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Aus all' dem Wirrwarr und den Bedrängnissen, in die er sich verwickelt, hatte Nik, wie er seit lange gewohnt war, sich in das Gärtnerhäuschen flüchten wollen, da wirkte der Anblick der alten Frau, die ihm mit ihren vom Trunke gerötheten Augen höhnisch in's Angesicht starrte, auf ihn wie der Anblick der Meduse. Schreck und Wuth kamen gleichzeitig über ihn, und mit dem Muthe der Verzweiflung vertrat er dem alten Weibe den Weg und fragte barsch: »Zu wem wollen Sie hier?«
Die alte Hexe drängte seinen Arm grob hinweg und sagte: »Zu Ihrem Vater will ich, und Sie wissen auch warum.«
»Mein Vater ist jetzt nicht zu sprechen«, sagte Nik gelinder. »Was wünschen Sie von ihm?«
»Nun, wegen Ihres Kindes mit ihm reden«, erwiderte die Alte giftig.
»Ich habe Johann bereits gesagt, daß ich Alles thun will, was in meinen Kräften steht«, stammelte Nik.
»Ja, ja, gesagt«, erwiderte die Alte höhnisch. »Ich frage nichts nach ihrem Sagen. Ihr Vater soll zahlen, da Sie kein Geld haben.«
In diesem Augenblicke kam auch der rothe Johann, um seine Gießkanne an dem Brunnen zu füllen. »Ich habe Geld«, log Nik in seiner Verzweiflung. Johann stellte bei diesen Worten seine Kanne nieder und trat zu den Beiden.
»Schicke sie fort«, sprach Nik in bittendem Tone zu ihm. »Wir wollen die Sache untereinander abmachen. Ich bin mit Allem einverstanden, was Du vorschlägst, aber schicke sie fort.«
Der Rothe zögerte.
»Mein Vater wirft sie die Treppe hinab«, setzte Nik erbittert hinzu, »und dann erhaltet Ihr keinen Heller.«
Dieses Argument schien Eindruck auf die Alte zu machen, und sie trat einen Schritt rückwärts. Auch Johann wurde zweifelhaft, ob er so hoch spielen dürfe, nachdem der Baron noch eben ihn grob angefahren hatte. »Heute ist wirklich ein schlechter Tag«, dachte er. »Du kannst morgen eben so gut zu dem Herrn Baron, wie heute«, sagte er zu seiner Großmutter. »Ich will einmal hören, was der da zu sagen hat.« Die alte Frau schien zu zögern, als ihr aber ihr rothhaariger Enkel nochmals bestätigend zunickte, wendete sie sich langsam um, und humpelte wieder die Treppe hinab, indem sie sich sorgsam an dem Geländer anklammerte. Auf der untersten Stufe aber blieb sie sitzen. Sie wollte nicht ganz umsonst den Weg gemacht haben. Wenigstens einen Thaler sollte er ihr geben, damit sie sich betrinken könne.
»Sie haben Geld?« fragte Johann nun barsch.
»Nein«, erwiderte Nik. Johann machte einen raschen Schritt gegen die Treppe, als ob er das alte Weib zurückrufen wolle, aber Nik faßte ihn am Arme und flüsterte: »Ich habe keines, aber ich werde es schaffen.«
»Wie das?« erwiderte Johann lauernd.
»Ich schreibe einen Wechsel«, sagte Nik, während er den Andern am Arme nahm und gegen den Weg zum Walde drängte.
»Was soll mir Ihr Wechsel? Sie haben ja keine Deckung. Auf wen wollen Sie denn ziehen?«
»Auf meine Tante, auf meine Mama, auf meinen Vater – auf wen Du willst?«
Der Rothe überlegte eine Weile, dann sagte er: »Das ist alles Unsinn. Keine Bank löst den Wechsel ein, ehe Ihre Eltern oder Ihre Tante Deckung zugesagt haben, und die werden sich hüten. Ich weiß aber einen andern Weg. Der Postbote brachte diesen Morgen ein Packet mit tausend Thalern. Ich meinte schon, Sie hätten mit Ihrem Vater von unserer Forderung gesprochen und sich, das Geld kommen lassen.«
Nik schüttelte mit dem Kopfe. »Es ist von meiner Tante«, sagte er.
»Einerlei«, erwiderte der Rothe. »Das Packet legte Ihr Vater in den Geldschrank in seinem Schlafzimmer, den Schlüssel hat er in seinem Portemonnaie, das er beim Schlafengehen stets auf das Tischchen neben seinem Bette legt.«
»Woher weißt Du das so genau?« fragte Nik betroffen.
»Natürlich weiß ich es, da ich am Morgen seine Kleider reinige«, antwortete der Rothe mit einem boshaften Aufleuchten seiner teuflischen Augen.
»Nun und was weiter« – erwiderte Nik.
Müller lachte laut auf. Er betrachtete Nik wie eine Katze, die mit der Maus spielt. »Eine naive Frage«, dachte er. »Der ahnt nicht einmal, daß wir Beide dieses Geld stehlen werden, und zwar so, daß er als der Dieb erscheint, und ich das Geld einstecke. Der Herr Baron wird sich hüten zu klagen, wenn man ihm klar darthut, daß der Herr Sohn seine Hand dabei im Spiele hat. Der verlöre ja seinen Adel, würde satisfactionsunfähig, und was weiß ich, wenn es herauskäme. Diese Einrichtungen sind doch für unser Einen so übel nicht«, und er lachte wieder. Nik schaute ihn erbittert an. Er wußte nicht, was den gemeinen Menschen belustige, und warum er ihn so frech vom Kopf bis zu den Füßen mustere.
»Also, was weiter?« wiederholte er.
»Das Weitere ist Ihre Sache«, sagte der Rothe.
»Die meine? – Du glaubst doch nicht, daß ich die tausend Thaler stehlen solle?« Die Beiden waren während dieser Berathung bis zur Parkecke gelangt, wo der Rothe stehen blieb. »Haben Sie nicht die zwanzig Mark auch gestohlen, die ich damals verlangte, um Ihren Ring wiederzufinden?« und er deutete nach der zerfallenen Cisterne, wendete dann aber sofort den Tannen den Rücken, als ob es ihn grause.
»Das geht nicht«, erwiderte Nik. »Um keinen Preis.«
»Gut«, erwiderte Johann, »so gehe ich selbst zu Ihrem Vater.«
Der arme, junge Mensch zuckte zusammen. »Meinetwegen hole Du das Geld«, sagte er zitternd vor Aufregung, während ihm alles Blut zum Herzen schoß. »Ich werde schweigen.«
»Das glaube ich«, höhnte der Rothe. »Wenn ich an den Geldschrank könnte, so hätte ich Sie gar nicht gefragt. Der Herr Baron schließt aber alle Thüren von innen, und vor der seinen liegt zudem der große Neufundländer, der mich in Stücke reißen würde. Von Ihrem Zimmer aber können Sie durch die drei Gesellschaftszimmer in das Rauchzimmer des Herrn Vaters, und von da in sein Schlafzimmer. Sie nehmen leise den Schlüssel aus dem Portemonnaie und öffnen den Schrank. Haben Sie das Packet, So brauchen Sie nicht mehr zu schließen.«
»Schweig stille«, rief Nik zornig. »Ich bin kein Einbrecher. Lieber gehe hin und verklage mich.«
»So geben Sie mir Ihre Schlüssel, und kommen Sie nicht vor zwölf Uhr nach Hause. Dann besorge ich es selbst.«
»Nein«, sagte Nik.
»Wie Sie wollen«, erwiderte Johann grob. »Siehe, da ist ja noch die Alte. Es ist eine Goldfrau, sie ist gar nicht weggegangen. Großmutter!« rief er nach dem Gemüsefelde hinüber, und zu seinem Entsetzen sah Nik die alte Müllerin dort zwischen den Kohlstrunken und kahlen Bohnenstangen einherhumpeln.
»So schweig doch!« rief Nik verzweifelt.
»Großmutter!« rief Johann mit verdoppelter Anstrengung, und Nik sah, wie die Alte sich umwendete und so schnell als ihre alten Beine es vermochten auf die Parkecke zukam. Da übermannte Nik die Angst, die Verwirrung. Er hatte die Empfindung, daß in den Händen dieser häßlichen Kreaturen seine Ehre, seine Liebe, sein Leben, sein Alles liege. »Sie dürfen nicht zu meinen Eltern«, stammelte er. Zitternd vor Aufregung griff er in die Tasche, nahm seine Schlüssel heraus und reichte sie dem Versucher. Johann steckte dieselben hastig ein und sagte: »Gut, Sie werden Ihr Zimmer offen finden.«
Damit wendete er sich ab und ging zu der Alten hinüber, die er hastig mit sich fortzog. Nik ging wie im Traume zum Walde zurück. Bei dem einsamen Altar, an dem er einst Elfrieden seine Lieblingsdichter vorgelesen, warf er sich auf die Bank und verbarg das Antlitz in den Armen. Die ganze lange Schmach seines jungen Lebens ging an seinem inneren Auge vorüber. So sollte es denn keine Rettung für ihn geben. »Ein Hehler, ein Diebsgenosse!« Gleichsam mechanisch ergänzte er: »Ein Dieb.« Und das Wort schlug plötzlich bei ihm ein; seine Gedanken ordneten sich wieder. »Wenn die Sache untersucht wird, wenn festgestellt wird, daß der Dieb ein Hausgenosse gewesen, da der Hund nicht anschlug, wenn ermittelt wird, daß er aus meinem Zimmer den Weg zu dem Geldschrank gefunden, wird dann nicht der argwöhnische Vater, der Dir stets das Schlechteste zutraute, Dich für den Dieb halten?« Der Gedanke durchzuckte ihn wie ein Blitz, Er setzte sich wieder auf und raufte sein Haar. Sollte er sofort den Vater warnen, sollte er der Sache ihren Lauf lassen, dann aber die Anzeige verhindern, indem er dem Vater die Wahrheit gestand? Das Letztere schien ihm das Beste, da Abwarten leichter war, als Handeln. Aber er war in einer entsetzlichen Angst und Beklemmung, die sich nicht geben wollte, obwohl er schon eine Stunde hier saß, und die Dämmerung längst hereingebrochen war. Wie ein Verbrecher schrak er zusammen, als er nun Schritte vernahm, und sich rufen hörte. »Hier«, antwortete er mit heiserer Stimme. Es war Fritz.
»Den sendet Gott«, dachte Nik. »Ihm will ich mich anvertrauen?«
»Ich suchte Dich im ganzen Parke«, sagte der Theologe, »ich habe mit Dir zu sprechen.«
Nik erwiderte nichts. Er besann sich, wie er seine Beichte beginnen solle. Aber Fritz war nicht gekommen, um Nik's Klagen zu hören, sondern um eine Botschaft auszurichten. Ohne sich zu setzen, stellte er einen Fuß auf die Bank, auf der Nik saß, und begann in einem trockenen, kalten Tone: »Du warst diesen Mittag Zeuge des Auftrittes zwischen unseren Vätern. Meine Eltern werden die Scholle verlassen, wo meinem Vater jeder Strauch theuer geworden ist, und die seiner vierzigjährigen Arbeit es verdankt, daß das Gut schöner ist, als alle anderen der Nachbarschaft. Es kostet ihm ein Stück seines Herzens, aber seine Ehre ist ihm lieber, als selbst sein Leben.«
Nik war zu beklommen, um irgend ein Wort zu finden. Die Qual seines Verbrecherbewußtseins lag so dumpf auf ihm, daß er vergeblich sich zu sammeln suchte. »Ich habe Euch Fluch gebracht mit meiner Liebe«, wollte er sagen, aber seine Kehle war trocken.
Dieses Schweigen verdroß Fritz. In schärferem Tone fuhr er fort: »Wir haben seit lange Elfrieden vorgestellt, daß sie Pflichten gegen sich habe, gegen uns habe und das Verhältniß zu Dir zu nichts führen könne. Sie lehnte unsere Warnungen früher immer ab, indem sie behauptete, Du habest sie nöthig. Erst heute machte ein Zufall sie zum Zeugen eines Gespräches zwischen Dir und Deinem Vater, das ihr zeigte, daß Du ihre Güte gründlich mißverstandest, und daß Du sogar meinest, sie sei es, die Dich halte.«
Fritz griff bei diesen Worten in seine Tasche und brachte den Ring zum Vorschein, den Nik einst Elfrieden gegeben. »Hier schickt sie Dir Deinen Ring zurück und läßt Dir sagen, daß sie in ihm nie etwas Anderes gesehen habe, als eine Erinnerung an Deine tausendfache Versicherung, ohne ihre Freundschaft würdest Du wieder auf schlechte Wege gerathen. Davon wollte sie Dich abhalten, aber eine Kette sollte der Ring niemals werden.«
Zornig stieß Nik den Ring zurück. »Wer sagt, daß ich los wolle von Elfrieden? Ich habe ja mit Valentinen gebrochen um ihretwillen.«
»Was auf dem Schlosse vorgefallen«, sagte Fritz kalt, »um Deinen Vater so zu erbittern, daß er einen alten, treuen Diener auf die Straße wirft, das weiß ich nicht und begehre es nicht zu wissen. Aber an Elfriede hast Du keinen Anspruch. Du hast sie ja zu Neudorf im Würfelspiel an einen Deines Gleichen verspielt«, setzte er bitter hinzu, »als Ihr um das blinde Mädchen und um die weiße Frau würfeltet.«
Der Vorwurf, den er so lange still mit sich umhergetragen, und den er Elfrieden zu lieb nie hatte aussprechen wollen, war ihm nun doch von den Lippen gefallen. Es war ihm aber alsbald leid. Er machte eine Pause und schaute Nik ernst in das bleiche Antlitz. Er wollte ihm Zeit lassen, sich zu rechtfertigen. Aber Nik rührte sich nicht. Er hatte nur die Empfindung, daß nun das lange erwartete Unheil Schlag für Schlag über ihn hereinbreche. Wenn sie im Gärtnerhause so genau unterrichtet waren über sein Leben in Neudorf, was mußte Elfriede von ihm denken! Ein Gefühl völliger Stumpfheit kam über ihn, aber er dachte noch immer mehr an die Gefahr, die ihm von dem Rothen drohte, als an Fritzens Botschaft, die er nach dem Liebesbeweise, den ihm Elfriede diesen Morgen gegeben, nicht allzu ernst nahm. Noch immer wollte er sich an ihn, den einzigen Freund, wenden, damit er ihn dem Abgrunde entreiße, über dem er hing. Da schlug das Klingen des goldenen Ringes an sein Ohr, den Fritz auf den Altar warf. Jetzt fuhr er auf und rief mit heiserer Stimme: »Fritz, Fritz, so höre doch!« Aber dieser hatte sich bereits entfernt und hörte ihn nicht, oder wollte ihn nicht hören.
Inzwischen war der Abend hereingebrochen, und ein kalter Wind strich durch das Flußthal. Ringsum zwischen den Gebüschen lösten sich kleine Nebelflocken von dem feuchten Rasen, und wie eine große Schlange kroch der Herbstnebel von der nassen Wiese bei dem Gärtnerhause zu den roth und gelb gefärbten Rebbergen empor. Hier und dort unter den Bäumen quirlten weiße Wölkchen, die mit dem nächsten Luftzuge wieder verwehten. Endlich stieg der Mond empor und beleuchtete die Nebelschicht, die gerade abgeschnitten über dem Flusse hing. Alles war trostlos still, nur von der Parkecke her tönte einförmiger, trauriger Unkenruf.
Nik aber saß in tiefer, geistiger Erstarrung, fröstelnd an dem einsamen Waldplatze, und ließ sein verlorenes Leben an seinem Geiste vorübergehen. Sein Herz war krank, schwer krank. Das letzte Ankertau, das ihn noch an das Gute gekettet, war zerschnitten; er fühlte sich selbst als Wrack hülflos preisgegeben den Winden und Wellen. Wenn er darüber nachdachte, warum er das Eine gethan, und das Andere gelassen hatte, so war sie allein der Grund gewesen, und dieser wirksamste Grund des Daseins sollte nun ausgelöscht sein aus seinem Leben. Warum hatte ihn Elfriede emporgezogen aus seinem früheren Zustande, wenn sie sich nun dennoch von ihm wenden wollte? Die Scham vor ihr hatte ihn dem Verführer in die Hände geliefert. Hätte er weiter getrunken, den Rothen klagen lassen, während er zechte, die Wuthausbrüche des Vaters hingenommen und wieder getrunken, dann war er vielleicht verächtlich, aber er war doch kein Dieb. Gerade, daß er sich schämte, vor Elfrieden schämte, hatte ihn in's Verderben gestürzt. Aber vielleicht war es noch Zeit, Alles rückgängig zu machen? Was lag ihm jetzt am Zorne seines Vaters! Er begriff bereits nicht mehr, wie er so unsinnig hatte sein können und so feig, sich zum Spießgesellen eines Diebes zu machen, nur um einer Scene mit den Eltern auszuweichen. Was hatte er denn gewonnen, wenn der begangene Fehler nicht an den Tag kam, aber dafür ein Verbrechen auf seiner Seele lastete? Wenn er nun rasch in sein Zimmer zurückkehrte, den Rothen zurückwies, oder Lärm machte, falls er ihn bereits an der Arbeit traf? Freilich würde ihn Müller der Mitschuld bezichtigen. Sollte er dann leugnen, daß er selbst es gewesen, der dem Einbrecher die Schlüssel ausgeliefert? Er würde schwören müssen? Ach, er war bereits unlösbar in einen Knäuel von Lügen und Verbrechen verstrickt, das fühlte er jetzt erst. Dennoch erhob er sich, um nach dem Schlosse zurückzukehren, aber in diesem Augenblicke schlug der Hund an, der des Vaters Thüre bewachte. Des Rothen Vorhaben war also mißlungen. Sobald das Thier Lärm machte, mußte der Vater erwachen, und der Dieb sich zurückziehen. Aber warum Tyras nur fortfuhr zu wimmern? Es war Nik sogar, als ob er durch die Stille der Nacht den Hund an einer Thüre scharren höre. Dann wurde es wieder still. Was auch geschehen sein mochte, es war zu spät, Nik konnte nichts mehr verhindern, nichts mehr gut machen. Er wurde nur um so sicherer zum Genossen des Einbrechers, wenn er sich jetzt im Schlosse einfand. Von Furcht und Scham gelähmt, sank er in seinen Sitz zurück.
Drüben an den Tannen braute der Nebel seltsame Gestalten, und an den Stämmen leuchtete hier und dort ein phosphorescirender Schimmer. »Die Brunnenfrau steckt ihre Irrlichter an«, sagte sich Nik. »Sie feiert die Stunde, in der einer des verhaßten Hauses zum Schelme wird. Ja der Rothe hatte recht! Ich war der Dritte, der sich ihr verlobte, und mit dem Dritten endet das Geschlecht.«
Wieder versank er in trübes Sinnen. »Hier ist meines Bleibens nicht länger«, sagte er endlich. »Ich werde morgen der Mutter Alles gestehen und dann hinausziehen in die Welt. Ich kann Schreiberdienste thun, ich kann als Agent eines Kaufmanns oder einer Gesellschaft umherreisen, meinethalben selbst eine Zeitung schreiben helfen, aber ich kann nicht unter dem Dache meines Vaters bleiben, der den Knaben verzog, um den Mann zu mißhandeln. Als mir die Ruthe gehörte, thaten sie mir alle den Willen. Nun ich das Recht hätte, einen Willen zu haben, werde ich geschlagen wie ein Kind. Aber ich will ihnen zeigen, daß ich ein Mann bin.«
Mit diesem Entschlusse erhob er sich. Im nächsten Augenblicke freilich kamen ihm seine Pläne schon wieder völlig chimärisch vor. Wie würde er, der Verweichlichte, Verwöhnte, sich sein Brot selbst verdienen können? Er lachte bitter auf, und der Gedanke, sich zu tödten, trat auf's neue vor seine Seele. Tiefsinnig schritt er in dem einsamen Walde hin und wieder. Dann sagte er: »Nein! Elfriede hat recht. Es ist gar nicht ausgemacht, daß ein solches Ende wirklich ein Ende macht. Mir ist oft, als wäre ich schon einmal gewesen, und wenn ich mich tödte, werde ich wieder sein. Es ist kein Entrinnen aus der Hand dieser furchtbaren Mächte, mögen sie Götter heißen oder Teufel.« Mechanisch war er bei diesen Worten an den Altar zurückgekehrt, und ließ seine Hand über den vertieften Stein gleiten. Er suchte im Dunkeln Elfriedens Ring und nahm ihn, als er ihn gefunden, in seine Hand. Aber wohin damit? Unwillkürlich fiel ihm das Bild der Psyche ein. Sollte er den Ring ihr wieder bringen? Da sah er zwischen den Tannen die weiße Nebelsäule aufsteigen. Ein Strahl des bleichen Mondlichts streifte sie jetzt, so daß sie mit gespenstischer Deutlichkeit, wie er sie nie gesehen, vor ihm stand. Ein eisiges Frösteln schlich dem Einsamen über den Rücken. Mit blechernem Klange schlug unten am Flusse die Dorfuhr Mitternacht. Da hielt er es nicht länger aus in dieser furchtbaren Einsamkeit; er wollte hinauf in seine Stube. Aber als er zwei Schritte vorwärts gethan, erschauerte er. Die weiße Gestalt neigte sich im Nachtwinde ihm entgegen und streckte einen ihrer luftigen Arme zu ihm herüber. Nik's Gehirn begann zu fiebern. »Ja, ich will Dir den Ring wiederbringen«, rief er, »Dir, Dir, der ich ihn geraubt!« Sich aufraffend, mit irrem Auge und kaltem Schweiß auf der Stirne, stürzte er durch Dorn und Dickicht der weißen Gestalt entgegen. »Weg, weg!« rief er zu den Brombeerranken, die ihn fest hielten, und er arbeitete sich hindurch bis zu der Cisterne. Dann rief er feierlich: »Dir verlobe ich mich, Du alter Vampyr unseres Geschlechts! Hörst Du, ich, ein Dieb, Genosse eines Einbrechers, ich bin nun Dein Bräutigam«, und er warf den Ring hinab in die Tonne, daß er ihn unten klingen hörte. »Jetzt bin ich Dein«, lachte er gellend, »hole mich bald in Dein kühles Brautbett, Hörst Du, bald, bald, ehe sie ihn greifen, Deinen Verlobten, den Dieb und Diebsgenossen.« Ein starker Windstoß fuhr durch die alten Ahornstämme, und ein Regen der schweren, herbstdürren Blätter rauschte hernieder, und kühler Thau fiel auf Nik's Haupt. »Nimmst Du ihn an, Deinen Bräutigam?" rief er mit wahnsinnigem Lachen. »Warte, ich küsse Dich«, und er suchte sich durchzuarbeiten durch die dichte Brombeerhecke. »Siehe, sie halten mich, aber ich komme doch, ich komme.« Durch den Lärm aufgestört, wurden die Vögel in den Büschen wach und ihre Stimmen tönten wirr durcheinander: »Thu' es nicht, thu' es nicht.« Aber Nik drang vorwärts, obwohl seine Kleider zerrissen und seine Hände und sein Gesicht blutige Wunden davontrugen. Als er hindurch war durch das Gesträuch, fand er die weiße Gestalt nicht mehr; sie war zerflossen, und er stand schaudernd in der nächtlichen Einsamkeit. Da sah er drüben am nächsten Busche den Spuk wieder. Sie wollte sich verbergen, aber der weiße Saum ihres Gewandes verrieth sie. Leise folgte er ihr, um sie zu haschen, und wie eine Nebelwolke schwebte sie vor ihm her. Da brach der Mond durch die Wolken. Der weiße Schleier war wiederum verschwunden, und Nik blickte fröstelnd auf die lange Flucht von Bäumen, die kühl und traurig im Mondschein sich ausdehnte. Er stand mitten auf dem Geisterwege. Aengstlich ging er vorwärts, bei jedem Geräusche erschauernd. Zuweilen war es ihm, als ob in nächster Nähe Jemand arbeite; er glaubte leise, schleichende Schritte zu hören, und tiefes Athmen wie von Einem, der eine schwere Last trägt. Aengstlich beschleunigte er seinen Lauf, aber als er den breiten Gang passirte, dessen Bogen mit rothem Weinlaub sich scharf von der Nebelwand des Flusses abhoben, entsetzte er sich auf's neue. Das Bild der Psyche war herabgestiegen von seinem Postamente. Die Braut seiner Knabenjahre stand am Boden und schaute traurig vor sich hin. Nik fuhr zusammen, und floh so rasch er konnte den Berg hinab. Aber ein Schatten huschte neben ihm her. Er saß auf der Brücke, als er dort Halt machte, er folgte ihm in's Haus, und verließ ihn erst, als er athemlos in seinem Zimmer ankam. Die Thüre nach des Vaters Gemächern stand offen. Er sah in den dunklen Raum mit klopfendem Herzen. Welches Geheimniß er wohl barg? Aber Alles blieb still. Man hörte nur den ruhigen Pendelschlag der Uhr. Vorsichtig zog er die Thüre zu und schob den Riegel vor. Mit einem tiefen Seufzer warf er sich sodann in einen Lehnstuhl und todtmüde schlief er ein. Aber es war der Schlaf eines Fieberkranken, aus dem der Schläfer mit einem Schrei emporfährt. Ein drückender Alp hatte sich auf seine Brust gelegt. Er träumte, seine neue Braut habe ihn hierher verfolgt, sie neige sich durch das Fenster herein und umfasse ihn mit ihren kalten, todten Händen. Ihr lang gezogenes Gesicht beugte sich über ihn, er sah ihre Augen, es waren die leeren Augen einer Blinden. Da fuhr er auf und starrte in die halbdunkle Stube. All' die bekannten Gegenstände schienen ihm fremd in dem Dämmerlichte, das sie umgab. Der Mond war hinter dem Berge versunken, und eine schwere Nebelmasse lagerte draußen über dem Garten. Der Wind stöhnte und wimmerte im Kamin, und ein Käuzchen wiederholte seinen unheimlichen Klageruf. Der fröstelnde Kranke hatte es noch nicht über sich gebracht, sich zu erheben, als ein Laut in den Gemächern seines Vaters ihn erschreckte. Es war, als ob Jemand mit mühsamen, schleppenden Schritten sich durch die Zimmer schleiche. Dann schien es wieder der Hund zu sein, denn es schleifte am Boden hin. Dazwischen hörte man ein tiefes schmerzliches Stöhnen, das Nik durch Mark und Bein schnitt. Es war ein rauher, gebrochener Ton, der vom Boden her oder aus dem Innern der Erde zu kommen schien. Zitternd saß Nik in seinem Lehnstuhle. Sein Herz hämmerte in seiner Brust, daß er es hörte. »Du hast ein Verbrechen begangen, und nun naht die Rache«, sagte eine Stimme in seinem Ohre. »Dieb, Dieb!« rief es in ihm. Aber nun schleppte sich das Geräusch immer näher, es tastete an seiner Thüre. Jetzt hielt Nik es nicht länger aus. Auf dem Tische stand sein Leuchter; er trat zwischen das offene Fenster und den Tisch, so daß ihm die Nachtkühle feucht in den Nacken schlug. Als er das Licht entzündete, fiel sein Schatten rückwärts, geisterhaft sich hin und herbewegend auf den Nebel draußen. Wieder fühlte Nik die feuchte Hand der Brunnenfrau an seinem Nacken. »Es ist der Nebel«, sagte er sich, »die kühle Nachtluft.« Allen seinen Muth zusammennehmend, wendete er sich hastig um; er wollte das offene Fenster schließen, das ihm diese Schauer schuf, und er hatte die Arme bereits zu diesem Zwecke ausgebreitet, da sah er die Brunnenfrau vor sich stehn, dunkel, riesengroß, wie das Brockengespenst. Mit ausgebreiteten Armen neigte sie sich ihm entgegen, um ihn zu umfassen; kalt hauchte sie ihn an mit ihrem eisigen Odem, und er stürzte zusammen mit gellendem Schrei. »Nik, so öffne doch, Nik!« wimmerte an der Thüre eine Stimme. »Nik, so höre doch!« Aber Nik hörte nicht. Er lag in tiefer Ohnmacht an der Erde.