in stiller Unverdrossenheit, ja die einsame Arbeit schien ihm lieber zu sein als die gemeinsame mit dem Meister. Der Freihöfler ließ ihn merken, daß er seine Geschicklichkeit und seinen Fleiß schätze, und ihm durch Vree Imbiß und Trunk reichen, soviel sich Balz wünschen mochte, und jeden Tag nahm sich der Bauer eigens eine Viertelstunde Zeit, um mit ihm zu plaudern, entweder im Freien oder in der Stube.
Dann ging eine, rührende, strahlende Freude über das Gesicht des hochaufgeschossenen Gesellen, der wohl noch nie so gute Zeiten wie auf dem Freihof erlebt hatte.
Er pfiff bei der Arbeit wie ein Vogel, in einer Art, auf die sich in der Gegend von Haldenegg niemand anders verstand, und verfügte über eine Menge von Melodien. Einige davon kannte auch Gertrud, und sie überraschte sich manchmal, daß sie die von ihm gepfiffenen Lieder leise mitsummte.
Vielleicht lag es daran, daß etwas von dem Wohlwollen des Vaters für Balz auf sie überströmte. Doch was sollte sie mit dem tollen Menschen anfangen, der, wenn er sie sah, seine Verliebtheit nicht verbergen konnte, zu zittern begann und vor Aufregung die Werkzeuge fallen ließ? Mußte sie nicht befürchten, er stürze ihretwegen einmal vom Gerüst? Sie bemitleidete ihn wegen der hoffnungslosen Leidenschaft, kam aber nicht über die Lächerlichkeit seiner Gestalt und seines Betragens hinweg. Wie sich gegen ihn helfen? Sie mied ihn, und wenn er einmal, durch den Vater aufgefordert, in die Stube trat, setzte sie das hochmütigste und abweisendste Gesicht, das ihr geraten wollte, gegen ihn auf und gönnte ihm kaum einen Gruß, viel weniger ein Wort.
Der Vater aber behauptete, in seiner Art sei Balz ein gescheiter Bursche, belesen und voll Ideen, ein Mensch, mit dem er sich lieber unterhalte als mit manchem im Dorf.
Auch Pfarrer Geißmann, der in diesen Tagen wegen eines Streitfalles in der Gemeinde beim Vater vorsprach, erzählte Merkwürdiges von Balz: »Denkt euch, der fremde Geselle, mein Nachbar, ist ein musikalisches und mechanisches Genie. Im Dorf Aue im Unterland, wo er im vorigen Jahr bei einem Meister in Stellung stand, war die Orgel in der Kirche fast seit Menschengedenken unbrauchbar. Als Balz das Instrument sah, an das lange keine Hand mehr gerührt hatte, bat er den Pfarrer von Aue um die Erlaubnis, es auseinandernehmen, reinigen, erneuern und stimmen zu dürfen; ohne Entgelt von der Gemeinde wolle er es wieder in Ordnung bringen, nur bitte er um Geduld, da er sich dieser Arbeit bloß am Feierabend widmen könne. Jedermann hielt den langen Balz für einen verrückten Großhans. Doch warum ihm das Instrument, das nur das alte Eisen wert schien, nicht überlassen? Vom Frühling bis zum Herbst hantierte er auf irgend einem Dachboden still und heimlich daran herum, setzte es in der Kirche wieder auf, und in der Weihnacht spielte er auf der Orgel Lied um Lied zum Gottesdienst, voll, schön, rein, so daß die von Aue staunen mußten. Das war aber dort im Dorf sein letzter Tag. Der Pfarrer und ein paar Herren von der Kirchenpflege luden ihn aus Anerkennung für sein Werk zum Abendessen in ein Gasthaus ein. Da überfiel ihn der Heißhunger, sinnlos aß er, soviel ihm geboten wurde, und man bot dem Orgelbauer sehr viel und stets mehr. Plötzlich erwachte er aus seinem Eßtaumel, die Tränen der Scham stürzten ihm über die Wangen, er lief aus der Gesellschaft hinweg und ward in Aue nicht mehr gesehen. Als aber die Kirchenpflege erfuhr, daß er in Haldenegg arbeite, ließ sie ihm durch ihren Pfarrer als Dank für die Wiederherstellung der Orgel ein Geschenk von hundert Franken in Gold überbringen, und bei diesem Anlaß hat mir mein Amtsbruder von der Kunst des langen Balz erzählt.«
Der Pfarrer, ein schwarzbärtiger, ernster Mann, auf den die Last der großen Familie drückte, hatte am Freihöfler und an Gertrud aufmerksame Zuhörer, doch verabschiedete er sich bald wieder.
Gertrud wurde nach dem Besuch den Gedanken nicht los, sie habe in seinen gequälten Augen etwas wie einen stillen Vorwurf gelesen. Wohl wegen Gritli und Röbi!
Um ihn zu vergessen, sprach sie mit dem Vater über Balz: »Was hat es denn mit dem Heißhunger für eine Bewandtnis? Kann man dem armen Burschen nicht dagegen helfen?«
Der Freihöfler antwortete nicht gleich; die Hände auf dem Rücken, ging er die Stube auf und ab.
Dann begann er: »Diejenigen, die stets Brot genug hatten, nennen den Heißhunger ein Laster; in Tat und Wahrheit ist er eine Schande für jene, die einen Jungen bei leeren Schüsseln großziehen. Balz hat wohl eine Jugendzeit hinter sich, während deren er in die Länge schoß, aber rundum nichts zuzusetzen bekam. Da wächst einer auf wie eine Erdäpfelranke im dunklen Keller, lang, aber blöd, und es ist ein Wunder, wenn er für ein Handwerk tauglich wird, die Verdauungsorgane bleiben auch später verdorben. Selbst wenn ein Heißhungriger nach den schlechten Zeiten an eine gute Kost gerät, hat er nie ein rechtes Gefühl der Sättigung; aber manchmal, besonders wenn er eines seiner Lieblingsgerichte erblickt, ist es, wie wenn sich die Nerven plötzlich an den früheren Hunger und Mangel erinnerten und sich dafür entschädigen wollten. Die leidenschaftliche Gier erwacht, das Schlingen ist da, und nachher spottet man über den armen Teufel.«
»Läßt sich für Balz gar nichts tun?« fragte Gertrud wieder.
»Deine Großmutter hat einmal ein Knechtlein, das an Heißhunger litt, geheilt, aber sie brauchte dazu mehr als ein Jahr. Wenn der Junge Brot erblickte, stürzte er manchmal vor Verlangen wie ein Fallsüchtiger zusammen. Nun richtete es die Großmutter so ein, daß er seine Arbeit stets an ihrer Seite oder in ihrer Nähe hatte, und steckte ihm vom Morgen bis zum Abend jede Stunde ein kleines Stück Brot zu, und dadurch, daß er in regelmäßigen Abständen einen Bissen bekam, genas er nach und nach. Zu einer solchen Heilung bedarf es aber eines geordneten Lebens und der Aufsicht durch andere. Leider sind nicht alle Meistersfrauen so verständig wie deine Großmutter. Wie mancher Knecht oder Geselle, der sich unter den Fremden herumtreiben muß, genießt kein Zusorgen, wenn er nur für die Meistersleute schafft wie Balz für seinen Lotter. Wir rühmen uns der Bildung, aber es ist doch manches in der Welt himmeltraurig bestellt; die einen müssen den Hungerriemen enger ziehen, und die anderen schlagen sich vor Übermut die Säbel über die Köpfe.«
Nun geht's gegen Röbi, ahnte Gertrud. Sie hatte aber über die Torheit des Liebsten schon genug väterliche Schelte gehört und grämte sich selber über den Schmiß. Wozu wieder darüber sprechen? Listig sagte sie: »Vater, vergissest du es nicht, daß du dem Förster versprochen hast, ihn diesen Nachmittag im Kahlschlag zu treffen, wo die Leute für die Gemeinde junge Tannen setzen?«
Der Freihöfler fiel auf die Mahnung herein.
»Du hast Recht,« sagte er, stieg in den oberen Stock und kam nach ein paar Augenblicken zum Ausgang gerüstet wieder. »Ich glaube, es fängt noch einmal zu schneien an! Die Vree soll Balz das Abendbrot in der Stube geben.«
Damit ging er.
Gertrud setzte sich an den Stickrahmen beim Fenster unter eine von der Decke hängende Blumenampel, in der ein paar Alpenveilchen ihre roten Knospen öffneten. Ja, das Wetter war rauh, windig und wolkig. Balz hatte kalte Arbeit auf seinem Gerüst. Und sie dachte an ihren Vater. Mochte er vielleicht über Röbi zu scharf urteilen, –was er über Balz und seinen Heißhunger gesprochen hatte, stellte sein mildes Wesen ins schönste Licht. Freilich hatte er auch im ganzen Lande den Ruf dafür, wie warmherzig er sich in die Verhältnisse anderer hineindenken könne, wie redlich er in seinen Ämtern zum Frieden helfe, oft sogar mit eigenen Opfern, wenn es galt, Gegner, die er selber achtete, zu versöhnen. Ein gleicher Mann, nur in höherer Stellung, sollte Röbi werden!
Bei der emsigen Arbeit liefen ihr die Träume emsig dahin.
Als sie die Vieruhrglocke lauten hörte, rief sie Balz zur Vesper in die warme Stube und war neugierig, selber einmal mit dem Burschen zu sprechen, dessen Klugheit der Vater stets wieder rühmte.
Nun saß der seltsame Geselle im langen Schurz am Tisch, meisterte sein verliebtes Wesen, verzehrte bescheiden das Abendbrot, und wie er so friedlich aß, hätte niemand eine Ahnung seines Heißhungers bekommen.
Heimlich prüfend ließ sie die Augen über seine Gestalt gleiten. Dabei entdeckte sie, daß Balz, abgesehen von seinen spinnenartig auseinandergezogenen Gliedern, gar nicht so häßlich sei. Auf der Stange von Leib saß ein leidlich hübscher Kopf. In dem eckigen und blassen Gesicht lag der Ausdruck eines sinnenden Verstandes, und in den Augen spielte ein starkes Leuchten.
Sein Blick ruhte auf einem Doppelwappen, das die Mitte der vom Alter dunkel gefärbten, nußbaumenen Decke schmückte. »Das ist schöne Arbeit,« bemerkte er schier andächtig, »da war ein Tüchtiger dran –ein Künstler!«
»Ihr sollt ja auch einer sein,« lenkte sie das Gespräch mit schelmischer Absichtlichkeit auf ihn selber hinüber. »Ihr erfindet, wie man im Dorfe hört, Geduldspiele aus Holz oder Draht und bringt nicht nur alte Uhren wieder zum Gehen, sondern Ihr setzt auch verrostete Orgeln wieder instand, daß sie schön wie neue klingen. Gewiß wäre es Euch ein leichtes, ein solches Wappen zu schnitzen!«
Balz wurde purpurrot. »Fräulein, so schöne Aufträge bekomme ich nicht. Aber ich will Euch die Bergveilchen dort in der Ampel getreu auf eine Schatulle von Lindenholz schnitzen. Darf ich? –Es wäre ein Geschenklein für Euch!«
»Nein! Wohin denkt Ihr?« erwiderte sie lebhaft. »Wenn ich von Eurer Kunst sprach, so tat ich es, weil man gern etwas von einem geschickten Menschen hört.«
Und sie ließ die blauen Augen zu ihm hinüberstrahlen.
»O Fräulein, was redet Ihr gütig zu mir,« stotterte er, »und –Ihr seid doch so schön!«
»Und Ihr redet so dumm!« lachte sie hell. »Sagt Ihr denn allen Mädchen, die mit Euch sprechen, gleich Artigkeiten?«
»Die meisten reden nicht mit mir oder machen sich lustig, weil ich der lange Balz bin,« erwiderte er. »Ihr aber habt gleich im Ernst mit mir zu sprechen angefangen.«
Sie tat, als ob sie seine Worte überhörte, und fragte ihn mit rascher Wendung: »Wo stammt Ihr denn eigentlich her, Balz?«
»Wenn ich wüßte, daß Euch meine Geschichte zu Herzen ginge!« antwortete er zweifelnd. »Solange ich denken kann, war ich ein vater- und mutterloser Mensch. Ich weiß nicht einmal: bin ich von Geburt Schweizer oder aus dem Reich? Meine Mutter war eine arme wandernde Magd. Als ich zur Welt kommen sollte, schlich sie sich zu Gerhardszell in eine Scheune, und darin bin ich geboren, wie das Jesuskindlein, nur viel elender. Denn als die Bäuerin dazu kam, konnte meine Mutter bloß noch sagen, sie suche ihren Geliebten, den Musikanten Balz. Darauf starb sie, und da keine Schriften bei ihr gefunden wurden, auch der Aufenthalt und der Heimatort des Musikanten nicht zu ermitteln waren, wurde ich Findling der Gemeinde Gerhardszell, die mich nach dem Namen und Beruf meines unbekannten Vaters Balz Bläser taufen ließ und einem alten Weibe im Armenhaus zur Aufzucht übergab.
»Doch das habe ich noch niemand als Euch erzählt!« unterbrach er sich. »Wenn man einmal als Geselle durch die Welt zieht, wer fragt, wie man darauf gekommen ist, gern oder ungern?«
Den Arm lang auf dem Tisch ausgestreut, den Kopf vornübergebeugt, versank er in ein brütendes Schweigen.
Ein Ton in seiner Erzählung, in seinem Wesen hatte Gertrud gerührt. Freundlich versetzte sie: »Nun seid Ihr aber doch ein tüchtiger Tischler geworden. Und Ihr sollt ja, wie man erzählt und wie ich aus Eurem kunstvollen Pfeifen merke, auch in der Musik ein Meister sein?«
Ein Sonnenstrahl ging über sein Gesicht.
»Das Orgelspiel war mein Knabentraum,« sagte er zögernd. »Das Geld, das ich die Gemeinde Gerhardszell kostete, mußte ich schon als zehnjähriger Junge damit abverdienen, daß ich beim sonntäglichen Gottesdienst den Blasbalg der Orgel trat. Organist war mein lieber Schullehrer, und wenn er am Samstagabend die Choräle für den Sonntag einübte, durfte ich selber ein wenig auf dem Instrument hantieren, manches zeigte er mir, manches erriet ich von selbst und war auf den Tasten und in den Registern bald daheim. Als der Lehrer krank wurde, spielte ich selber der Gemeinde die Choräle vor zu Gottes Ehr'!«
Er stockte und warf einen Blick ins Freie. »Nun muß ich wieder an die Arbeit.« Und er reckte die langen Glieder.
»Nein, bleibt,« bat Gertrud. »Es dunkelt schon wieder für einen neuen Schauer. Ich höre Euch gern zu. Wie ging es Euch denn später?«
»Schlecht,« bekannte er versonnen. »Ich bildete mir ein, mein Lebensberuf müsse der eines Orglers von Gerhardszell sein, und als ich mit fünfzehn Jahren aus der Schule entlassen war, trug ich, durch manche Lobsprüche auf mein Spiel ermuntert, den Herzenswunsch dem Armenpfleger vor. Der aber erschrak: ›Aus dir redet das nichtsnutzige Blut deines Vaters, des Landstreichers. Dir muß man die Nähte eintun.‹ Ich kam als Knechtlein auf eine Steigerung unter den Bauern, doch hatte keiner große Lust nach mir. Schließlich erbot sich der Schreinermeister Guntli, ein Mucker und Sektierer, daß er mich um Christi Blut und Wunden willen vier Jahre unentgeltlich als Lehrbub zu sich nehme. So wurde mich die Gemeinde los. Guntli, der in einem einsamen Tälchen abseits vom Dorf wohnte, war der geschickteste Tischlermeister weit und breit, seine Möbel gingen durch Zwischenhändler bis nach Paris und London, aber aus mancherlei Ursachen kam er mit seiner Familie doch nicht vorwärts, namentlich nicht wegen der Sektiererei. Fast jede Nacht war bei ihm oder anderswo eine Versammlung Gleichgesinnter, oft las er, bis der Tag anbrach, geheimnisvolle Schriften über die Hölle, war dann bei der Arbeit übernächtig und aufgeregt und hatte es stets mit dem Teufel zu tun. Wehe mir, wenn ich einmal lachte oder aus Versehen ein Liedchen pfiff. ›Jetzt sitzt der Böse in dir drin!‹ fuhr er auf, zog sich den Gurt vom Leib und hieb unbarmherzig auf mich los. Darauf bat er: ›Verzeih, Bub, es ist meine christliche Pflicht! Aus dir hat der Teufel gepfiffen!‹«
»Schrecklich! –Und der Armenpfleger?« warf Gertrud ein.
»Er kümmerte sich nicht, was in dem abgelegenen Hause vor sich ging. Ich selber beklagte mich auch nicht, denn Guntli meinte es im Grunde gut mit mir, auch war ich selber von seinem religiösen Wahn umsponnen, weil ich oft Monate von nichts anderem sprechen hörte und an den Wänden der Werkstatt eine Menge Bilder klebten, die nichts als die Qualen der Hölle schilderten. Der Meister behauptete, mit Essen und Trinken fahre der Teufel in den Leib. Deswegen fastete er manchmal bis zur Ohnmacht und verlangte es auch von seiner Frau, seinen Kindern und mir. Er ordnete Übungen in der Enthaltsamkeit an, legte, wenn wir vor Hunger fast umfielen, ein frisch angeschnittenes, duftendes Brot auf den Tisch, doch nicht zum Essen, sondern nur um die Schmerzen zu erhöhen. ›Betet ohne Unterlaß!‹ befahl er und ging im Anblick des Brotes mit eigenem eifrigen Beispiel voran, oft bis ins Morgengrauen. Schon hatte ich bis auf ein paar Tage meine Lehrzeit vollendet, da kam die furchtbare Wendung. Der Älteste Guntlis, ein hübscher und hoffnungsvoller Junge von dreizehn Jahren, stahl vor Hunger und Verzweiflung aus dem Korb einer auf dem Acker beschäftigten Bauernfamilie einen Laib Brot. Die Geschwister, mit denen er die Beute teilte, verrieten den Knaben. Guntli warf sich mit dem Stemmeisen auf ihn. Die Bluttat war geschehen, und er wurde wegen religiösen Wahnsinns durch Gerichtsurteil in ein Irrenhaus eingewiesen.
»Es war meine Rettung,« fuhr Balz sinnend fort. »Schon als Zeuge vor Gericht merkte ich, daß ich mich unbewußt von Guntli in eine falsche Welt hatte einspinnen lassen, daß der Mann durch den religiösen Hungerzwang auch an mir ein Verbrechen begangen hatte, –sonst –sonst hieße ich vielleicht nicht der ›lange Balz‹, und an meinem Leben wäre manches besser.«
Ein weher Herzenston zuckte aus seinen Worten.
Gertrud nickte nachdenklich und zustimmend. Die Erzählung des Gesellen fesselte sie, und sie war über das Schneegestöber froh, das wieder ein leichtes Winterkleid über die angrünenden Matten vor dem Fenster warf.
Sie ging zu ihm an den Tisch hinüber. »Da habt Ihr wohl eine recht schlechte Meinung von der Welt?«
»O nein,« erwiderte Balz und ließ die Augen leuchten. »Nach dem schrecklichen Abschied von Gerhardszell ging ich auf die Wanderschaft und sah an vielen Orten, wie schön Gottes Erde ist. Ich kam auch nach Köln am Rhein. Dort habe ich im Dom die Orgel singen und brausen hören, daß es in mir selber ganz selig und heilig geworden ist, daß ich jeden Teufelsglauben abgelegt und Gott gedankt habe für mein Leben, wie arm es auch manchmal gewesen ist. In Osnabrück nahm mich ein Meister in Stellung und schickte mich zur Arbeit aufs Land. Einem reichen Bauer war das Jahr zuvor das Haus vom Blitzstrahl niedergebrannt worden, und ich hatte in das neuaufgebaute aus Holz, das der Besitzer selber lieferte, Möbel und Gerät zu verfertigen. Vom Frühling bis zum Winter blieb ich dort, und der Sohn des Bauers wurde mein Freund. Klaus Hanneke heißt er und ist der liebste und treueste Mensch, den ich in meinem Leben gefunden habe. Denkt Euch, er schreibt mir noch jetzt jedesmal auf Weihnachten einen Brief, obgleich er nun verheiratet und schon Vater von zwei Kindern ist. Mit meinem lieben Klaus habe ich die schönsten Abende und Sonntage verbracht. Auf einer Handharmonika, die ich in Basel gekauft hatte, spielte ich ihm viele Lieder aus der Heimat vor und erzählte ihm manches aus unserem Land, von seinen Bergen und Firnen. Dafür durfte ich mit ihm jeden Abend und Sonntags ausreiten.«
»Was, Ihr seid nicht bloß Schreiner und Musiker, sondern auch ein Reitersmann!« lachte Gertrud. »Wirklich, Ihr könnt reiten? Wer das gedacht hätte!«
»Leiht mir Euer Pferd!« warf er sich in die Brust. »Ihr werdet sehen, kein Bauernbursch in Haldenegg sitzt so sicher im Sattel wie ich.«
Er erging sich in sonnigen Erinnerungen.
»Mit Klaus auszureiten, war meine höchste Freude. Nach seinem Wunsch hatte ich stets das Instrument mit mir. Oft warfen wir uns zum Spiel ins blühende Heidekraut oder in den Schatten eines der großen Wacholderbüsche, die es dort gibt, oder wir ließen die Rosse einfach laufen, und ich musizierte im Sattel.«
Als Gertrud sich dieses Bild vorstellte, konnte sie das Lachen kaum verbergen.
»Es war ein wunderschöner Sommer, und noch jetzt ist mir manchmal, ich sei wieder in Westfalen bei meinem Klaus, wir reiten im Mondschein heim auf seinen Hof und es schimmern die Moorwasser, es flüstern die Birken und es wiehere mein Pferd in die große Nachtstille.«
»Am Ende habt Ihr Euch gar in ein westfälisches Fräulein verschaut!« scherzte Gertrud.
Da wurde er rot.
»Erzählt doch!« bat sie lustig.
»Nein, draußen auf dem Land,« stotterte er, »hatte ich an der Freundschaft meines Klaus genug, aber wie die Arbeit auf dem Gehöft fertig war und ich wieder in die Stadt Osnabrück kam –doch nein, Fräulein Freihofer, davon spreche ich lieber nicht –Ihr hättet sonst ein Recht, mich auszulachen –und seht: dort steigt der Meister die Straße heran! Ich gehe jetzt.«
»Ach, der ist noch weit weg und geht langsam,« hielt sie ihn fest. »In Osnabrück also hattet Ihr eine Liebschaft?«
»Bloß sechs Wochen,« gestand er.
»Wie hieß denn das Mädchen?«
»Ricke Wishelm! Sie war in einer Plätterei beschäftigt, sie brachte mir jeden Samstag das frisch gerüstete Sonntagshemd und lachte mich dann mit kugelrunden Augen an, die mich vergessen ließen, daß sie pockennarbig war und schon ein Kind hatte. Wir sind abends etwas miteinander gegangen, doch ich merkte bald, daß ich ihr nur recht war, den Wäschekorb zu tragen, und sie es mehr auf mein Geld als auf mich abgesehen hatte. Sie steckte es dem Soldaten zu, von dem sie das Kind hatte. Da hatte ich genug. Ich kündigte meinem Meister, nach einem letzten Besuch bei meinem lieben Klaus führte mich das Heimweh wieder den Rhein hinauf, und nachdem ich noch vierzehn Tage in Straßburg gearbeitet hatte, kam ich wieder ins Land! ––Aber nun danke ich Euch vielmals, Fräulein Freihofer,« schloß er, die Glieder zum Aufstehen reckend.
»Nein, es ist an mir, daß ich Euch danke, Ihr seid ein Mensch, den man gern plaudern hört!«
Bei diesem Lob heftete er wieder seinen brennenden Blick auf sie, aber sie bemerkte es nicht.
»Was zog Euch denn heimwärts?« fragte sie.
»Nichts! Ich habe ja keine Angehörigen, vielleicht wollte ich nur die Kinder Guntlis, die ich sehr liebgewonnen hatte, einmal wiedersehen und erfahren, wie es ihnen gehe, -oder ich denke, der Schöpfer hatte sonst einen Plan für mich. Wie wäre ich ohne seine Fügung nach Haldenegg gekommen!«
»Findet Ihr denn Haldenegg so schön?« scherzte Gertrud.
»Nein, aber Euch, Fräulein!« stieß er hervor. »Ihr seid die schönste, die ich je schon gesehen habe!«
»Ach was! Ihr seid ein Kindskopf,« schalt sie. »Was sollte denn Besonderes an mir sein?«
»Für mich seid Ihr wunderbar,« sagte er mit erstickter Stimme, »ich könnte Euch den ganzen Tag ansehen und würde doch nicht müd. Ihr seid so schön wie das Maiglöcklein im Wald, und das ist doch die schönste Blume, die Gott erschaffen hat. Ihr seid aber noch schöner als das Maiglöcklein!«
»Schweigt!« befahl sie ihm in raschem Zorn und mit einer verächtlichen Kopfbewegung. »Gott hat wohl auch keinen größeren Toren erschaffen als Euch!«
»Warum sollte ich ein Tor sein?« fragte er einfältig.
»Weil es Euch nichts angeht, ob ich hübsch oder häßlich bin!« Lachen und Ärger stritten sich in ihrem Gesicht.
»Nein, es geht mich nichts an, aber ich muß Euch doch bewundern und lieben, seit ich Euch das erste Mal gesehen habe. In der Kirche war's,« sprach er mit eigenartig gedämpftem Ton. »Und wie sonderbar, Tag und Nacht wünschte ich bloß, daß ich einmal auf dem Freihof arbeiten dürfte, um Euch näher zu sein. Nun ist es so gekommen. Und ich dachte: wenn ich nur einmal mit Euch ungestört reden könnte. Nun habe ich's gekonnt! Ist das nicht wunderbar?«
»Es ist aber auch das letzte Mal!« rief Gertrud erregt. Balz war ihr unheimlich geworden.
»Je mehr Ihr mich mit Euren blauen Augen anblitzt, desto schöner erscheint Ihr mir,« rief er schwärmerisch, »und erzürnen habe ich Euch, weiß Gott, nicht wollen, Fräulein. Nein, nein, ich bitte Euch tausendmal um Entschuldigung und danke Euch!«
Damit ging er in zitternder Aufregung.
Hinter ihm lachte Gertrud ärgerlich und rief, obgleich sie allein in der Stube war: »Hat man je einen solchen Hansnarren erlebt!« Zornig klopfte sie mit dem Fuß auf den Boden.
Nach dem Ärger auf Balz kam das Erbarmen mit ihm. Wie bös hatte ihn das Schicksal als Findelkind in die Welt und später zu dem Teufelsseher Guntli geschleudert! Da ließ sich sein Heißhunger begreifen und daß irgend ein Rädchen in seinem Kopf nicht richtig lief. Und die armselige Liebschaft in Osnabrück! Gewiß, er verdiente Mitleid, er war aber doch ein Narr, allerdings ein armer unschuldiger Narr. Das ging daraus hervor, wie er zu ihr gesprochen hatte. So töricht! Wenn er auch nur einen klaren Funken im Hirn hätte, so müßte er doch das Zwecklose seiner Verliebtheit einsehen! Sie wollte ihm nie wieder Gelegenheit geben, mit ihr allein zu sein! Sie regte sich, wie wenn sie etwas Unangenehmes von sich schütteln wollte, und zwang ihre Gedanken hinüber zu Röbi.
Der mußte nun doch bald kommen!
Sie horchte von der Arbeit auf. Der Vater war wieder zurück, draußen unterhielt er sich lebhaft mit Meister Hildebrand, bald aber trat er grüßend in die Stube, lieh sich, von dem Gang in den Wald hungrig, einen Imbiß reichen, notierte sich von der Nachschau im Kahlschlag manches in ein Taschenbuch, spottete auf Hildebrand und lobte Balz.
Gertrud erzählte ihm noch unter dem frischen Eindruck des Gehörten die Lebensgeschichte des seltsamen Gesellen, doch wenig von seinen tollen Redensarten. Wozu ihm die gute Meinung von Balz verderben?
Plötzlich stand er auf. »Ich erinnere mich noch an das Trauerspiel von Gerhardszell. Es wurde auch in unserer Gegend viel davon gesprochen. Wie lang ist's her? Vier Jahre! Ohne Balz zu kennen, dachte ich schon damals, es schreie zum Himmel, daß eine Gemeinde einen Jungen bei dem kranken Mann untergebracht hatte. Da leben ja unsere Kühe wie Königinnen im Stall!«
Gertrud mußte über das Wort lachen.
»Es ist eine Wahrheit,« bestätigte er seinen Satz. »Denke einmal, Balz hätte liebevolle Eltern besessen, sie hätten auf die Talente gehorcht, die in dem Knaben schliefen, und ihn bilden lassen. Was wäre aus ihm. geworden! Doch spricht es für die Unverwüstlichkeit des Guten im Menschen, daß er bei dem verrückten Meister ein so vorzüglicher Arbeiter geworden ist. Im übrigen, Gertrud, es ist viel Leid auf der Welt! Auf dem Weg nach dem Wald war ich noch im Dorf, du weißt, der Pfarrer rief mich zu Metzger Stahl, der in einem Zornanfall wieder einmal Tische, Stühle und Spiegel in seinem Haus zusammengeschlagen hat. Nun, ich sprach dem Wüterich ins Gewissen –mit welchem Erfolg, weiß ich nicht. Auf dem Rückweg aus dem Schlag trat ich noch rasch ins Pfarrhaus, um Geißmann über meinen Besuch bei Stahl zu berichten. Da traf ich zuerst Gritli und plauderte ein wenig mit ihr. Gott, was sieht sie elend aus! Es ist mir noch nie aufgefallen wie heut'. Sie war wohl stets etwas zart, hat aber doch die letzten Jahre geblüht wie eine Heckenrose. Jetzt ist sie so durchsichtig, daß ein Windhauch sie umblasen könnte. Es täte mir leid, wenn dem Mädchen etwas geschehen müßte. Sie ist ein so braves Kind. Ich riet dem Pfarrer, daß er ihr eine Luftveränderung verschaffe. Aber er meinte, es fehle Gritli nicht an guter Luft, sondern an einer Stelle, wo ihr keiner helfen könne! Er spielte damit, glaube ich, auf Röbi an.«
Der Tag war dem Zwielicht gewichen, und das war gut, sonst hätte der Freihöfler sehen müssen, wie blaß seine Tochter am Fenster saß.
Um ihre Liebe zu Röbi spürte sie Stich um Stich im Herzen.
»Röbi hat gegen Gritli nichts auf dem Gewissen!« zitterte ihre Stimme.
»Ich beschuldige ihn auch nicht,« knurrte der Freihöfler. »Was aber Röbi dem Mädchen nicht hinter das Ohr setzte, tat seine Großmutter. Man sprach hüben und drüben zu viel über Dinge, die man still hätte wachsen lassen sollen, aber ich fürchte doch, daß es nun vor den Leuten den Schein habe, als ob du Gritli den Geliebten entfremdet hättest.«
»Oh, das denkt wohl niemand,« versetzte Gertrud zaghaft.
Da streckte Knecht Wälti, der struppige Eigenbrödler, den Kopf in die Tür und rief den Vater wegen einer Kuh in den Stall.
Gertrud blieb in der einfallenden Nacht am Fenster sitzen, und ihr war, das Herz flattere ihr wegen des verhärmten Gritli in der Brust.
Wie Röbi unter der männlichen, genoß Gritli unter der weiblichen Dorfjugend von jeher das Ansehen eines Vorbildes. Von der Mutter, die aus einem vornehmen, doch verarmten Hause stammte, hatte sie die gewählten Sitten, vom Vater den lebhaften Bildungstrieb ererbt. Mit gutem Sinn fügte sie sich in die bescheidenen Verhältnisse ihres Elternhauses, auf dem mancherlei Sorgen lasteten, so der Unterhalt von zwei auf dem Gymnasium studierenden Söhnen und viel anspruchsvoller Besuch von seiten der Verwandten der Pfarrerin. Ein wesentlicher Teil der täglichen Arbeit lag auf Gritli. Sie, die eher zur Zierde eines Herrenhauses als für geringe Dienste geboren schien, nähte und flickte, wusch und plättete und scheuerte die Fußböden, hielt aber, wie tief sie manchmal im Staub und Schmutz kniete, stets Kopf und Seele hoch, ja es schien, als litte ihre weiße Haut nichts Unreines auf sich und als kämen ihre Kleider stets frisch aus dem Schrank. Dabei sprach sie vor den Freundinnen kaum je von ihren harten Arbeiten, sondern am liebsten von Büchern und anderen Bildungsangelegenheiten, wie wenn ihr die Zeit in frei gewählter Tätigkeit dahinflösse.
So war etwas Sonntägliches in der Erscheinung und im geistigen Wesen der Pfarrerstochter, aber einen Schmuck aus früheren Tagen hatte sie verloren: den feinen Mutwillen und das silberne Lachen, die ihr entzückend gestanden hatten.
Erkennbar zitterte in ihrem nicht ganz regelmäßigen, doch lieblichen Gesicht, um das sich das blaudunkle Haar in Zöpfen und Locken wand, ein Zug heimlichen Leides, der nun ja auch dem Vater aufgefallen war.
Hatte Röbi vielleicht doch unedel an Gritli gehandelt?
Gertrud erschrak über die Frage aus ihrem Innern, aber sie tröstete sich. Sie wußte es ja von Röbi selbst: was ihn mit Gritli verbunden hatte, war eine reine Jugendfreundschaft gewesen, nicht die Liebe, sondern nur das Vorspiel der Liebe, wie es sich tausendfältig unter Nachbarskindern ereignet, ohne daß sie sich dann wirklich fürs Leben finden. Nie hatte Röbi zu Gritli ein verpflichtendes Wort gesprochen, und das ältere Recht, das sie auf ihn zu haben glaubte, bestand nur in Gritlis eigener Einbildungskraft. Nein, daran, daß ihre Herzenswunde nicht narben wollte, trug sogar jemand anders die Schuld: die Großmutter Röbis, die herbe Bäuerin!
Die dicht beim Pfarrhaus wohnende, eigensinnige und etwas schwermütige Frau hatte von vielen Jahren her Gritli so sehr in ihre Liebe geschlossen, daß sie ihr stets wieder einredete, sie und leine andere sei die berufene Frau für Röbi. Zum großen Verdruß ihres Enkels! Selbst jetzt, da sie wußte, an wen er seine Hand vergeben hatte, tröstete sie die junge Nachbarin noch Tag um Tag: »Und er kommt wieder zu dir, so gewiß es einen Gott im Himmel gibt, kommt er wieder zu dir!«
Was Wunder, daß das von ihr stets ausgehetzte, bemitleidenswerte Gritli nie zu seinem inneren Frieden kam!
Gertrud seufzte tief.
Gewiß hatte Röbi schon wegen seiner Großmutter keine leichte Heimkehr. Sie würde stets wieder die Beredsamkeit ihrer hohen Jahre aufbieten, um ihn zu seiner Jugendfreundin zu bekehren.
Jetzt aber lächelte Gertrud.
Trotz allen Widerwärtigkeiten kam Röbi über die Osterferien heim! Und er kam nur ihretwegen und war der Mann, der, was er einmal wollte, kraftvoll durchsetzte –auch seine Liebe!
So träumte sie in die ahnungsreiche Frühlingsnacht.