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Zweiundzwanzigstes Kapitel.
Der Postbezirk E

Um diese Begebenheit verstehen zu können, müssen wir untersuchen, womit sich Inspektor Byrnes in den letzten Tagen beschäftigt hatte.

Der Polizeichef empfand es höchst peinlich, daß alle seine Anschläge zur Entdeckung des Geheimnisses der Drohbriefe bisher mißlungen waren; er beschloß deshalb einen letzten Versuch zu machen und geradeswegs auf den Feind loszugehen. Die in verwandten Fällen gebräuchlichen Mittel waren erschöpft, auch einige ganz neue ohne Erfolg geblieben; selbst die künstliche Börsenpanik, auf die man so bestimmte Hoffnungen gesetzt, hatte nicht den leisesten Aufschluß über den rätselhaften Briefsteller gebracht. Aus welchem Grunde sich derselbe bei jener Gelegenheit von dem Geschäft vollständig fern gehalten, war unbegreiflich, zumal er dabei große Summen hätte gewinnen können. An seiner Stelle hatten sich nun andere Leute bereichert, viele Unschuldige hatten Verluste erlitten und der eigentliche Zweck war ganz verfehlt.

Gedankenvoll ging der Inspektor in seinem Bureau auf und ab. Die meisten Leute hatten bereits ihr Tagewerk beendet und suchten Stärkung und Erholung im häuslichen Kreise, aber er fand noch immer keine Ruhe.

»Es muß doch ein Mittel geben,« überlegte er, »des Burschen habhaft zu werden! Sollte sich's denn mit Hilfe des gesunden Menschenverstandes nicht entdecken lassen? Irgendwo muß er eine verwundbare Stelle haben! – Er hat über zwanzig Briefe geschrieben – ist denn nicht in einem derselben oder vielleicht in allen zusammengenommen ein Anhaltspunkt zu finden?«

Die tiefste Stille herrschte in dem Gemach; selbst des Inspektors regelmäßiger Tritt verhallte lautlos auf dem weichen Teppich; die Vorhänge waren zugezogen, das Gaslicht erleuchtete den Raum, und in den Glasscheiben der Kasten an der Wand, welche die Andenken und Werkzeuge früherer Verbrechen bewahrten, spiegelte sich Gestalt und Bewegung des Dahinschreitenden – fünf Schritt vorwärts, umkehren, fünf Schritt wieder zurück, ohne Hast und Rast! – Endlich stand er still, ging an seinen Schreibtisch und nahm auf dem Lehnstuhl Platz.

»So stehen die Sachen,« murmelte er, »wir wissen, es ist nicht Cowran; wir wissen, es ist nicht Cunliffe; sonst ist niemand verdächtig; die Anzeigen, die zur Lockspeise dienen sollten, haben den Unbekannten nur veranlaßt, weitere Briefe zu schreiben; bei der Aktienspekulation hat er zwar die Winke benutzt, die wir ihm zukommen ließen, aber uns keinerlei Anhaltspunkte gegeben, um ihn zu fangen. Wir haben ihm Wechsel angeboten und bares Geld, er hat beides ausgeschlagen. Jeden Antrag, mit ihm auf andere Weise zu verkehren als durch die Zeitung, hat er von der Hand gewiesen. Was für Möglichkeiten giebt es noch? – Man könnte ihn zufällig dabei betreffen, wie er den Brief in den Kasten steckt und schnell die Adresse lesen; aber stände man nahe genug, um das zu thun, so würde der Mensch schon Sorge tragen, daß man sie nicht zu sehen bekäme. Außerdem ist bei den dreitausend Briefkasten in hiesiger Stadt ein solcher Zufall kaum anzunehmen. Unmöglich könnte man auch alle Leute verhaften, die Briefe an Maxwell Golding aufgeben; die Zahl seiner Korrespondenten ist wahrscheinlich nicht gering. Fände sich eine Adresse in derselben Handschrift wie die Drohbriefe, so wäre das freilich ein Beweis! Aber, wenn nun – ja wenn –«

Er lehnte sich in den Stuhl zurück, kreuzte die Arme und schloß die Augen. Wer in das Zimmer getreten wäre, hätte denken müssen, der Inspektor schliefe. Davon war er jedoch sehr weit entfernt, vielmehr in folgende Gedanken vertieft: »Wenn der Mensch, wie es allen Anschein hat, in New-York wohnt, so wird er sich wahrscheinlich innerhalb eines gewissen Viertels bewegen, nehmen wir z. B. an, in dem Teil der Stadt, welcher im Westen von der Sechsten im Osten von der Dritten Avenue begrenzt wird, im Norden sich bis zur 42. Straße, im Süden bis zur Wall-Street erstreckt. Das ist schon ein weiter Spielraum! Tausende von Geschäftsleuten und Klubmitgliedern kommen nie über Broadway und die Fünfte Avenue hinaus. Die Strecke zwischen der 14. Straße und dem Rathaus kann außer Acht gelassen werden, da benützt er vermutlich die Pferdebahn. Man hätte ihn also während der Geschäftsstunden südlich vom Rathaus und zu anderer Zeit nördlich von der 14. Straße zu suchen. Die Drohbriefe schreibt er schwerlich im Klub oder in seinem Geschäft, sondern zu Hause. Wo mag er aber wohnen? – Nun, einerlei! – aber wahrscheinlich ist er unverheiratet und wohnt zur Miete oder in einem Kosthaus – sagen wir zwischen der 30. und 42. Straße. Sind die Briefe in jener Gegend geschrieben, so läßt sich auch mit ziemlicher Sicherheit annehmen, daß sie in einen dort befindlichen Briefkasten gesteckt worden sind, denn unnütz mit sich herumtragen würde er sie wohl nicht! Vielleicht kommen sogar sämtliche Briefe aus ein und demselben Kasten; das läßt sich aber nicht erweisen – der Poststempel giebt nur den Bezirk an. Immerhin ist es schon von Belang, zu wissen, ob alle im nämlichen Postbezirk aufgegeben worden sind, und das kann ich sofort erfahren. Seltsam, daß es mir nicht früher eingefallen ist!«

An diesem Punkt angekommen, öffnete der Inspektor seine Augen, welche erwartungsvoll funkelten, zog ein kleines Schubfach im Innern des Schreibtisches auf und nahm ein Paket Briefe heraus, die noch in den Umschlägen steckten. Es waren sämtliche Drohbriefe des Unbekannten, vom ersten bis zum letzten, alle in kritzlicher, ungleichmäßiger Schrift an Maxwell Golding adressiert, offenbar von derselben Hand. Der Polizeichef betrachtete die Stempel, einen nach dem andern, um herauszufinden, aus welchem Postbezirk die Briefe eingegangen seien. Der erste war E, so auch der zweite, der dritte, der vierte ebenfalls, auch der fünfte und sechste. – »Meiner Treu,« rief er nach einer Weile, »der Poststempel ist fast auf allen E. Soweit also treffen meine Mutmaßungen zu! Nun aber entsteht die Frage: wo ist der Postbezirk E?« –

Aus einer andern Schublade des Tisches nahm er eine große Karte der Stadt New-York, auf welcher die verschiedenen Bezirke verzeichnet waren, und fand nach kurzer Untersuchung, daß der Postbezirk E sich zwischen der 43. und 21. Straße befindet, im Osten von der Fünften Avenue, im Westen vom North-River begrenzt.

»Ein ziemlich ausgedehntes Gebiet,« sann der Inspektor, »aber so ziemlich der Stadtteil, wo ich glaubte, daß der Mann wohnen müsse. Wie soll ich aber herausfinden, welchen Briefkasten er benützt? Das ist einfach unmöglich. Wie viele giebt es denn in dem Bezirk?«

Ein Adreßbuch für Postbeamte lag auf dem Tisch, aus welchem ersichtlich war, daß sich im Bezirk E 118 Briefkasten befanden.

»Keine kleine Zahl,« murmelte der Inspektor, »aber immerhin leichter zu übersehen als einige Tausend. Wenn ich jeden einzeln überwachen ließe, könnte es zu einem Ergebnis führen. Aber so viele Polizisten sind gar nicht vorhanden! Nun, vielleicht stellt mir die Post fünfzig oder sechzig Mann zur Verfügung! Aber das könnte höchstens auf einen Tag sein, und wie weiß ich, ob der Unbekannte gerade da einen seiner Drohbriefe aufgeben wird? – Bah, das läßt sich einrichten! Man rückt eine Anzeige ein, auf welche sofort Antwort erfolgen muß; die Kasten werden an jenem Tage überwacht, und er läuft in die Falle! – Ja, aber wenn an jedem Briefkasten eine Wache steht, nahe genug, um die Adresse des Briefes zu lesen, der hineingesteckt wird – ist nicht zehn gegen eins zu wetten, daß der Bursche einen so auffälligen Umstand bemerken und Gefahr wittern würde? – Die Beamten weit davon aufzustellen, nützt gar nichts; – aber ließe sich nicht ein anderer Ausweg finden?«

Er stützte den Kopf in die Hand und sann eine Weile nach.

»Ich habe es,« rief er plötzlich, »das Mittel ist sehr einfach: Die Beamten werden in einiger Entfernung von dem Kasten aufgestellt und jeder erhält einen Schlüssel. Sobald irgend jemand einen Brief einsteckt und sich zum Fortgehen gewandt hat, öffnet der Wächter den Kasten. Ist der Brief an Golding adressiert, so wird der Mann verhaftet! Ließe es sich so nicht ausführen?« –

Er versank abermals in Nachdenken, dann sagte er mit betrübter Miene:

»Dabei ist nur eine Schwierigkeit, die zwar gering erscheint, aber doch den ganzen Plan umstoßen kann: Wenn der erste, zweite oder dritte Brief im Kasten an Golding adressiert ist, so läßt sich's machen – ist es aber der fünfzigste oder sechzigste, wie dann? Der Wächter müßte jedesmal beim Oeffnen des Kastens den ganzen Haufen durchsehen, und bis er damit fertig wird, ist der Mann ihm längst aus dem Gesicht entschwunden! Dem muß abgeholfen werden – aber wie? – Wenn sich nur die im Kasten befindlichen Briefe auf irgend eine Weise von dem zuletzt hineingeworfenen trennen ließen! Man könnte zwar jeden einzeln herausnehmen, aber dann müßten sämtliche Briefträger in den Plan eingeweiht werden! Nein, es gilt etwas auszudenken, wie man auf den ersten Blick den zuletzt in den Kasten gesteckten Brief von den übrigen unterscheiden kann! Es muß ein Mittel geben, wenn es mir nur einfiele! Die Briefe müssen alle in einem Haufen beisammen sein, und der letzte – – halt, jetzt habe ich's! Und das ist die Lösung der ganzen Frage!« –

Der Inspektor hielt einen gewöhnlichen Gummireifen in die Höhe, wie ihn alle Welt benützt, um Papiere und Bündel zusammenzuhalten. Sobald die Briefe besichtigt sind, wird der Gummiring um das Paket gestreift; beim Oeffnen des Kastens findet sich dann immer ein Bündel Briefe vor und ein einzelner. Der lose Brief ist der letzte und der Wächter sieht auf den ersten Blick, ob er Maxwell Goldings Adresse trägt. Das ist also erledigt! Die Sache ist ausführbar und soll ohne Verzug ins Werk gesetzt werden. Sofort mache ich meine Eingabe bei der Post, und am Sonntag, wenn die Leute weniger beschäftigt sind, wird der Schachzug probiert! Jetzt an die Arbeit!« –

Der Inspektor rief einen Gehilfen und ließ zu allererst eine ausführliche Karte des Postbezirks E. anfertigen, auf welcher jeder Briefkasten an seiner richtigen Stelle rot bezeichnet war. Es ergab sich, daß mehrere Kasten so angebracht waren, daß zwei derselben von einem Wächter zugleich beobachtet werden konnten, so daß nicht ganz hundert Mann bei dem Unternehmen zur Verwendung kamen.

Dann wurde die Anzeige für die Zeitung verfaßt. In derselben überhäufte man den Unbekannten mit Vorwürfen, daß er die geheimen Mitteilungen über die Schwankungen der Kurse, die ihm allein gegolten, an Dritte verraten habe. Ob das wirklich geschehen war, wußte man natürlich nicht, aber ohne Zweifel würde er sich gedrungen fühlen, die Beschuldigung umgehend zurückzuweisen, wodurch der Erfolg für den zur Ausführung des Plans bestimmten Tag gesichert erschien.

Die Postbehörde bewilligte nicht ohne einige Schwierigkeiten eine Hilfsmannschaft von fünfzig Mann; die gleiche Anzahl wurde von der Geheimpolizei gestellt, welche auch sämtliche Kosten übernahm. Am Sonntag Morgen um sechs Uhr versammelte sich die ganze Schaar im Zimmer des Inspektors. Er hielt ihnen eine Ansprache, gab die Verhaltungsbefehle und wies jedem den Briefkasten zu, welchen er bewachen sollte. Die Verabredung ging dahin, daß sobald der verhängnisvolle Brief aus dem Kasten genommen sei, der Entdecker desselben durch Erhebung seines Hutes ein Zeichen zu geben habe, worauf der zunächststehende Polizist herbeieilen und den Mann verhaften solle, der den Brief aufgegeben.

Nachdem so alles vorbereitet war, was menschlicher Scharfsinn zu erdenken vermochte, wurden die Leute auf ihre Posten geschickt und die Ueberwachung nahm ihren Anfang.

Der Inspektor saß in seinem Bureau und wartete. Aeußerlich schien in er in der ruhigsten, sonnigsten Laune; aber es läßt sich doch annehmen, daß er dem Ausgang nicht ohne Spannung und Sorge entgegensah. Es war auch nichts Geringes, was auf dem Spiele stand: in erster Linie des Inspektors Vertrauen in seine eigene Fähigkeit, – mißlang der Streich, so mußte er sich für besiegt erklären, das war ihm etwas ganz Neues, bisher nie Dagewesenes. Sollte er heute seinen Tag von Waterloo erleben? – Er zündete sich eine Zigarre an und blies mit den Rauchwolken die bescheidene Hoffnung in die Luft, daß, wenn dem so wäre, er lieber die Rolle Wellingtons als Napoleons bei Waterloo übernehmen würde! – In diesem Augenblick klopfte es laut an die Thür; zwei Polizeibeamte traten ein, zwischen ihnen ein ältlicher Herr von würdigem Aussehen mit dunkeln Augen und einem Bart, der ins Graue spielte.


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