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Gewöhnlich nahm Cunliffe das Frühstück in seiner Wohnung ein und begab sich gegen zehn Uhr nach dem Klub. Das Einhalten bestimmter Stunden war ihm förmlich zur zweiten Natur geworden, wie dies häufig bei Junggesellen vorkommt, die ein Klubleben führen und durch keinen besonderen Beruf gebunden sind. Ob morgens, mittags oder abends, – ihre Bekannten wissen stets, wo man sie treffen kann, gerade als wären sie Geschäftsleute, die ihre regelmäßige Arbeitszeit einzuhalten haben.
Als daher Hauptmann Hamilton gegen halb elf Uhr in das Klubzimmer trat, die elektrische Klingel berührte und bei dem herzueilenden Kellner einen Kirschlikör bestellte, war er so sicher, Cunliffe müsse in der zweiten Fensternische von der Thür bei seiner Zeitung sitzen, daß er erst nach einigen Minuten den Kopf dahin wandte, um ihm einen flüchtigen Morgengruß zu spenden. Als er es that, sah er jedoch nur einen leeren Stuhl, – Cunliffe war noch nicht da.
Hamilton warf einen forschenden Blick im Zimmer umher, ob sein Freund vielleicht nach einer andern Fensternische ausgewandert sei, nahm dann als Stellvertreter den leeren Sitz ein, zündete sich eine Zigarre an und fragte den Kellner, der ihm den Likör brachte, ob Mr. Cunliffe nicht gewöhnlich früher da sei.
»Freilich, Sir,« lautete die Antwort, »wenigstens eine halbe Stunde, Mr. Cunliffe hat sich noch nie so verspätet.«
»Er wird wohl zu lange geschlafen haben,« dachte der Hauptmann bei sich und beschloß zu warten. Nach reiflicher Ueberlegung dessen, was er mit dem Inspektor verhandelt, beabsichtigte er, Cunliffe den gemeinsamen Ausflug wenigstens vorzuschlagen. Lehnte er die Aufforderung ohne genügenden Grund ab, so verstärkte das den Verdacht gegen ihn; nahm er sie dagegen bereitwillig an, so stand dem Hauptmann immer noch frei im letzten Augenblick ein Hindernis vorzuschützen.
Das Klubzimmer war kein unangenehmer Aufenthaltsort für eine müßige Stunde. Die Morgensonne schien schräg durch die Fenster herein und warf das Spiegelbild der weißen Schneelandschaft ins Zimmer, an dessen Enden in zwei geräumigen Kaminen lustige Feuer loderten. An kleinen, runden Tischen verstreut, saßen fein gekleidete Herren auf bequemen Polsterstühlen, in ihre Zeitungen vertieft oder in halblautem Gespräch begriffen. Die prächtige Ausstattung des Raumes, die dort herrschende Ruhe und Wärme wirkten noch besonders behaglich, wenn der Blick dabei auf die Straße fiel, wo die Fußgänger im Frostwetter schnellen Schrittes dahineilten, mit der Hand sich die Ohren schützend, während ihr Atem in dünnen, weißen Rauchwolken in der Luft sichtbar wurde. Der Hauptmann sah zerstreut bald aus dem Fenster, bald im Zimmer umher, dazwischen wieder in die Zeitung auf seinen Knieen. Jeden neuen Ankömmling musterte er, ob es nicht Cunliffe sei; auch konnte er von seinem Sitz aus die Avenue hinuntersehen, von wo er seinen Freund erwartete. Es schlug jedoch elf Uhr und er ließ sich noch immer nicht blicken. Hamiltons Zigarre war zu Ende, er überlegte, ob er sich eine zweite anzünden solle, stand aber davon ab. Er rauchte überhaupt nicht aus Vorliebe, sondern nur weil es zu seinem Beruf gehörte. Um halb zwölf Uhr stand er endlich vom Stuhle auf, reckte seine Glieder, gähnte und schritt dem Kamin zu.
»Wahrhaftig, Hamilton,« sagte ein Herr, der nicht weit davon in einem Lehnstuhl saß, »sind Sie es! Ich dachte, es müßte Cunliffe sein, der dort im Fenster saß.«
»Weiß denn jemand, wo Cunliffe steckt?« fragte der Hauptmann.
»Nein, er wird wohl irgendwo hierherum sein!«
»Cunliffe?« schallte es aus einer Ecke am Kamin, der kommt heute schwerlich her. Ich bin ihm unterwegs begegnet; er trug einen Handkoffer – wollte verreisen, glaube ich.«
»Ein netter Kerl,« rief der Hauptmann sich den Bart reibend, »mich bestellt er hierher und ich sitze den ganzen Morgen und warte auf ihn! Hat er nicht gesagt, wo er hinwollte?«
»Ich weiß nicht, – kann sein, aber ich besinne mich nicht. Gefragt habe ich ihn nicht; er schien sehr eilig und sprang in die Pferdebahn.«
»Das ist doch zu arg,« brummte Hamilton, »mich so im Stich zu lassen! Länger kann ich nicht bleiben. Wenn er doch noch kommt, ist wohl jemand von Ihnen so gut, ihm zu sagen, ich hätte hier stundenlang auf ihn gewartet.«
Mit etwas beleidigter Miene verließ der Hauptmann das Zimmer; in welcher Erregung er sich innerlich befand, hatte ihm jedoch niemand ansehen können. Seine Bestürzung war groß! Wenn Cunliffe durchgegangen war, mußte er einen sehr triftigen Grund dazu haben. Klubmitglieder pflegen New-York nicht mitten im Winter, in der Höhe der Saison zu verlassen, und noch dazu so plötzlich, so ohne Vorbereitung! Noch am Abend zuvor hatte er mit ihm gesprochen und dieser hatte durch kein Wort, keine Miene seine Absicht kundgethan!
Die Flucht war natürlich der schlagendste Beweis für seine Schuld. Sie erklärte sich entweder dadurch, daß er in Besitz der Geldsumme gelangt war, die er begehrte, für welchen Fall er seine Maßregeln schon längst getroffen haben konnte; oder er hatte Gefahr gewittert und sich über Hals und Kopf davon gemacht, um nicht festgenommen zu werden. Die Verfolgung kam jetzt höchst wahrscheinlich zu spät, selbst wenn sie sofort beginnen konnte – er mußte mindestens zwei Stunden Vorsprung haben! Wie dem auch sein mochte, die wichtigste Frage für den Augenblick war: Welchen Weg hat er eingeschlagen? – Zuerst galt es, hierüber Erkundigungen einzuziehen!
Vom Klub aus begab sich Hamilton auf dem nächsten Weg nach Cunliffe's Wohnung. Am Eingang der Straße sah er einen Mann in schäbigem Anzug, den Rockkragen in die Höhe gezogen und die Hände in den Taschen, mit der Geberde eines Bettlers auf sich zukommen. Hamilton ging weiter, anscheinend ohne ihn zu beachten, der andere aber lief wie bittend nebenher, wobei sich folgendes Gespräch entspann: »Was führt Sie her?«
»Ich soll den bewußten Herrn überwachen.«
»Wissen Sie nicht, daß er fort ist? – Seit wann sind Sie hier?«
»Seit sieben Uhr, Sir, seitdem ist er nicht herausgekommen.«
»Man hat mir gesagt, er sei auf und davon! Ich will im Hause nachfragen. Ist er nicht da, so ziehe ich mein Taschentuch heraus und Sie gehen in das Bureau, es zu melden. Ist er daheim, so bleiben Sie hier!«
»Sehr wohl, Sir!«
Hierauf nahm Hamilton, wie um den Lästigen los zu werden, seinen Beutel aus der Tasche und reichte dem Bettler ein Geldstück; dieser zog dankend den Hut, wandte sich und ging weiter, während der Hauptmann die Treppe zu Cunliffe's Wohnung hinaufstieg. Auf sein Klingeln antwortete zuerst niemand; ungeduldig wollte er eben zum zweitenmal an der Glocke ziehen, als die Thüre aufging und ein Dienstmädchen mit ziemlich ausdruckslosem Gesicht in der Oeffnung sichtbar wurde.
»Kann ich Mr. Cunliffe sprechen?«
Das Mädchen starrte ihn an, als sei sie aus den Wolken gefallen. »Wen?« fragte sie.
»Mr. Cunliffe – Mr. Frank Cunliffe – ist er zu Hause?«
»Nein,« antwortete jene nach einigem Besinnen, »zu Hause ist er nicht.«
»Wie sonderbar! Hat er vielleicht einen Auftrag für Hauptmann Hamilton hinterlassen?«
»Hauptmann Hamilton – wer ist das?« –
»Ich bin Hauptmann Hamilton. Ist kein Zettel, keine Botschaft von Mr. Cunliffe für mich da?«
»Nein, gar nichts!«
»Wann ist er fortgegangen?«
Das Mädchen schüttelte langsam den Kopf: »Ich weiß nicht – wahrscheinlich heute früh; ich habe ihn nicht gesehen.«
»Wie ärgerlich! Hören Sie einmal, ich bin sein Freund und dachte ihn hier zu finden – komme in wichtigen Geschäften. Ich will ihm nur ein paar Worte schreiben, lassen Sie mich, bitte, einen Augenblick in sein Zimmer treten.«
»Das geht nicht an,« sagte das Mädchen bedächtig, »er hat die Thüre abgeschlossen und den Schlüssel mitgenommen.«
»Auch das noch! – Wo ist denn die Frau Wirtin?«
»Auf den Markt gegangen,« erwiderte das Mädchen, machte dem Hauptmann die Thür vor der Nase zu und ließ ihn draußen in der Kälte stehen.
Er murmelte eine Verwünschung zwischen den Zähnen, drehte sich um und kam die Treppe wieder herunter. Der Bettler stand noch auf der Straße; als Hamilton sein Taschentuch herauszog, verschwand er um die nächste Ecke. Der Hauptmann ging langsam weiter und überlegte; dann fuhr er mit der Pferdebahn bis zur 14. Straße und quer durch die Stadt nach der Lexington-Avenue; hier stieg er an einem kleinen Hause aus und zog die Glocke. Eine ältere Dame in schwarzem Kleide mit weißer Haube und Schürze öffnete ihm.
»Ist Miß Kitty Clive zu sprechen?«
»Ich will sehen; wen soll ich melden?«
»Hauptmann Hamilton. Ich bin ein Freund von Mr. Frank Cunliffe und wünsche das Fräulein einen Augenblick um eine Angelegenheit zu befragen, die ihn betrifft.«
Dabei überreichte er der Dame in Schwarz eine Visitenkarte, auf welcher sein Name und Rang in der englischen Armee gedruckt war. Er wartete im Vorsaal, bis sie zurückkam und ihn aufforderte, näher zu treten. Bald befand er sich in einem gemütlichen Zimmer, welches außer dem Klavier einige bequeme Stühle und ein Sopha enthielt, das freundlich zur Ruhe einzuladen schien. Hamilton hatte kaum Zeit sich in dem Raume umzuschauen, als die Thüre aufging und Miß Kitty Clive eintrat.
Ein Blick auf sie belehrte ihn, daß er eine feingebildete Person vor sich habe, die ohne alle Eitelkeit war, aber reich an Welterfahrung und einen scharfen Verstand besaß. Der gewöhnlichen Opernsängerin glich sie in keinem Stück. Dies war keine angenehme Entdeckung; seine Verhandlung mit ihr wurde dadurch weit schwieriger, als er erwartet hatte. Sie begrüßte ihn mit vollkommener Unbefangenheit, doch lag in ihrem Blick eine Selbstbeherrschung, die ihm Scheu einflößte. Unter diesen Umständen erschien es ihm am rätlichsten, gerade auf sein Ziel loszugehen.
»Sie sind mit Mr. Cunliffe verwandt, nicht wahr?« fragte er ohne Umschweife.
»Nur weitläufig, Herr Hauptmann, aber genau befreundet.«
»Ich weiß nicht, ob er Ihnen je meinen Namen genannt hat?«
Sie schüttelte verneinend den Kopf.
»Wir sind im Klub mit einander bekannt geworden, und haben viel zusammen verkehrt. Die Sache, um die es sich handelt, ist folgende: Einer unserer gemeinsamen Bekannten, bei dem ich gestern speiste, bat mich, Cunliffe aufzufordern, heute morgen an einer Schlittenfahrt nach Neu-Rochelle teilzunehmen, wo die Gesellschaft zu Mittag essen wollte. Ich sprach Cunliffe gestern abend im Klub, er nahm die Einladung an und wir verabredeten, uns heute früh um zehn Uhr dort zu treffen, – aber er kam nicht. Nachdem ich eine Zeit lang gewartet, sagte mir einer der Herren, er sei ihm auf der Straße begegnet, im Begriff die Stadt zu verlassen.«
Hier hielt Hamilton inne, um Atem zu schöpfen und zu überlegen, wie er fortfahren solle. Miß Clive fragte mit höflichem Anteil:
»Nun, was thaten Sie weiter?«
»Ich – ich kam hierher,« erwiderte der Hauptmann etwas verlegen – »ich dachte, Sie könnten mir vielleicht Auskunft geben, wohin er gegangen sei.«
»Leider kann ich das nicht,« versetze sie lächelnd. »Aber ich will Ihnen sagen, wo Sie es vielleicht erfahren können.«
»Das wäre mir ein großer Gefallen!«
»Sie könnten in seiner Wohnung nachfragen.«
»Ja, das dachte ich auch und bin gleich zuerst hingegangen, aber dort erhielt ich keinen Bescheid. Da fiel mir ein, daß Cunliffe von Ihnen als seiner Cousine gesprochen hatte, und da ich mir nicht anders zu helfen wußte – –«
»So kamen Sie zu mir! – Schade, daß ich Ihnen nicht behilflich sein kann. Aber da fällt mir ein,« – sie hielt inne und sah Hamilton an, als ob ihr ein ganz neuer Gedanke käme – »vielleicht hat er die Verabredung wegen der Schlittenfahrt mißverstanden und sich mit der Bahn nach Neu-Rochelle begeben.«
»Bewahre,« rief der Hauptmann schnell, »das ist ganz unmöglich!«
»Es fuhr mir nur durch den Sinn, weil Sie sagten, er habe die Stadt verlassen – da schien mir's am natürlichsten, daß er nach dem Ort gefahren sei, wo die Zusammenkunft stattfinden sollte.«
»Das Mädchen ist mir zu klug,« dachte Hamilton bei sich, »mich soll's nicht wundern, wenn sie mehr weiß, als sie eingestehen will.« Laut äußerte er: »Ich fürchte, ich habe Sie ganz unnütz belästigt.«
»Durchaus keine Belästigung! Ich bedaure, daß mein Vetter Sie hat warten lassen. Ist denn die übrige Gesellschaft fortgefahren?«
»Jawohl, ich glaube schon längst. Die Fahrt war auf zehn Uhr festgesetzt.«
»Aber wie werden Sie dann hinkommen? Mit der Eisenbahn?«
»Nein,« entgegnete der Hauptmann, welcher Mühe hatte, seine erfundene Geschichte glaubhaft durchzuführen. »Es war dabei hauptsächlich auf die Schlittenfahrt abgesehen; das Mittagessen allein lohnt nicht der Anstrengung. Jetzt bleibe ich zu Hause.«
»Sie sind Engländer, nicht wahr?« forschte Kitty.
»Ja, aus einer der nördlichen Grafschaften, warum fragen Sie?«
»Es freut mich, jemand zu sehen, der aus England kommt; ich habe mir stets gewünscht, einmal dorthin zu reisen.«
»Thun Sie das ja, es wird Ihnen gefallen. Sie werden dort vermutlich in Konzerten auftreten wollen?«
»Nur so könnte ich es mir gestatten. Doch weiß ich nicht, ob ich den Versuch wagen soll, es giebt so viele bessere Sängerinnen, als ich bin.«
»Ihr Gesang ist mir sehr gerühmt worden,« sagte der Hauptmann verbindlich.
»Aber Sie haben mich nie gehört!« lächelte sie.
»Ich bin nur auf kurze Zeit hier und sehr in Anspruch genommen!«
»Lieben Sie den Gesang?«
»Das will ich meinen; früher verstand ich wohl selbst ein paar Takte zu trällern!«
»Soll ich Ihnen etwas vorsingen?«
»Sie könnten mir keine größere Freude machen!«
»Wenn Ihnen mein Gesang gefällt, empfehlen Sie mich vielleicht Ihren englischen Freunden bei Ihrer Rückkunft.«
Sie setzte sich ans Klavier, präludierte einige Minuten und sang dann eine englische Ballade. Die Gedanken des Hauptmanns schweiften dabei in weiter Ferne; sie führten ihn zurück in die Zeit, da er dieselbe Ballade daheim hatte singen hören – damals, als er noch seinen Platz in der Gesellschaft einnahm und nicht entfernt daran dachte, je seinen jetzigen Beruf ergreifen zu müssen. Er verlor sich ganz in seinen Erinnerungen, und als das Lied zu Ende war, schreckte er mit tiefem Seufzer wie aus einem Traume empor.
»Aber Sie sind aus dem Norden,« sagte Kitty, ehe er noch ein Wort der Bewunderung gefunden. »Vielleicht kennen Sie dieses Fischerlied?«
Sie sang mit tiefer Altstimme eine jener kunstlosen, klagenden Melodien, deren wilde Schönheit wunderbar ergreifend wirkt. Man meint die goldhaarige, blauäugige Maid zu sehen, wie sie im großen Spankorb die glänzenden Fische zu Markte trägt – dahinter die weißen Dünen und das graue endlose Meer! Der Hauptmann lauschte mit atemlosem Entzücken, er hätte es ewig hören mögen: »Wer kauft, – wer kauft, – wer kauft meine frischen Fische?« -
Die vollen mächtigen Töne hoben und senkten sich, sie schwebten leise dahin auf den Fittigen des Wohllauts. – Des Engländers Herz, das er längst erstorben wähnte nach so viel rauhen Wechselfällen des Geschicks, pochte laut und ungestüm. Wo war er? Etwa an der Küste der Nordsee? – Nein, in New-York, in einer Mietswohnung der Lexington-Avenue, wo ihm eine Amerikanerin ein Lied vorsang! – Aber er machte diese Entdeckung erst, als sie zu Ende war und, sich auf dem Klavierstuhl umdrehend, ihn mit lächelnder Miene anschaute.
»Man glaubt wahrhaftig wieder daheim zu sein, Miß Clive,« sagte er sich räuspernd. »Aber, so wahr ich lebe, es ist auch der Mühe wert, nach Amerika zu kommen, um Sie singen zu hören!«
»So darf ich also darauf rechnen, daß Sie mich bei Ihren Landsleuten empfehlen?«
»Oh!« rief der Engländer ... Plötzlich hielt er inne, errötete bis zu den Schläfen hinauf und senkte den Blick zu Boden. – War er wirklich im Begriff gewesen, ihr zu erklären, warum seine Empfehlung jetzt wenig Wert haben dürfte in den vornehmen Kreisen der englischen Gesellschaft? Stand er auf dem Punkt, ihr seine Lebensgeschichte zu erzählen, die mindestens ebenso vielgestaltig war, wie jene abenteuerliche, die im Klub umlief – wenn auch vielleicht in mancher Hinsicht weniger ehrenvoll? – Und das alles um ein Lied! – Nun und nimmermehr!–
Der Hauptmann stand auf und trat an's Fenster. Dort lag auf dem Schreibtisch eine offene Briefmappe mit einer Einlage von Löschpapier, auf die er, ohne es zu wissen, mehrere Minuten lang hinstarrte. Er schien noch immer in Träumen verloren.
»Ich fürchte, ich habe Sie zu lange aufgehalten,« sagte Kitty Clive.
»Sie haben mir eine Freude gemacht, wie ich sie sobald nicht wieder empfinden werde,« versetzte der Engländer, sich zu ihr wendend und ihr die Hand reichend. »Aber ich bin schon zu lange geblieben und muß Ihnen Lebewohl sagen.«
Er verneigte sich und verließ das Gemach.
In tiefes Sinnen versunken, war er fast bis an die Straßenecke gekommen, als er plötzlich stillstand; es war ihm als öffne sich ein Abgrund zu seinen Füßen. Eine Vorstellung, die in seinem Innern geschlummert hatte, kam ihm auf einmal zum Bewußtsein, und es fuhr ihm wie ein elektrischer Schlag durch alle Glieder! – So sehen wir wohl, ohne es zu beachten, ein bekanntes Gesicht in der Menge, und erst eine Stunde später fällt es uns vielleicht wieder ein. Wir haben den Eindruck bewahrt, ohne uns darüber Rechenschaft zu geben. –
Es dauerte mehrere Minuten, ehe Hauptmann Hamilton so weit zu sich kam, um zu bemerken, daß er mitten in einer Pfütze schmutzigen Eiswassers stand. Er raffte sich zusammen und eilte vorwärts. Wäre ihm Cunliffe in diesem Augenblick begegnet, er hätte ihn höchst wahrscheinlich auf der Stelle festgenommen und nach dem Hauptpolizeiamt geführt. Jedenfalls war er überzeugt, daß jetzt der letzte Beweis gegen ihn beigebracht, die Kette geschlossen sei. Wenn er auch eine Weile verschwunden blieb, früher oder später mußte er doch entdeckt werden, und dann – –
»Hoffentlich liebt das Mädchen den Menschen nicht,« dachte der Hauptmann bei sich – »und doch kann es kaum anders sein! Sie hat mich von seiner Spur ableiten, mich aufhalten wollen, um ihm einen längeren Vorsprung zu verschaffen. Mir ist das jetzt klar, obgleich ich währenddem zu zerstreut war, um es zu merken. – Das war einmal ein Gesang! – Ich wette zehn gegen eins, sie hat keine Ahnung, was er betreibt, obgleich alles dicht unter ihren Augen vorgegangen sein muß. Er ist klug genug, um zu wissen, daß sie ihm die Thüre weisen würde, sobald sie Wind davon bekäme! Aber laßt mich nur erst seiner habhaft werden. Es ist eine Schande, daß ein Mädchen wie sie sich an solchen Schurken wegwirft!«
Mit derartigen Gedanken stieg Hamilton in eine Pferdebahn, welche in der Richtung nach der Bleecker-Straße vorbeifuhr.