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In dem Gärtnerhäuschen über der Wiese herrschte stille Trauer. Vor der Thüre standen Männer und Frauen in schwarzen Anzügen, das Gesangbuch in der Hand. Sie warteten auf den Gärtner und seine Frau, die sich drinnen zu einem schweren Gange bereit machten. Die Wasser der Trübsal waren brausend über das arme Paar hereingebrochen und hatten den alten Glimm in einer einzigen Stunde zum Greise gemacht. Man hatte seine geliebten Zwillinge, innig umschlungen, aus dem Mühlgraben gezogen, und Niemand ahnte, wie das Schreckliche sich zugetragen. Der ganze Hergang war ein Geheimniß geblieben. Den jungen Baron hatte der Müller mit eigener Lebensgefahr aus den Speichen seines Mühlrads befreit. »Rührt mich nicht an, ich bin der Räuber Orbassan«, hatte der junge Mann in tollem Wahnsinn gerufen. »Der Vogel Rock hat mir mit seinem Fittiche den Arm verletzt.« Aber wie sehr er sich auch sträubte, gegen seinen Willen war er gerettet worden, denn vornehme Leute dürfen nicht sterben, wann sie wollen. So tobte er nun drüben in der Irrenzelle, in die man ihn geschleppt hatte. Alle Märchenphantasieen seiner Knabenjahre waren in seinem kranken Hirne wieder aufgewacht. Er hielt lange Gespräche mit der Brunnenfrau, und man durfte ihn darin nicht stören, da er sonst in Tobsucht verfiel. Dennoch gaben die Aerzte Hoffnung auf Wiederherstellung, gerade weil sein Geist noch so kräftig reagirte.
Ueber der Zeit, die der Müller mit der Rettung des jungen Gutsherrn verlor, waren die Geschwister zu Grunde gegangen. Als man mit den Belebungsversuchen begann, war es bereits zu spät.
Bleich und schön lagen die Zwillinge jetzt in ihren Särgen bei dem Altare der kleinen Dorfkirche, und die Glocke lud die Gemeinde ein, den Geschwistern, die die Freude ihrer Eltern und der Stolz des Dorf's gewesen, die letzte Ehre zu erweisen.
»Nun ist unser Haus öde und unser Leben zwecklos«, sagte der alte Glimm, indem er einen traurigen Blick durch die leeren Stuben gehen ließ.
»Wie kannst Du so reden«, erwiderte seine Frau, indem sie ihm die Hände auf seine gebeugten Schultern legte und ihn innig anschaute. »Sieh diese Bäume, die Du gepflanzt, diese Beete, die Du angelegt, diese Rebberge, die Du gepflegt hast. Das Alles ist Dein Werk. Die da drüben haben nichts dazu gethan, sie haben nur immer gehindert. Daß das Gut das schönste ist, das Thal hinauf und hinunter, wem ist es zu danken als Dir? Wem unser Herrgott ein solches Stückchen Erde anvertraut hat, der soll nicht sagen, sein Leben habe keinen Zweck.«
»Du hast Recht, Hanne«, erwiderte Glimm, indem er sich aufzurichten versuchte. »Es hat mir doch fast das Herz abgedrückt, als der Baron mir kündigte und den rothen Johann zum Gärtner setzen wollte, der jedes Pflänzchen mit einem frommen Spruche in die Erde steckte, um dann am Abende mit den gestohlenen Pfirsichen zum Fruchthändler zu schleichen. Da will ich doch lieber selbst zum Rechten sehen.«
»Und unsere Kinder«, fuhr die Frau fort, indem sie sich die Augen trocknete, »wie werden sie sich freuen, wenn sie das Plätzchen, das sie liebten, auch vom Himmel her noch so schön sehen. Jetzt sieht sie wieder«, rief die arme Mutter, und überwältigt von diesem Gedanken fiel sie ihrem Manne um den Hals, und unter Thränen wiederholte sie: »Jetzt sieht sie wieder!« Aber es waren Thränen, die nicht auf der Seele brennen, sondern das Leid kühlen. Gleich darauf griff sie gefaßt nach ihrem Gesangbuche, und Hand in Hand stiegen die treuen Gatten die Treppe hinab und machten sich, umgeben von ihren Freunden, auf den Weg nach der Kirche.
Man hatte die Särge auf Befehl des Pfarrers bereits geschlossen, um den Eltern den schmerzlichen Anblick zu ersparen. Gefaßt und fest nahmen beide in der vordersten Bank Platz, während die Orgel ernste, leise Weisen präludirte. Wieder sang man jenes Lied, das vor einundzwanzig Jahren gespielt worden war, als die treue Hanne drüben vor ihrem Hause unter den blühenden Obstbäumen saß, ihres Stündchens wartend:
Eins ist Noth; oh Herr, dies Eine
Lehre meine Seele doch!
Auch beim schimmerreichsten Scheine
Ist sonst Alles nur ein Joch.
Und die ganze frohe Hoffnung jenes Morgens wachte wieder auf in ihrer treuen Seele. Sie hörte ergeben zu, als der greise Prediger, der ihrer Kinder treuester Freund gewesen, in der Eltern Namen das Gebet sprach, das Gott dankte, daß er diese beiden seltenen, schönen Blumen in den Garten ihres Lebens gepflanzt habe. Sie erröthete, als er die Treue lobte, mit der die Hand des Gärtners und der Gärtnerin dieser beiden Pflänzchen gewartet habe, sie wischte sich die Augen, als er das Glück ihrer Kinder pries, die noch umfangen von den Blüthenträumen der Jugend, unenttäuscht und unverbittert, hätten heimkehren dürfen in den schönen Garten des Paradieses, den die Sonne nicht sticht und der Frost nicht beschädigt. »Reich an Frieden hießen sie beide«, sagte er, »Friedrich und Friederike. Diesen Frieden habt Ihr ihnen gewünscht, als Ihr ihnen so schöne Namen wähltet, und frühe schon haben sie diesen Frieden gefunden.«
Nicht viel mehr von dem, was um sie her vorging, vermochten die Eltern zu fassen. Sie sahen die Grube, in die man beide Särge hinabsenkte. Mit zitternden Händen warfen sie mit dem Spaten eine Scholle auf jeden der beiden Särge, eine für Fritz, eine für Elfriede. Dann hörten sie noch die Stimme des Geistlichen: »und gebe Euch seinen Frieden!« Die Freunde umringten sie, und sie verließen den Kirchhof wie Träumende, um nach ihrer Hütte zurückzukehren. In ihren Augen aber lag der stille Glanz jener Liebe, die nimmer aufhört.
*
Durch den unendlichen Weltraum aber unseres Gottes schwangen sich die Zwillingssterne hinauf, und kehrten heim zu dem hellen Lande, aus dem sie, dem Zuge ihres Mitleids folgend, herabgestiegen waren in das Thal der Schatten. Die drei Mal sieben Jahre waren ihnen jetzt wie ein einziger Tag. »Wir konnten ihn nicht retten«, klagten sie vor Gottes Thron. »Er ging verloren, wie so Viele verloren gegangen sind.«
Aber eine milde, tröstende Stimme ging aus vom Throne des Ewigen: »Indem Ihr einen Anderen zu retten suchtet, habt Ihr Euch selbst gerettet, und nicht anders, wenn die Zeit seiner Läuterung vollendet ist, wird auch er die Heimkehr finden in der ewigen Liebe Schos.«