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Der Palmsonntag war mit strahlender Sonne und tiefblauem Himmel heraufgestiegen, aus den angrünenden Saaten schwangen sich die Leichen in die klare Luft –höher –höher und schlugen ihre Triller.
Der Freihöfler und Gertrud hatten sich in großen Sonntagsstaat geworfen. Er trug den schwarzen Frack mit den langen Schwalbenschwänzen und den hohen steifen Hut, die ihm die Würde eines Patriarchen gaben. Sie hatte die große Mädchenfesttracht des Berglandes angelegt, das vielgefältelte Kleid aus hellblauer Seide. Um das zartgetönte Mieder und den blühendweißen Brusteinsatz liefen die Silberschnallen und Silberketten, um den Hals das aus durchbrochenen Goldplättchen gefügte Kollier, ein altes, kunstreiches Erbstück. Auf dem Haupt schwankten ihr zwei steife, halbdurchsichtige Flügel, als hätte sich ein duftiger Schmetterling darauf gesetzt. In den blonden Zöpfen stak der große Silberpfeil, auf dessen ziselierter Feder geschliffene Steine glänzten, und in den Händen, die von kunstreich geknüpften, durchbrochenen Handschuhen bedeckt waren, ruhten das silberbeschlagene Gesangbuch und ein duftiger Veilchenstrauß.
Ein vornehmes und demütiges Kind ihres Berglandes, schritt sie neben dem würdevollen Alten die Straße nach Haldenegg hinab.
Sie wechselten nur dann und wann ein Wort über den Glanz des Tages, manchmal aber gab der Freihöfler seiner Tochter einen verstohlenen Blick, und der Ausdruck seines Gesichts verriet etwa den Gedanken: Röbi Heidegger, du bist wahrhaftig nicht auf den Kopf gefallen, auch andere hätten sich in das liebe Menschenkind verschauen können!
Indem er sich vaterstolz an der Jugend seiner Tochter sonnte, gedachte er in Wehmut seines verstorbenen Weibes. Wie doch in der Welt alles aufblüht, welkt und vergeht!
Die Glocken von Haldenegg erhoben ihr feierliches Spiel, diejenigen von Buchen und Büchlisberg mengten ihre Klänge darein, es war, als sängen Erde und Himmel ein seines Frühlingslied. Auf den Wegen und Stegen, die aus der Höhe und Tiefe gegen das stattliche Dorf führten, bewegten sich einzeln und in Gruppen festliche Kirchgänger. Andere traten im sonntäglich aufgeräumten Dorf aus den Türen, die Männer und Burschen ernst und feierlich, die Frauen und Mädchen in der anmutigen Landestracht mit den sich wiegenden Flügeln.
Wo man sich traf, war ein herzhaftes Grüßen.
In der Mitte des Dorfes, bei der alten Steinbrücke, die über den tief eingegrabenen Runsbach springt, kamen eben der Pfarrer Geißmann im dunklen Amtskleid und Gritli aus dem efeuumsponnenen, von zwei mächtigen Linden beschirmten Pfarrhaus. Da die Männer ein paar Augenblicke stillstanden und über die gebrochene Brunnenleitung sprachen, gab es sich, daß die beiden Freundinnen unabsichtlich einen Vorsprung vor ihren Vätern gewannen.
»Gelt, er ist da?« flüsterte Gritli hastig.
»Röbi –ja!« versetzte Gertrud beklommen.
So schön festlich Gritli in ihrem Trachtenkleid aussah, in ihrem schmalen Gesicht trug sie die Spuren der Übernächtigkeit und der vergossenen Tränen.
Schweigend legten sie den kurzen Weg zu der Kirche zurück, die sich mit hohem, schlankem Turm altväterisch und in schlichter Blankheit auf einem Hügel jenseits der Brücke aus einer Tannengruppe erhob und das Dorf freundlich beherrschte.
Es war Sitte in Haldenegg, daß sich die Kirchgänger, ehe sie die Kirche betraten, auf deren Vorplatz aufhielten, die Männer und Frauen in je zwei Gruppen von alt und jung. Gemessen plauderten die verschiedenen Häuflein untereinander, und die Burschen schielten mit verhaltener Neugier nach den Mädchen.
Röbi war mitten unter ihnen.
Wie gut er in dem schönsitzenden schwarzen Kleid aussieht! dachte Gertrud. Etwas männlich Reifes, Gesetztes kam in seinem Wesen zur Geltung, etwas, das vorteilhaft mit seiner geistigen Lebhaftigkeit und dem Feuer seines Blickes zusammenging. Wenn nur die häßliche Narbe nicht wäre! Sie verunzierte ihn eben doch und gab ihm einen Stich ins Bübische und Raufboldhafte.
Er hatte nach allen Seiten zu grüßen, Hände zu schütteln, Fragen zu beantworten und benahm sich dabei frei und leutselig, doch mochte es für ihn wegen der Narbe ein heimliches Spießrutenlaufen sein. Auf sie richtete sich die allgemeine Neugier.
Hier und da hatte auch einer ein kurzes Wort für seine Gedanken, doch schlug Röbi die Bemerkungen lächelnd in den Wind und tat, als spüre er auch die stumme Mißbilligung nicht, die auf den Gesichtern der älteren Männer stand.
Als er Gertrud und Gritli erblickte, kam er zu ihnen hinüber und reichte erst jener, dann merklich kühler und etwas verlegen auch dieser die Hand: »Ei tausend, was habt ihr euch schön gemacht!«
»Röbi!« tönte es wie ein leiser, wehvoller Schrei vom Munde Gritlis. Die Tränen über das schmerzliche Wiedersehen stürzten ihr unaufhaltsam über die Wangen, sie erbleichte und schwankte.
Gertrud stützte die vom Schwindel Befallene, und auch ein paar Nachbarinnen nahmen sich Gritlis an.
Nein, den Gottesdienst konnte sie nicht besuchen. Die Nachbarinnen brachten sie nach Hause.
Röbi und Gertrud wechselten nur tief erschreckte Blicke.
Da hörten die Glocken zu läuten auf. In die Menge der Kirchenbesucher kam Bewegung, sie traten in das Gotteshaus, die Frauen links hin, die Männer rechts hin in die Stühle, die Jungmannschaft auf die Empore.
Die plötzliche Ohnmacht Gritlis war von manchen Leuten, namentlich Frauen, beobachtet worden. Gertrud, die auf der Weiberseite des Schiffes ungefähr in der Mitte saß, hörte das Geflüster der Nachbarinnen: »Die Ärmste, der bricht es noch das Herz, daß Röbi Heidegger sie so treulos im Stich gelassen hat. Man muß ihr nur recht ins Gesicht blicken, so sieht man, wie sie in kurzer Zeit gealtert hat. Was der Student nur denkt! Aber er ist eben ein Leichtsinn. Das sieht man an seiner roten Schramme!«
»Still –still,« mahnte eine andere Stimme, »dort ist die Tochter des Friedensrichters, die hält's ja jetzt mit Heidegger!«
Gertrud saß wie auf Dornen. Sie wagte es nicht, sich nach den Schwätzerinnen umzublicken, und schaute in großer innerer Unruhe, doch bewegungslos auf das Gesangbuch und den Veilchenstrauß in ihrem Schoß, plötzlich aber hob sie das Haupt in die Höhe und warf einen Blick des Vorwurfs, der Strafe und der Verachtung in den Kreis der tuschelnden Weiber.
Da wurden sie still. Einen Augenblick später begann der Gottesdienst, der heute wegen der Konfirmation einer Schar Knaben und Mädchen ein besonders feierliches Gepräge trug.
Pfarrer Geißmann war ein vorzüglicher ländlicher Redner. Die etwas vornübergebeugte Gestalt straffte sich auf der Kanzel, das von einem dunklen Bart umrahmte schmale Gesicht bekam eine kräftige seelische Wärme, und der anfänglich ein wenig zögernde und stockende Vortrag wurde zum fließenden Feuer, das von Herzen zu Herzen ging.
Die Konfirmanden vor sich, sprach er heute herzbewegend von den Pflichten der Menschen untereinander, von den Versuchungen und Gefahren der jungen Liebe, die zwar locke wie blühender Frühling, unter deren Blumen aber doch manchmal eine Schlange verborgen liege, die mit ihrem Biß ein Menschenkind für immer arm und unglücklich werden lasse.
»Ihr künftigen, jungen Männer,« mahnte er eindringlich, »nehmt die Liebe ernst. Täuscht keinem Mädchen Gefühle vor, die in euch selber nur ein Strohfeuer, doch ohne Wahrhaftigkeit, Tiefe und Dauer sind! Wägt und prüft und wählt im stillen. Wo ihr aber euer lebensgroßes, heiligstes Manneswort gesprochen habt, da seid mit jedem Tropfen eures Herzblutes treu, bis euch das Alter mit weißem Scheitel krönt. Der Mann, der seine Liebe wegwirft, wirft sich selber weg und fällt aus der Gnade des Schöpfers. Gott, der in alle Kammern sieht, hat im Schicksalsspiel Fäden genug, die Lose der Menschen so zu lenken, daß jeder –der eine früher, der andere später, der dritte eist im Sterben –spürt: er ist mit seiner Güte nur denen treu, die selber treu gewesen sind –treu auch in ihrer jungen Liebe!«
Gertrud, die zuerst durch das Geschwätz der Weiber hinter ihr jede Andachtsstimmung verloren hatte, geriet allmählich in den Bann der Predigt und ließ sich von ihr ergreifen und erschüttern.
Als Pfarrer Geißmann sie im stillen Studierzimmer schrieb, hatten ihm wohl Röbi und Gritli vorgeschwebt!
Sie sah mit quälerischer Deutlichkeit das blasse, zerstörte Gesicht der Freundin, wie sie in ihrem Kämmerlein vor ihrem Bett kniete und ihr Leid mit verkrampften Händen vor sich hin schluchzte.
Wo saß Röbi?
Ihr war, sie müsse sich bei ihm Hilfe für ihr aufgeregtes Innere holen, und ihre Augen suchten ihn verstohlen auf der Empore; er hatte sich aber, wohl mit Absicht, so tief in den Hintergrund gesetzt, daß sie ihn beinahe nicht fand.
Dafür saß ihr gerade gegenüber im Vordergrund der Höhe der lange Balz, und sie konnte die Blicke nicht heben, ohne den seinen zu begegnen, die unablässig auf ihr ruhten.
Der Narr –der Narr! Sie ärgerte sich über ihn, zugleich aber spürte sie einen leisen Lachreiz darüber, wie schön sonntäglich sich der einfache Geselle vom Werktag ausstaffiert hatte. Wie ein heimlicher Geck! Er hatte das Haar auf das sorgfältigste gescheitelt, den Anflug von Schnurrbart in Spitzen wie zwei wagrechte Nadeln gedreht, im Halsknoten von Schillerseide eine Nadel mit glänzendem Stein und an einem seiner dünnen Finger irgend einen Ring. An seiner, wie es schien ganz neuen, dunklen Samtjoppe blinkten große Perlmutterknöpfe, und über die hell daraus hervorstechende Weste lief eine silberne Uhrkette, an der in zierlichen Miniaturen die Abzeichen seines Berufes hingen: kleine Hobel, Sägen, Bohrer und Stemmeisen, ein aufgereihtes Büschel von Werkzeugen.
Was half es ihm aber, daß er seine Eitelkeit spielen ließ, der Sonntagsstaat vermehrte nur den lächerlichen Eindruck seiner Erscheinung, und wenn er sich eigens für sie so sorgfältig geschmückt hatte, war seine Mühe verloren.
Sie getraute sich nicht mehr, ihn mit einem Blick zu streifen, sie sah die Unruhe, die ihn dabei überkam. Was war er doch für ein Tor!
Sie sehnte sich nach dem Schluß des Gottesdienstes, und endlich war die Konfirmationszeremonie vorüber, ertönte der Schlußgesang der Gemeinde, läutete die Glocke und begann sich die Kirche zu entleeren.
Sollte sie auf den Vater und auf Röbi warten? Nein! Jeder von ihnen hatte auf seine Art zwischen Gottesdienst und Mittagessen noch etwas im Dorf zu tun, der Vater einen alten kranken Vetter zu besuchen, Röbi Plane mit der Jungmannschaft für Ostern zu schmieden.
Dort stand er ja schon in lebhafter Unterhaltung mit Hanstöni, dem Sennen. Leis seufzend löste sie den Blick von ihm. Nachdem sie ein paar Augenblicke an dem mit Frühlingsblumen bekränzten Grab ihrer Mutter gestanden hatte, trat sie mit ein paar anderen Mädchen den Heimweg an. Durfte sie am Pfarrhaus vorübergehen, ohne nach dem Befinden Gritlis zu fragen?
Sie überlegte noch, da trat die Großmutter Röbis, die hohe, hagere Alte, deren faltig zermürbtes Gesicht und weiße Haarsträhnen zur Ehrfurcht zwangen, aus dem von einer Buchshecke umgebenen Pfarrgarten und wollte sich in das eigene, stattliche Haus begeben.
Gertrud erreichte sie mit ein paar raschen Schritten: »Wie geht es Gritli?«
Frau Heidegger grüßte die Liebste ihres Enkels mit kühler Zurückhaltung und forschendem Blick aus den tiefliegenden, geheimnisvollen Augen. »Kommt etwas zu mir herein,« sagte sie herbhöflich. »Es ist eine schwere Geschichte! Röbi stellt lauter Böses an.« Und mit einer Herzenskraft, die man ihren Jahren nicht zutraute, schalt sie über den Schmiß in seinem Gesicht.
»Oder wir können uns gerade ein bißchen setzen,« bemerkte sie und deutete in den Garten, der, durch einen Stechpalmenhag vor den neugierigen Blicken der Straßengänger geschützt, an der Frühlingssonne lag.
»Gritli hat sich erholt,« erzählte sie, »aber gut wird es mit ihr nie wieder. Sie muß wie eine Pflanze leben, die man an einem sonnenlosen Ort eingegraben hat. Und geht halt langsam zugrund! Daß Röbi sie auf dem Gewissen hat, ist mir ein Nagel zum Sarg!«
»Röbi war doch mit Gritli nie versprochen!«
»Das kann man nehmen, wie man will,« versetzte die Greisin bitter. »Wir alle glaubten, die beiden würden einmal von selber ein Paar. Gritli war der Liebling meines Sohnes, des Gemeindeschreibers. Als er nach dem Unglück beim Holzfällen, das zu seinem Tode führte, acht Monate an einem Rückenmarkleiden siech in der Stube lag –es sind nun zehn Jahre -, da waren die beiden Kinder sein Trost und sein Sonnenstrahl. Das damals etwa dreizehnjährige Gritli vor allem! Sie brachte ihm Blumen, sie sang die Schullieder an seinem Bett, sie erzählte ihm aus den Büchern, die sie las, und tat ihm Handreichungen, so viel in ihrer schwachen Kraft lag. Niemand hatte sie geheißen, niemand sie angeleitet. Ihre Gegenwart und ihr Beispiel wirkten auf Röbi, der nicht so geduldig war, und so hatte der Kranke wenigstens die Kurzweil der Kinder. Und in einer seiner großen Bangigkeiten, die ihn gegen das Ende manchmal überfielen, bat er Gritli, daß sie Röbi nie verlasse, und ebenso sprach er Röbi zu, daß er treu an Gritli hangen möge. Den Weg, den er ihnen wünsche, fanden sie dann von selbst. Mir band er es noch in seiner letzten Stunde auf die Seele, daß ich, solange ich lebe, die Hüterin seines Willens sei. Und ich war's aus Treue gegen den Verstorbenen und aus der eigenen Überzeugung, daß das wahre Glück Röbis nur bei Gritli sein kann. Aber wie ging's? Gritli hielt die Worte des Sterbenden heilig in Fleisch und Blut, und Röbi, sein eigener Sohn, schlug sie, als er auf die Universität kam, in den Wind! –Da hat man die Bildung. Wäre er doch Bauer geworden!«
»Mir tut es ja um Gritli auch leid,« erwiderte Gertrud mit besorgter Teilnahme. »Aber sagt, der selige Gemeindeschreiber Heidegger hat meinen Vater zu Röbis Vormund bestellt, aber ihm diesen Herzenswunsch nie verraten. Das ist sicher! Sonst hätte der Vater wohl sehr ernst mit Röbi darüber gesprochen, als er um meine Hand anhielt. Löst mir dieses Rätsel, Frau Heidegger!«
»Nein, dein Vater wußte nichts davon, nur ich und die Kinder!«
Die strengen, grauen Augen der Alten forschten im Gesicht der Verlobten ihres Enkels. Gertrud hatte das Gefühl, sie sei ihre besondere Feindin.
Als ob Frau Heidegger den Gedanken in ihrer Seele lese, versetzte sie: »Ich weiß wohl, daß du an diesem Unglück nicht schuld bist, sondern Röbi. Der Trotzkopf wird es aber schon einmal bereuen, daß er Gritli, das liebe, gute, plötzlich wie ein unwertes Geschöpf verworfen hat. –Und du wirst mit ihm leiden! –In seinen Träumen wird er den Arm nach dir ausstrecken, aber er wird nicht ›Gertrud‹, sondern ›Gritli‹ flüstern. –Denn sie hat er zuerst geliebt!«
Die Worte der leidenschaftlichen Greisin klangen Gertrud wie die Verwünschungen ihres künftigen Liebesglückes ins Ohr. Sie erhob sich, und als sie nach Hause kam, wußte sie vor Verwirrung selber nicht mehr, wie sie bergan gegangen war.
Kein Wunder, daß sich Röbi zuweilen tief über die Bosheit seiner Großmutter beklagte!
Sie hatte gedacht, sie würde wegen der Erlebnisse am Morgen den ganzen Tag nicht mehr lachen. Nun aber, da nach dem Mittagessen der lange Balz gestiefelt und gespornt auf den Hof kam, kicherte sie doch: »Ein seltsamer Reitersmann, wie man noch keinen gesehen hat! Der Braune wird sich darüber verwundern.«
»Der Braune nicht einmal,« erwiderte der Freihöfler. »Balz und er haben bereits Freundschaft geschlossen. Der Geselle geht jeden Tag in den Stall, tätschelt ihn und teilt mit ihm das Brot. Er muß viel von Pferden verstehen. Das sagt Wälti!«
Damit ging der Vater hinaus, um ihm das Tier zu geben. Und nachher besorgte er die Einträge in sein landwirtschaftliches Tagebuch.
In einer einsamen Stunde hing indessen Gertrud auf der Bank vor dem Hause ihren Gedanken nach. Sie waren so trüb und schwer, daß sie es nicht beachtete, wie Röbi kam und sie eine Weile teilnahmvoll betrachtete.
Nun ging er sacht zu der auf den Boden Blickenden und weckte sie mit einem sanften Kuß auf die blonden Zöpfe.
»Röbi!« fuhr sie schreckhaft zusammen.
Sie staunte über sein helles Lachen. Er war so munter und froh gestimmt, als habe er das ohnmächtige Gritli schon vergessen.
Es war keine Zeit zur Aussprache.
Der Vater kam zum Nachmittagskaffee, und nachher machte er mit dem jungen Paar einen Gang durch die Wiesen, Felder und Wälder seines Besitztums, in dem sich überall der Frühling regte, und stellte mit dem scharf beobachtenden Auge des Bauern seine Betrachtungen über die Mannigfaltigen Bilder am Wege an.
Röbi folgte dem Gespräch aufmerksam und machte dazu manche kluge Bemerkung, die das alte Bauernherz heimlich erfreute. Als der Freihöfler sagte, daß er morgen in das Runstal zu gehen gedenke, um selber nach dem Wasserbruch zu sehen, erbat Röbi die Erlaubnis, ihn begleiten zu dürfen, und gab ihm auch sonst noch manche Beweise, daß in ihm kein Groll wegen der scharfen Vorwürfe von gestern abend zurückgeblieben sei. Das gefiel Gertrud. Aber ihr selber war die Sprache wie verschlagen, und unter Selbstvorwürfen blieb sie bei den Gesprächen der beiden Männer die stumme Lauscherin. Sie brachte Gritli nicht aus dem Sinn.
Dann und wann gab ihr Röbi wegen ihrer Schweigsamkeit einen sorgenden Blick.
Nein, sie konnte nicht sprechen, ihm nicht einmal mit einem Lächeln danken, als er ihr einen Strauß Schneeglöckchen ins Mieder steckte.
Sie erreichten eine Anhöhe am Waldrand, von der man den Freihof und fast den ganzen zugehörigen Besitz überblickte, dahinter das in Hügeln, Bergen und Tälern bewegte Land. Neben einer alten breitkronigen Buche lag ein großer, zum Sitzen geeigneter Findlingsblock.
»Da wollen wir eine Viertelstunde Rast halten,« sagte der Freihöfler, »und dann heimgehen. Ich muß heute abend den Stall selber besorgen; Wälti, der seinen freien Tag hat, ist auf Verwandtenbesuch nach Rütiboden gegangen. Da wird es schon neun Uhr, bis er zurück ist. –Das ist mein Lieblingsplatz! Du erinnerst dich, Gertrud, daß ich hier oft mit deiner verstorbenen Mutter saß und mit dir. Wir haben dann zusammen gesprochen, was der Freihof doch für ein schönes Heimwesen sei, und uns daran gefreut. Es ist ja auch eine Pracht, wie er in das Land hinausschaut. Und manchmal fragten wir uns, wer einmal als Tochtermann drauf zu sitzen komme. Wir meinten, daß es ein junger Bauer aus gutem Haus sein müsse. Nun, Röbi, bist du es! Ich kann mich je länger desto leichter in den Gedanken finden, aber nur, wenn ich erwarten darf, daß du deine Anwaltstube einmal auf dem Freihof einrichtest, denn ich möchte nie ein einsamer alter Kracher werden, der einzig mit Magd, Knecht und Vieh zusammenlebt, nein, ich möchte mich an euch und an kommenden Enkeln freuen und dabei die Landwirtschaft fortführen, solange die Knochen halten. Ich gebe ja zu, daß irgend eine große Ortschaft für dich Vorteile hätte, aber wenn du ein tüchtiger Fürsprecher bist, so wird man dich auch auf dem Freihof finden, und es wird dem Haus nicht schlecht anstehen, wenn an der Wand gegen die Straße hinaus ein weißes Täfelchen angeheftet ist, auf dem steht: ›Dr. jur. Robert Heidegger, Rechtsanwalt‹. Besonders, wenn der Anwalt im Volk Vertrauen und Ansehen genießt!«
So erging sich der Freihöfler in sonnigen Zukunftsbildern.
Gertrud vermochte die Stimmung zur Mitfreude daran noch nicht zu finden.
Zum Glück entging es dem Vater, der jedenfalls auch nichts davon erfahren hatte, daß Gritli Geißmann an der Kirchentür ohnmächtig geworden war.
Nun schritt er mit der Jugend bergab und gegen den Hof. Früher als für manchen anderen war für ihn das Palmfest zu Ende, noch bei hellem Tag begab er sich werktäglich gekleidet in den Stall und besorgte das Vieh.
Röbi und Gertrud hatten nun den schönen Abend für sich allein.
Sie setzten sich auf die Bank vor dem Hause und blickten in die Sonne, die sich zwischen weißen Wolkenburgen zum Untergang rüstete, da und dort ein goldenes Strahlenbündel auf die Landschaft warf und im weitausgedehnten Getäfel der Felder und Wälder die vielgeschlungenen Flußläufe und einen Streifen des Sees aufblitzen ließ.
Plötzlich begann Gertrud mit gesenktem Kopfe: »Röbi, ich bin so traurig wegen Gritli Geißmann. Ihre Ohnmacht, die Predigt ihres Vaters find mir furchtbar zu Herzen gegangen, am stärksten ein Gespräch mit deiner Großmutter, die just aus dem Pfarrhaus trat, als ich von der Kirche kam.«
»Mit der hättest du allerdings nicht sprechen sollen,« grollte er auf. »Sobald es sich um Gritli Geißmann handelt, ist sie ein Unglücksweib.«
Der Ärger lief über sein Gesicht und färbte die Narbe dunkelrot.
Im nächsten Augenblick aber ließ er ein mächtiges Gelächter erschallen, sprang auf und klatschte in die Hände, als wollte er einer Theatervorstellung Beifall zollen.
»Don Quichotte de la Mancha ist auferstanden!« rief er. »Das ist ja ein Reiter zum Totlachen, der muß im Kalender abkonterfeit werden!«
Der lange Balz ritt auf dem Braunen in den Freihof ein, und obgleich Gertrud ein trauriges Herz hatte, mußte sie selber ein wenig über den langen, dünnen Reitersmann lächeln, der den Kopf des Pferdes hoch überragte und dem die Spindelbeine fast auf den Boden hingen.
Nun war er vor der Stalltüre abgestiegen und liebkoste den Braunen.
Als das Tier sein Heim wiehernd begrüßte, kam der Vater aus der Scheune und unterhielt sich mit Balz.
Röbi, der sein Gelächter immer noch nicht gebändigt hatte, wollte zu den beiden hinüberlaufen.
Gertrud aber hielt ihn zurück: »Wozu willst du dem Gesellen die Sonntagsfreude verderben? Der Spott über ihn steht dir ja auf dem Gesicht!«
»Nein, ich werde ihm sagen, daß er ein vorzüglicher Reiter ist,« versetzte Röbi, seine Heiterkeit dämpfend. »Wie hat er hier die Schwenkung genommen! Das tut ihm nicht jeder nach, der vorgibt, auch reiten zu können. Das Lächerliche liegt ja nur an seiner Gestalt!«
Balz hatte das Tier in den Stall geführt und verabschiedete sich vom Freihöfler mit vielem Dank und strahlender Freude. Als er in seinen Sporenstiefeln über die Hofstatt ging, entdeckte er das Paar, das er beim Einreiten nicht bemerkt hatte, und warf einen verwunderten und etwas bestürzten Blick auf Röbi; er faßte sich aber rasch, grüßte höflich und zögerte sogar einen Augenblick, als erwarte er von Gertrud, daß sie sich nach seinem Ritt erkundige.
Sie war aber nicht zu einer Unterhaltung mit ihm aufgelegt, nickte ihm nur freundlich zu und ließ ihn gehen.
Auch Röbi grüßte den Gesellen achtungsvoll und ernsthaft.
Das überraschte Gertrud.
»Du siehst, wenn es gilt, kann auch ich mich zusammennehmen. Aber wunderliche Menschen seid ihr auf dem Freihof. Wer sonst als ihr leiht einem zufällig auf dem Hof tätigen fremden Arbeiter ein Pferd zu einem Sonntagsritt?«
»Nun, das haben sie doch in Westfalen auch getan, sonst hätte Balz nicht reiten gelernt!« gab Gertrud zurück.
»Ihr habt nun einmal an dem Don Quichotte den Narren gefressen, du wie der Vater,« lachte Röbi mit offenem Spott.
»Den Namen hast du vorhin schon einmal gebraucht –wer ist denn das?« fragte sie leicht gereizt.
»Ein berühmter spanischer Ritter, ich will dir seine lustige Geschichte erzählen.«
Da brach ihr der Faden der Geduld. »Nein,« sagte sie mit verhaltener Heftigkeit. »Ich mag es diesen Augenblick nicht. Was kümmert mich der Ritter? –Röbi, spürst du es denn nicht, daß mir um Gritli Geißmann todesbang ist, daß du von ihr mit mir sprechen sollst? Dort bei dem Stein unter der großen Buche, wo wir heute mit dem Vater saßen, hast du mir den ersten Kuß gegeben. Was war das für ein goldiger Herbsttag! Ich fürchte, Röbi, du hast mir damals über dein Verhältnis zu Gritli nicht die volle Wahrheit gesagt. Du hast mir nicht gesagt, daß euch schon dein Vater auf dem Sterbebett halb verlobt hat! Nun weiß ich's von deiner Großmutter. Und es ist eine ernste Sache, weil sich die Liebe Gritlis darauf beruft.«
Ein tiefes Leid stand ihr im Antlitz.
Vor ihrer Gewissensnot mußte Röbi sprechen.
»Gewiß waren Gritli und ich jugendlang gute Freunde,« warf er in dumpfem Zorn hin. »Ich hatte einen knabenhaften Gefallen an dem zarten, doch lebhaften Mädchen und dachte in meinem Bubensinn oft, wir müßten ein Paar werden. Gritli ebenso, ja vielleicht haben wir dadurch in kindlicher Unschuld den Sterbenden auf den verhängnisvollen Gedanken geführt, daß aus den Kinderträumen eine Art Vermächtnis und Gebot entstand. Das scherte mich manche Jahre nicht groß, und Gritli war mir recht. Es kam aber eine andere Zeit. In mir erwachte die innere Auflehnung gegen die Unnatur, daß ich schon als Junge gebunden sein und auf mein Selbstbestimmungsrecht verzichten solle. Diesen inneren Kampf spürte die Großmutter, das eigensinnige Weib, das ich beinahe hasse. Sie fing jedesmal Händel mit mir an, wenn ich von einem anderen Mädchen als Gritli sprach, und in der Nacht betete sie so laut und lange für Gritli und mich, daß ich den Verdacht schöpfte, ihre Worte seien mehr für mich als den Herrgott bestimmt. Da kam mir der Trotz. Am Morgen nach einem der Gebete sagte ich ihr: ›Von diesem Wurmzucker hab' ich genug, ich will von Gritli nichts mehr wissen –ich liebe Gertrud Freihofer!‹ Das war wenige Tage, bevor ich die Universität bezog, also lange ehe ich dir meine Liebe bekannte.«
»Hast du mit Gritli je von Liebe gesprochen –habt ihr euch ein Treuwort gegeben –euch geküßt?« forschte Gertrud mit gequälten Augen.
»Nicht bis zum Vorabend meines Abganges zur Universität. Noch spät machten wir in sternenklarer Herbstnacht einen Gang auf einsamem Weg. Vielleicht hatte die Großmutter mich verraten, –ich spürte an Gritli ein zitterndes, fieberndes Wesen, sie sprach zum erstenmal wieder von unseren Jugendtagen, und als wir unter einem Weidenbaum am Runsbach umkehrend den Weg zurückgehen wollten, bat sie mich um einen Kuß. Als ich ihr den Kuß gab, wußte ich: es war der einzige. Auch sie merkte es. Wir gingen schweigend gegen das Dorf zurück. Sie begann zu weinen, die Tränen stießen mich ab, und als sie sagte: ›Röbi, du hast eine andere lieb, ich spüre es,‹ da erwiderte ich: ›Ja‹! –Einen Namen nannte ich nicht. Das Ende unserer Jugendfreundschaft war da, wir haben uns später nie mehr unter vier Augen gesehen. Ich hatte überhaupt nur noch Gedanken für dich!«
Gertrud war überzeugt, daß Röbi die volle Wahrheit sprach, fand aber den inneren Frieden bei seinen Worten nicht.
»Nur noch Gedanken für mich,« versetzte sie langsam und träumerisch. Schwer kam es aus ihrer Brust. »Also bin ich doch diejenige, die Gritlis Glück im Wege stand –und steht! Jede schöne Stunde, die ich mit dir erlebe, muß mir als ein Raub an ihr erscheinen, und bei jedem Kuß, den du mir gibst, muß ich denken: ohne mich gehörte er Gritli. O Röbi! du wußtest, wie heiß sie dich liebte, und nahmst den Weg doch zu mir. Warum –warum?«
Den Kopf voll blonder Zöpfe tief gesenkt, die Hände gefaltet, saß sie in, Schmerzen da.
»Warum?« nahm Röbi nach einem Weilchen das Wort auf. »Weil nicht Gritli, sondern du das hochsinnige Weib bist, dessen ich einmal im Lebenskampf bedarf. Es ist ja wahr, wie du noch ein Kind warst, da habe ich mir nicht zu viel aus dir gemacht. Wohl weil du zwei Jahre jünger bist als ich. Das zählt in jenen Tagen. Und ich sah nur das seine in Pfarrhausluft aufgewachsene Gritli. In den Gymnasialjahren aber kam das anders. Wenn ich deinem Vater meine Quartalzeugnisse brachte oder sonst in Mündelsachen mit ihm zu sprechen hatte, sah ich dich, ich sah von Mal zu Mal, wie deine blauen Augen tiefer, sinnender wurden, deine Lippen röter, dein Wesen holder und voll natürlicher Würde. Ich sehnte mich nach den Gelegenheiten, auf den Freihof kommen zu dürfen, und wenn du dem, was ich mit deinem Vater sprach, in schweigender Klugheit zuhörtest, schlug mir stolzem Jungen das Herz manchmal so stark, daß ich fürchtete, ihr müßtet es hören.«
»Ja, das war eine selige Zeit!« flüsterte Gertrud. »Mir war bei deinen Besuchen stets, ich sollte dir davonlaufen. Und dann blieb ich doch.«
Die Erinnerung an die erwachende Liebe tat ihrem beschwerten Gemüt wohl.
»Nein, du bist mir davongelaufen,« lachte Röbi hellauf, »ein paarmal, wenn ich mit dir nur Alltägliches sprechen wollte. Und ich wußte, es war für mich ein glückliches Zeichen. –Doch nicht davon wollte ich dir erzählen, sondern wie ich damals in innerer Angst und Beklemmung zwischen Gritli und dir zu vergleichen begann. Ich konnte mir lange sagen, daß Gritli dir in Wissen und Künsten, in dem, was ich die äußere Bildung nennen will, überlegen sei, –mein Herz flog dir zu! Garten- und Waldblume: so empfand ich den Unterschied eures Wesens. Und meine Seele jubelte der Waldblume zu, der Blume, die sonnig und kraftvoll aus der Scholle, dem Licht und dem Tau, den Tagen und Nächten der Heimat gewachsen ist. Denn, Trudi, in mir selber steckt ja doch am allerstärksten der Bauernbub, und dessen freue ich mich!«
Gertrud war tief still geworden, ihre Hand, die in der seinen ruhte, umfaßte seine Finger fester, in ihrem Druck lag es wie eine Bitte: »Laß mich schweigen, du aber sprich!«
»Ich glaube nicht, daß ich mit Gritli unglücklich geworden wäre,« sagte er. »Aber wenn ich mich voll entfalten, all das Schöne und Gute, das vielleicht in mir ist, entwickeln soll, bedarf ich deiner. Ich brauche dich in den Stürmen des Lebens, in jenen Zeiten, da mir Gritli zu sanft wäre und mir nichts zu sagen hätte. Du bist das größere, du bist das stärkere Weib! An dir kann ich mich, wenn ich in mir selber verwirrt bin, und in allen Lebenslagen halten –an deiner Seelenklarheit, an deiner großdenkenden Klugheit, jenen Urkräften menschlichen Wesens, die nicht anerzogen oder herangebildet werden können, sondern geheimnisvolle Gaben der innersten Natur sind. Du bist mein guter Stern, Trudi, keine andere!«
»So viel Glauben verdien' ich nicht, doch danke ich dir,« flüsterte sie mit heißem Atem. »Ich werde so trostreich bei dir!«
Und was hätte Röbi für sie nicht noch Süßes und Hohes gewußt in seinem Liebesdrang!
Ihnen beiden war, sie feierten noch einmal Verlobung in der Wen, sternenreichen Frühlingsnacht.
Da öffnete sich über ihnen das Fenster.
»Was treibt ihr denn, Trudi und Röbi?« rief der Freihöfler. »Zu Nacht gegessen hab' ich allein! Jetzt gehe ich zur Ruhe, und ihr findet hoffentlich dem Faden auch ein Ende! –Gute Nacht, Röbi, du brauchst nicht mehr hereinzukommen. Wenn du aber morgen mit mir ins Runstal gehen willst, sei um sechs Uhr bereit!«
Das Paar erhob sich, Röbi rief seinem künftigen Schwiegervater ein helles »Gute Nacht!« empor. Hände suchten sich in Zärtlichkeit, und Lippen bebten im Kuß.
Als Röbi gegangen war, ließ Gertrud ihren Tränen freien Lauf.
Sie waren die große Ausspannung des bewegten Tages –Tränen des Glücks! Wie war sie kleinmütig gewesen! –Wenn einer aber spricht wie Röbi, welche junge Seele soll da nicht an ein Glück glauben, hoffen und mutig werden? –Wie war er groß! Und sie wollte nicht kleiner sein als er.