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Einundzwanzigstes Kapitel.
Verhaftet

Das oben beschriebene Börsenspiel fand an einem Freitag statt. Die Woche über war General Weymouth ungewöhnlich thätig gewesen und hatte seinem geliebten Violoncell nicht eine einzige Stunde widmen können. Am Sonntag kleidete er sich ganz besonders sorgfältig an, steckte ein Bündel Papiere in die Tasche und begab sich nach der Lexington-Avenue in Miß Clive's Wohnung.

Er fand Kitty am Schreibtisch mit einem Brief beschäftigt, den sie in ein Couvert steckte, als er eintrat.

»Sie kommen doch immer wie gerufen, gerade wenn mich nach Ihnen verlangt,« sagte sie, ihm entgegengehend und ihm die Hand reichend.

»Dann muß ich mich wohl hüten, allzu oft zu kommen?« erwiderte der General.

»Im Gegenteil, denn ich muß immer an Sie denken, wenn ich danach strebe gut zu sein und recht zu handeln – je häufiger Sie also kommen, um so besser werde ich sein.«

»Ob das ganz logisch ist, liebes Kind, weiß ich nicht,« versetzte jener; »aber mir ist jeder Vorwand willkommen, der mir gestattet, Sie zu besuchen. Auch heute morgen habe ich ein besonderes Anliegen, sonst würde ich nicht gewagt haben Sie zu stören. Ich wollte mir, – das heißt Ihnen – eine kleine Freude machen!«

»Wenn meine Freude Sie froh macht, Herr General, so wollte ich, – ich wäre der glücklichste Mensch auf Erden!«

»Und warum sollten Sie das nicht sein? – Sie sind von Natur glücklich beanlagt! Wenn Sie auch bisher in der Welt einige trübe Erfahrungen gemacht haben, so können doch früher oder später Umstände eintreten, die Sie reichlich dafür entschädigen. Vielleicht wird es nicht mehr lange währen – vielleicht ist, was wir hofften, inzwischen schon näher gerückt!«

Er schaute sie prüfend an, um in ihren Mienen zu lesen, die eine innere Bewegung verrieten, welche sie vergebens zu bemeistern strebte; sie wich jedoch seinen Blicken aus, wollte reden, seufzte aber und sah zu Boden.

»Glauben Sie ja nicht, daß ich mich in Ihr Geheimnis drängen will,« fuhr der General in ruhigem Tone fort, »wie sehr ich mich freuen würde, wenn sich Ihr Wunsch erfüllte, brauche ich Ihnen ja wohl nicht zu sagen – doch bin ich überzeugt, es wird über kurz oder lang geschehen.«

»Vor Ihnen, als meinem treuesten Freunde, möchte ich nichts verbergen,« erwiderte sie. »Für jetzt kann ich Ihnen aber nur soviel sagen, daß das Glück, von dem Sie sprechen, in meinen Bereich gebracht worden ist. Doch sind Umstände vorhanden, die mich hindern, es zu ergreifen – vielleicht auf immer!«

Ein Ausdruck der Befriedigung leuchtete in des Generals Antlitz auf, welches, wie Kitty jetzt erst bemerkte, bleicher und matter erschien als sonst.

»Mein heutiger Besuch,« sagte er, »hat den Zweck einige der Hindernisse zu beseitigen, die in Ihrem Wege stehen; mit dieser Hoffnung kam ich her. Aber zuvor muß ich Ihnen mitteilen, was für eine unerwartete Begebenheit sich zugetragen hat. Sie erinnern sich vielleicht, daß ich Ihnen neulich von einem Mann Namens Fowler erzählte.«

Kitty nickte bejahend. Sie ahnte natürlich schon im voraus, was der General ihr zu berichten habe, wünschte aber um der Nebenumstände willen, die Fowler Morgans letzte That auf Erden begleitet hatten, nicht einzugestehen, daß sie um die Sache wisse.

»Seit Jahren hatte ich nichts von ihm gehört,« sagte der General, »ich hielt ihn für tot oder glaubte, die Strafe für seine Sünden müsse ihn auf irgend eine Weise ereilt haben, wenn ich überhaupt an ihn dachte. Vor einigen Tagen erfuhr ich jedoch das Ende seiner Lebensgeschichte, er ist ganz kürzlich gestorben, mit Hinterlassung eines bedeutenden Vermögens!«

»Nichts in der Welt,« fuhr der General nach einer Pause fort, »hätte ich für so unwahrscheinlich gehalten, als daß jener Mensch versuchen würde, das Unrecht wieder gut zu machen, das er an mir verübt hat. Für mein geraubtes Lebensglück giebt es freilich keinen Ersatz! – Den Frieden meines Hauses, meine Berufsthätigkeit und alle Pläne für das Wohl meiner Nebenmenschen, die ich verwirklichen wollte, hatte er auf immer zerstört. Es lag nur noch in seiner Macht, mir das Geld zurückzuerstatten, das er von mir erpreßt hatte. Für mich persönlich hat aber dieser Besitz keinen Wert mehr, und wäre er noch zehnmal größer; ich habe wenig Bedürfnisse und bin zu sehr an Einsamkeit und Stille gewöhnt, um mich in die Oeffentlichkeit zu begeben; von seinem Standpunkt aus hat er natürlich geglaubt, sich seiner Schuld gegen mich vollständig zu entledigen, wenn er mir das Geld zurückgab; auch daß er es erst bei seinem Tode that, als es ihm selber nichts mehr nützen konnte, sieht ihm ähnlich, – ich bin nur überrascht, daß ihm der Gedanke überhaupt gekommen ist! – Letzte Woche also erhielt ich von einem Advokaten in Boston die Nachricht, daß Fowler Morgan – dies ist des Mannes wahrer Name – gestorben sei und mich zum Erben seines ganzen Vermögens eingesetzt habe. Es beträgt weit mehr als ich je verbrauchen könnte, selbst die Verwaltung wäre mir eine Last. Ich müßte daher bedauern, daß der Verstorbene sein Testament zu meinen Gunsten gemacht hat, doch eine Erwägung läßt es mir erfreulich erscheinen.«

Er hielt inne und warf Kitty einen bittenden Blick zu, als wolle er sie schon im voraus anflehen, den Vorschlag nicht zurückzuweisen, den er im Begriff stand ihr zu machen. Worin derselbe bestehen würde, war für sie nicht ersichtlich; wie sie ihn aber aufnehmen solle, war ihr durchaus nicht klar.

»Hier,« sagte der General, mehrere Papiere aus der Brusttasche hervorziehend, »sind einige Dokumente, die nur Ihrer Zustimmung und Unterschrift bedürfen, um Giltigkeit zu erlangen. Wie Sie sehen, sind 150,000 Dollars an Ihre Ordre auf der amerikanischen Bank eingezahlt worden. Dies ist die Quittung, und wenn Sie nur den Namen unter das Papier setzen und es auf die Bank schicken wollen, können Sie jederzeit von dem Betrag entnehmen, so viel Sie wünschen. Sie wissen, liebe Kitty, ich habe weder Töchter noch sonstige Verwandte und bin Ihr väterlicher Freund – betrachten Sie es als Weihnachtsgeschenk, das Fest ist ja nicht mehr fern! Wenn Sie mir in dieser Sache willfahren, befreien Sie mich in Wahrheit von einer lästigen Verantwortlichkeit, welche mir ohne Ihre Hilfe den Frieden und das Behagen meiner letzten Lebensjahre stören würde!«

Die Größe der Summe hatte Kitty überrascht; mit steigender Unruhe vernahm sie die Worte des Generals. »Nein, nein,« rief sie »ich kann es nicht annehmen! Ich bedarf einer solchen Gabe nicht, so kann mir nicht geholfen werden, nicht auf solche Weise kann ich erlangen, was mir fehlt!«

Die Züge des Generals verdüsterten sich und nahmen den Ausdruck bitterer Enttäuschung an, die Arme sanken ihm schlaff am Leibe herab.

»Sagen Sie das nicht,« stieß er mit heiserm Laut hervor, »sagen Sie nicht, daß Sie nichts von mir annehmen wollen! Das Leben hat mir so wenige Wünsche gewährt, liebes Kind; jetzt bin ich ein alter Mann, alt genug Ihr Vater zu sein, Sie dürfen mir die Bitte nicht abschlagen, es wäre mehr als ich ertragen könnte! Denken Sie, Sie seien mein liebes Töchterchen, erweisen Sie mir diese eine Gunst! Sie werden doch nicht etwa glauben, daß Sie sich mir gegenüber eine Verpflichtung aufladen, daß ich mir den Umstand zu nutze machen könnte – –«

»O nein,« unterbrach sie ihn in leidenschaftlicher Erregung, »von solchen Gedanken bin ich himmelweit entfernt! Aber wie soll ich Worte finden, Ihnen zu sagen, wie ich's meine! Sie sind der selbstloseste, redlichste Mann auf Erden, Sie werden mich nicht mißverstehen! Nur als Ihre Frau hätte ich das Vermögen von Ihnen annehmen dürfen. In die Ehe mit einem andern, – wenn ich je heirate – kann ich das Geld nicht bringen, das ich der hingebenden Liebe eines Mannes verdanke, dem ich nicht angehören wollte, – es widerstrebt meinem Gefühl! – Auch sind die Hindernisse, die ich erwähnte, anderer Art als Sie meinen; sie bestehen nicht in Mangel an Geld – ich erwerbe allein schon genug für unsern Unterhalt und auch er würde arbeiten. Brächten wir es aber nie zu einem behaglichen Auskommen, so würde mich das nicht abhalten, die Seine zu werden; es wäre mir eine Wonne, mit ihm vereint in Armut und Beschränkung zu leben! – Nein, was wir brauchen, haben wir schon und wir würden mehr erwerben. – Nicht aus diesem Grunde habe ich geschwiegen, als er vor wenigen Tagen um meine Liebe warb! Oh, wäre es nur das!« –

»So sind also Ihre Gründe für mich unverständlich,« sagte der General mit leisem Seufzer.

»Ich kann sie Ihnen nicht sagen – er selbst weiß sie noch nicht,« entgegnete sie. »Aber so viel sollen Sie erfahren: es sind Gründe persönlicher Art, die nur auf mich Bezug haben, auf meinen Charakter, mein Leben, auf das, was ich bin.«

Den Ausdruck ungläubiger Entrüstung im Antlitz des Generals bemerkend, fuhr sie fort:

»Meine Worte lassen die schlimmste Deutung zu, das weiß ich wohl; doch kann ich nichts hinzufügen noch davonthun, Sie müssen nach dem urteilen, was Sie von mir wissen – und das ist sehr wenig! Der gute Einfluß, den Sie auf mich üben, macht, daß ich Ihnen nur im besten Lichte erscheine. Wären Sie mein Feind, hätten Sie mir ein Unrecht zugefügt oder jemand geschädigt, den ich liebe, – Sie lernten mich vielleicht von einer Seite kennen, die Ihnen Schauder erregen, Sie mit Abscheu erfüllen würde. Wenn jemand, der mir teuer ist, eine Ungerechtigkeit erduldet hätte und ich ihn rächen könnte – ich würde selbst vor einem Verbrechen nicht zurückbeben!«

Während sie sprach hatte der alte Mann still und regungslos dagesessen; auch nachdem sie geendet, hörte man durch das Schweigen nur ihre schweren Atemzüge und sah, wie sie rang, die leidenschaftliche Erregung zu bemeistern und ihre hervorquellenden Thränen zurückzudrängen. Endlich nahm er das Wort; aus dem sanften Ton seiner Stimme klang das innigste Mitgefühl: »Ich verstehe Sie jetzt besser, liebes Kind, und danke Ihnen für den neuen Einblick in Ihr Inneres, den Sie mir gewährt haben. Nehmen wir an, daß Sie um des Mannes Willen, den Sie lieben, eine Sünde begangen haben, deren Folgen, wie Sie fürchten, sie von ihm trennen könnten! Was für ein Unrecht es ist, kann ich mir nicht vorstellen, brauche es auch nicht zu wissen. Soweit ich über einen Mann urteilen kann, den ich nie gesehen habe, glaube ich jedoch nicht, daß er Sie deswegen weniger lieben wird. Mag er sich aber von Ihnen wenden oder nicht – Ihre Pflicht ihm gegenüber liegt klar zu Tage! Lassen Sie mich Ihnen aufs ernstlichste raten, ihm ohne Aufschub alles offen einzugestehen und dann soviel wie möglich das Böse, das Sie begangen haben, wieder gut zu machen! – Ein Herz, das so lieben kann, wie das Ihre, Miß Kitty, ist selten in dieser Welt; hören Sie auf die Bitte eines alten Mannes und suchen Sie den wilden Grimm Ihrer Natur zu bezähmen, damit er nicht den göttlichen Funken in Ihnen zerstört! – Wenn Sie wirklich gewagt haben, Gottes heiliges Rächeramt zu übernehmen, so lassen Sie sich die Unruhe Ihrer Seele zur Warnung dienen, und versuchen Sie nie wieder an seiner Stelle Gerechtigkeit zu üben!«

Er sprach mit so feierlichem Ernst, wie sie es noch nie vernommen; die innige selbstlose Zuneigung, die ihr dabei aus jedem Worte entgegenklang, rührte sie tief und besänftigte sie, so daß ihre Thränen zu fließen begannen. Leise weinend drückte sie das Haupt in die Kissen des Sophas. Die gefährliche Krisis schien überwunden und der gute Engel, der ihr glücklich hindurchgeholfen, war der alte General gewesen.

Er saß noch einige Zeit sinnend da und ließ was geschehen war vor seinem Geiste vorüberziehen, um sich die Frage zu stellen, ob er auch nichts versäumt habe. Endlich stand er auf, steckte die Papiere wieder in die Tasche und griff nach seinem Hut.

»Mit der andern Angelegenheit, liebes Kind,« sagte er, »will ich Sie jetzt nicht drängen. Sie können am besten beurteilen, was zu Ihrem Behagen und Wohlbefinden beiträgt; ich bin weit davon entfernt, Ihnen etwas aufzwingen zu wollen, weil es mir wünschenswert für Sie erscheint. Nach Ihrer Heirat hoffe ich jedoch, Sie und Ihren Gatten gelegentlich zu sehen, vielleicht gelingt es uns zu Dreien ein Auskunftsmittel zu finden, das uns alle befriedigt. Jetzt sage ich Ihnen Lebewohl und wünsche Ihnen alles Glück der Welt, sofern es von der Sorte ist, die Ihren Beifall hat!«

Sie erwiderte das Lächeln, mit dem er die letzten Worte begleitete, und reichte ihm die Hand.

»Wenn Sie noch einen Augenblick warten wollen,« sagte sie, »brauchen wir hier noch nicht Abschied zu nehmen. Ich soll heute nachmittag in der Lexington-Kirche singen und muß eilen hinzukommen; gleich bin ich fertig!«

Nach wenigen Minuten erschien sie im Straßenanzug. Ehe sie jedoch das Zimmer verließ, warf sie noch einen Blick umher, gewahrte den fertigen Brief auf ihrem Schreibtisch und steckte ihn in den Muff. Sie gingen zusammen die Treppe hinunter auf die Straße, ohne Hauptmann Hamilton gewahr zu werden, der von der entgegengesetzten Richtung kam. Er folgte ihnen in einiger Entfernung. An der Kirchenthür nahmen sie Abschied, und als Kitty die Hand aus dem Muff zog, fiel ihr der Brief wieder ein.

»Geben Sie ihn mir,« sagte der General, »ich komme gewiß an einem Briefkasten vorbei und will ihn einstecken.«

Sie reichte ihm das Schreiben, das er in die Tasche seines Ueberrocks gleiten ließ, dann trennten sie sich; Kitty trat in die Kirche und der General ging die Fünfte Avenue hinunter.

Dicht hinter ihm folgte das Schicksal mit leisem Tritt. Wo die 22. Straße in die Fünfte Avenue mündet, war an einem Laternenpfahl ein Briefkasten angebracht, in welchen der General den Brief fallen ließ, dann schritt er weiter die Avenue hinunter. Noch war er jedoch nicht zwanzig Schritte gegangen, als zwei Männer hinter ihm dreinkamen. Einer derselben legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte, als der General sich erstaunt umblickte: »Herr, Sie sind unser Gefangener! Sie müssen mit uns kommen, zu Inspektor Byrnes auf das Polizeibureau.«


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