Adolf Hausrath
Elfriede
Adolf Hausrath

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Fünftes Kapitel

Das Schloß der Altenbrück bildete mit seinen glänzenden Zinnen und hohen Schieferdächern zu der dunkeln Höhle an der Dorfmauer den denkbar größten Gegensatz, wer aber in demselben auch ein entsprechend glänzenderes Glück gesucht hätte, wäre bei näherer Prüfung bald eines Andern belehrt worden. Gesitteter ging es in seinen Prachtsälen freilich zu als in der Spelunke der alten Müllerin, aber durchaus nicht fröhlicher.

Der Freiherr hatte in seiner Jugend allzu flott gelebt, und die Folge war, daß er schon als Mann an allen Greisenübeln krankte. Irgend eine Schraube in seinem Kopfe war stets verdreht, und da sein Nervensystem völlig zerrüttet war, so hatte er selbst das Gefühl, daß er einem Hause gleiche, dessen Fundament erschüttert ist und dem alle Reparaturen darum nicht aufzuhelfen vermögen. Dazu war sein Unglück, daß er volle Zeit hatte, jede Verstimmung seines Körpers zu beachten und sich mit tausend Grillen zu quälen, wodurch er sich und Anderen zur Last ward. Er hatte immer etwas, was ihn stachelte und reizte und womit er sich und den Seinen die müssigen Tage verdarb. Seine einzige Erholung war, von Zeit zu Zeit nach der Stadt in den Club zu fahren, wo hoch gespielt ward. Aber er schien sich dort weder Erfrischung noch gute Laune zu holen. Im Gegentheil, er war dann immer mehrere Tage abgespannt und gereizt, und man that wohl daran, ihm aus dem Wege zu gehen. Unter diesen Umständen war sein Familienleben nicht das glücklichste.

Der Baron und die Baronin hatten sich gegenseitig das Unrecht vorzuwerfen, daß sie einander geheirathet hatten, ohne sich zu lieben, und sie waren beide schlechter geworden in dieser Ehe, die ihnen nur Langeweile und ein einziges kränkliches Söhnchen bescheert hatte. Wurde der Kleine krank, was fast in jeder Woche einmal der Fall war, so ging der Baron mit wüthendem Gesichte durch die Zimmer und drehte die Enden seines Schnurrbarts zu gefährlichen Spitzen, und wehe Dem, der ihm dann in die Quere kam. Nach seiner Ueberzeugung war nur die völlig verkehrte Behandlung der Grund von Nikolaus' ewigem Kränkeln. Die Baronin aber schloß sich in solchem Falle mit dem kleinen Patienten ein, stets bereit, für jedes Zucken der fiebernden Händchen den lauten Schritt ihres Gemahls und sein ungestümes Schließen der Thüren verantwortlich zu machen, und fest überzeugt, er habe ihr das Kind erkältet, als er es vor Tagen in der Nähe des Fensters auf den Arm nahm. Statt zu einem Bande war so das zarte Kind zu einem Zankapfel zwischen Vater und Mutter geworden, da beide stets verschiedener Meinung waren, was für dasselbe zu geschehen habe. Natürlich setzte zuletzt doch die Mutter ihren Willen durch; da der Freiherr sich aber auf eine mürrische und unliebenswürdige Art unterwarf, bestärkte er sie nur in ihrer Ueberzeugung, eine unglückliche, unterdrückte, unverstandene Frau zu sein. Kränklich und schwächlich, wie sie war, machte ihr die Führung ihres Hauswesens keine Freude, und da ihrem grilligen Gemahle doch nichts recht zu machen war, ließ sie schließlich Alles gehen wie es ging. Am liebsten brachte sie ihre Tage damit zu, Briefe voll schmerzlicher Ergüsse an ihre Freundinnen zu schreiben, oder Stickereien und Strickereien zu Geburtstags- und Weihnachtsgeschenken herzustellen. Natürlich war das kein Mittel, ihrem Ehemanne ihren Umgang erfreulicher zu machen, und beide gingen neben einander her, ohne sich viel um einander zu kümmern, bis ein neuer Zank sie wieder gegen einander warf.

Unterstützt wurde die Baronin in ihrem Kampfe gegen den eigenen Mann durch ihre Schwester.

Tante Klara, wie diese sich seit der Geburt ihres Neffen am liebsten nennen ließ, war ein verbittertes altes Fräulein. Auch sie war krank, und ihre leidenden Augen quollen ihr so weit aus dem Kopfe hervor, daß man auf die Vermuthung kam, sie trage dieselben wie eine Schnecke auf Hörnern und werde sie im nächsten Augenblicke noch weiter hervorstrecken. Die von Seufzern lebende Dame hatte stets eine Klage gegen ihren Schwager auf den Lippen und einen Band Channing in der Tasche, für welchen Lieblingsschriftsteller sie eine unermüdliche, glaubenseifrige Propaganda machte. Für den Baron war die bleiche, magere Tante Klara, die ihn um eines Kopfes Länge überragte, einer der schlimmsten Nägel an seinem Ehekreuze, da sie jede Verkehrtheit seiner Gemahlin unterstützte.

»Nicht wahr, Herr Pastor«, hatte einst der Baron den Prediger gefragt, »der liebe Gott schuf im Anfang Mann und Frau, aber keine Schwägerin.«

Der Pfarrer lachte und meinte gutmüthig: »Da Eva sofort zwei Knaben gebar, wird doch wohl auch die Schwägerin von vorn herein in den Weltplan aufgenommen gewesen sein.«

»Dann war sicher die Schlange im Paradiese die erste Schwägerin«, brummte der Baron ingrimmig. Tante Klara's geröthete Augen quollen zornig aus dem bleichen Gesichte hervor, aber sie arbeitete mit ihren großen Filetnadeln ruhig weiter, ohne ein Wort zu erwidern; durch solche taktlose Ausfälle ließ sie sich nicht »aus dem Hause ihrer Schwester«, wie sie mit Nachdruck zu sagen pflegte, vertreiben.

Einen segensreichen, vermittelnden Einfluß übte bei diesen unerquicklichen Verhältnissen nur der alte Pfarrer, dem die Baronin, und in seiner Art auch der Baron, ein gewisses Vertrauen entgegenbrachte. Im Grunde beruhte das ganze Geheimniß seiner Einwirkung darauf, daß der alte Herr beide Theile ruhig sich aussprechen ließ, sie wohlwollend anhörte und schließlich der Meinung war, daß andere Leute auch ihr Päckchen zu tragen hätten und Geduld haben müßten mit den Grillen ihrer Ehehälften. Meist hatte er dann auch für den einzelnen Fall einen vernünftigen Rathschlag, dem beide Ehegatten sich lieber fügten, als daß Einer dem Andern nachgegeben hätte.

Aus der Rede des geistlichen Herrn, daß Nik eine um so frohere Zukunft haben werde, je schwerer seine Kindheit sei, hatte die Baronin seiner Zeit großen Trost geschöpft. Sie hatte denselben auch nöthig, denn mit dem Befinden des Knaben wurde es vorerst nicht besser. Die Medizinen des Hausarztes hatten ihm für alle Zeiten den Magen verdorben, und die Süßigkeiten, welche die Kinderfrau und andere Dienstboten ihm zusteckten, weil sie den jungen Herrn an sich gewöhnen wollten, verdarben ihm auch noch die Zähne. Da der kleine Nikolaus aber gemäß seiner gesellschaftlichen Stellung den halben Sommer über Rundreisen bei der hohen Verwandtschaft machte, denn es verstand sich doch von selbst, daß seine Mama einige Wochen mit Adelinen, Josephinen, Lili, Mimi, einige mit Tina und einige mit Rudolfe zusammen sein mußte, so kam weder das junge Gehirn bei den langen Eisenbahnfahrten und der beflissenen Unterhaltung am fremden Orte, noch der Magen bei der stets wechselnden Kost jemals in Ordnung. Den Winter gehörte er dann wieder dem Medizinalrath.

Das war nun eine der Gelegenheiten, bei denen der Prediger in höchst verständiger Weise eingriff, indem er der gnädigen Frau zuredete, es ein Mal einen einzigen Sommer in ihrem Schlosse auszuhalten, um zu versuchen, ob ihr Nik nicht besser gedeihe, wenn er nicht fortwährend hin und her geschleppt werde. Da der Pastor ihr die Hölle dieses Mal heiß machte, wagte sie nicht ungehorsam zu sein. »Ich muß wohl hier sitzen, wenn ich mir nicht von meinem Manne bis zu meinem Todbette will vorwerfen lassen, daß ich Nik's Gesundheit durch Reisen ruinirt habe«, sagte sie zu ihrer Schwester. Mit dem Bewußtsein einer Märtyrerin ergab sie sich darein, eine Weile so zu leben, wie es den Bedürfnissen ihres Kindes entsprach, und da der Pfarrer es verlangte, fand sie sich auch darein, den Knaben den Tag über in dem Garten und dem schattigen Parke zu lassen. Die guten Folgen für Nik's Gesundheit blieben nicht aus. Die wachsbleichen Züge des Kleinen belebten sich, der schlaffe, ermüdete Ausdruck wich, ein Schimmer von Jugendfreude legte sich über das feine liebliche Gesichtchen des Kindes, und durch den matten Milchglanz der zarten Haut sah man die blauen Adern an der Schläfe schimmern.

Aber Nik's Verhängniß, ein vornehmes Söhnchen zu sein, gab ihn auch jetzt nicht frei. In Gestalt der alten Kinderfrau, die schon die Baronin erzogen, das heißt zu der launenhaften, verzärtelten, kränklichen und phantastischen Dame gemacht hatte, die sie war, blieb es dem kleinen Nikolaus getreulich zur Seite. In ihrer saubern weißen Haube und den altmodischen dunkeln Kleidern sah die alte Barbara äußerst würdig aus mit ihrem faltigen Gesichte und dem gefältelten weißen Kragen. Aber dazu, ein Kind fröhlich zu erziehen, war sie zu alt und ernsthaft. Den Kleinen zu den lustigen Gärtnerskindern an den Sandhaufen zu setzen, wäre gegen ihre Ehre gewesen, auch hätte die Baronin es nicht geduldet. Sie selbst aber wußte das Kind nicht zu beschäftigen, das freilich auch launischer war als gesunde Kinder zu sein pflegen. Wenn man mit ihm spielte, ermüdete es rasch, und allein wußte es nichts mit sich anzufangen. So verlegte sich die Kinderfrau auf's Erzählen. Den Geschichten, in denen der Wolf kommt, folgten die Märchen von Feen und Prinzen, dann kamen Braut und Bräutigam, Räuber und allerlei Dornröschen an die Reihe. Mit großen Augen und dem frühreifen Verständniß eines kränklichen Kindes folgte der Kleine den Erzählungen der alten Barbara. Der junge Kopf wurde vollgepfropft mit Märchengestalten und Liebesgeschichten, und so wurde auf eine neue Methode sein krankes Gehirn nochmals krankhaft überreizt. Oft fuhr er in der Nacht mit einem Schrei aus seinem Schlafe auf, weil der Wolf ihn am Kragen halte oder weil Sindbads Schiff an einer Klippe zerschellte, oder das Ei des Vogel Rock entzwei gegangen war und ihn ganz mit seinem gelben Dotter überschüttete. Als er älter wurde, widmete er die Liebesgefühle, von denen er gehört, bald dem Fräulein seiner Mama, bald den dienenden Geistern der Küche. Er bildete sich zu einem kleinen Don Quixote aus, und der weite Garten und Wald bot ihm reichlich Gelegenheit zu praktischer Betätigung seines überreizten Phantasielebens. Hier hatte er seine Wolfshöhlen und Tigerlöcher, vor denen er mit einem Speere Wache stand, seine Zauberburgen und Gefängnisse, aus denen er, tapfer mit seiner Gerte fechtend, eingekerkerte Prinzessinnen befreite und vor denen er, eine lange Stange unter dem Arme, mit den Mohrenkönigen der alten Bärbel tournirte, während sie bewundernd zuschaute und ihn in seinem überspannten, altklugen Wesen bestärkte. Sie zeigte ihm die dichten Hecken, hinter denen Dornröschen schlief, die Höhlen, wo der feuerspeiende Drache hauste, die Eismauern, hinter denen die Nordlandskönigin thronte, und das Häuschen der bösen Hexe. Auch war die weite Anlage, die die glänzenden Schieferdächer des modernen Schlosses umgab, ganz dazu angethan, dem kleinen Don Quixote einen weiten Spielraum für sein phantastisches Treiben zu eröffnen.

Vor dem Schlosse, längs der Landstraße, breitete sich der Blumengarten und Obstgarten aus. Der Kleine mied den ersteren, weil er unter den Augen der Eltern lag, die ihn von ihren Fenstern oder von der säulengetragenen Vorhalle aus stets vor etwas zu warnen hatten. Er sollte nicht in das Bassin fallen, er sollte sich vom Springbrunnen fern halten, er sollte nicht zu lange in der Sonne bleiben, er sollte nicht in die Beete treten, er sollte sich die Füße nicht im Rasen naß machen. All diese Fürsorge bewirkte, daß der Knabe mit der Zeit Papa und Mama nur noch als eine große Belästigung empfand. »Komm, sie gucken«, pflegte er zu seiner Bärbel zu sagen, und unter dem Vorwande, nach den jungen Hühnern zu sehen, zog er sich sachte nach dem Obstgarten. Dort stand er dann und drückte sein bleiches, feines Kindergesicht an das Drahtgeflecht des Hühnerhauses, um dem Treiben der bunten Thiere zuzusehen. Es ging da geschäftig genug zu und ganz wie in der großen Welt. Die schwarzen, braunen und gesprenkelten Hennen redeten vom Wetter wie die Menschen, und der Hahn verkündete, daß es bald anders werde. Die weißen Cochinchinahühner mit den orangefarbenen Strümpfen hielten sich vornehm bei Seite und hackten auf die gemeinen Thiere, die ihnen zu nahe kamen. Diese aber vermeldeten, daß die Fremden nicht einmal weiße, sondern schmutzige gelbe Eier legten, und erhoben ein großes Gegacker darüber. Die Glucken, die gebrütet hatten, durften außerhalb des Hühnerhauses ihre Küchlein im Obstgarten umherführen. Unermüdlich scharrten sie für ihre Kleinen oder ließen sie von dem aufgeweichten Brote im Napfe fressen. Dann aber mußten die Küchlein ruhig unter die Fittiche der Alten schlüpfen, bis sie verdaut hatten, und war dieses Geschäft besorgt, so führte die Glucke sie wieder würdig spazieren. Liefen die Jungen, die noch keine Lebensart hatten, in die Blumenbeete und der Gärtner scheuchte sie zurück, so entflohen die Hühnchen eilig, nur die jungen Hähne waren obstinat und warteten bis Vater Glimm nach einer Erdscholle griff und sie durch Werfen verjagte. Auch untereinander rauften sich die jungen Hähne, und der alte Hahn hackte nach ihnen, kurz es ging ganz zu wie unter den Menschen, und die alte Barbara wußte ihrem Zöglinge dieses Abbild des Lebens weise zu deuten. War Nik dieses Schauspiels müde, so ging er nach dem Zwinger, wie man den schmalen Hof zwischen der Rückseite des Schlosses und den gewaltigen Stützmauern des Gartens nannte, über den eine kühne Brücke gespannt war, die Schloß und Garten verband. Unter der Brücke wölbte sich eine tönende Nische, in der der Abfluß der verschiedenen Gartenbrunnen und Bassins rauschend in einen gewaltigen Brunnensarg fiel. Hier ließ Nik kleine Schiffchen schwimmen und führte sein Pferd in die Schwemme. Hinter der Mauer hatte er alle Gefangenen seiner Märchen eingekerkert und spähte durch die Mauerlücken, um Bärbel zu erzählen, wie sie sich befänden. Ertönte dann von oben der unvermeidliche Zuruf: »Nik, erkälte Dich nicht«, so machte er sich weiter und entwischte dem ängstlichen Auge der Mutter über die leichte englische Treppe, die zum Garten hinaufführte. Die kunstvolle Anlage mit seltenen Nadelhölzern und fremden Blüthenbäumen, die der Rückseite des Schlosses zunächst lag, durchflog unser Held in Eile. Denn sobald die Mama ihn im Vorgarten nicht mehr erblickte, setzte sie sich zum Brunnen hinter der Brücke oder in die benachbarte Laube, um wenigstens Nik's Stimme vernehmen zu können, wie er in den Waldwegen des Parks herauf und herabgaloppirte und den Mohren dutzendweise die Köpfe abhieb. Die weiten Rasenflächen, zahllose verborgene Plätzchen, Pavillons, Urnen und Altäre reizten hier seinen Trieb zum Geheimnißvollen. Wenn ein Zweig sich bewegte, sah der dunkle Stamm dahinter aus wie ein Mann, der ihm drohte; oder über eine Bank lief der Schatten eines Astes so finster, als ob eine dunkle Gestalt auf derselben sitze. Seine überreizte junge Phantasie schuf sich tausend spukhafte Erscheinungen, und wie aus einem Zauberwalde trat er mit erleichtertem Herzen an der Ecke des Parks in's Freie heraus. Dort sah er über den Gemüsegarten und die Rebengelände nach der Wiese bei dem saubern Gärtnerhäuschen, wo die Zwillinge ihrer Mutter zur Hand gingen, wenn sie die Wäsche aufhing. Oft warf er sehnsüchtige Blicke zu den Kindern hinüber, mit denen er so gern gespielt hätte, wäre es nicht unschicklich gewesen, wie die alte Barbara sagte. Wohl hatte er einmal die Frage gewagt, warum es unschicklich sei, aber die Mama hatte erwidert, er würde unpassende Worte von ihnen lernen und Unarten, und damit hatte er sich zufrieden geben müssen. Uebrigens kam er auch nur selten hierher, denn es war stets feucht hier und zugig.

Eine Gruppe von Tannen, zwischen denen weiße Birkenstämme geisterhaft hervorschimmerten, bezeichnete weithin dieses Ende des Schloßparks. Der saftige Rasen rings umher bewies, daß unter den Farnen und dem Moose, das um die alten Stämme wucherte, in der Tiefe Wasser sickere. In der That war hier einmal eine Cisterne gewesen, der Brunnen des längst abgetragenen alten Schlosses. Das zerfallene, von Brombeerhecken überwucherte Gemäuer war verrufen. Man erzählte, daß vor Zeiten eine Müllerstochter, die ein Junker von Altenbrück betrogen, sich an seinem Hochzeitstage hier ertränkt habe. Zuweilen erscheine sie, was stets dem Hause der Altenbrück Unheil bedeutete, und ihr schrieb man zu, daß der Mannsstamm der Familie auf so schwachen Füßen stand und jetzt zu erlöschen drohte. Die Cisterne war längst in sich zusammengebrochen; der Gärtner hatte sie mit Erde aufgefüllt und einfache Vorrichtungen hergestellt, um das spärliche Wasser der alten Rinne aufzufangen, aber seit der Baron für reichliche neue Leitungen gesorgt, hatte man die alte Leitung morsch und leck werden lassen. Als sich Nik einst in das Dickicht wagte, fand er eine in die Erde eingegrabene Tonne, über der eine abgebrochene Thonröhre hervorstand, und seine nassen Füßchen belehrten ihn, daß noch immer eine verlorene Quelle sich den Weg hierher suche. Gegen Abend ertönte hier trauriger Unkenruf und zuweilen erhob sich ein weißer Nebel über dem nassen Grunde, den der Luftzug bald nach dem obern Weinberge, bald nach der Treppe abwärts jagte, die nach dem Gemüsefelde zum Garten herabführte, bald auch webte er ruhig zwischen den dunkeln Tannen und bildete da seltsame Gestalten. Die Leute im Schlosse nannten den duftigen Streif die Müllerstochter oder die Brunnenfrau. Ungern gingen sie in der Nacht den Pfad am Waldessaume und hießen ihn den Geisterweg. Sie wollten dort schon Lichter gesehen und Stimmen gehört haben, und es bedeutete nie etwas Gutes, wenn der weiße Saum der Brunnenfrau bis zur Treppe sich hinzog. Der kleine Nik fühlte sofort hindurch, daß es sich mit dieser Erzählung seiner Bärbel anders verhalte, als mit der Drachenhöhle und dem Tigerloche, das die Alte ihm gezeigt hatte, und der Schauder, den die Erzählerin selbst empfand, theilte sich auch dem Kinde mit, das doch gern einmal von Weitem die Brunnenfrau gesehen hätte und traurig war, daß es immer den Garten verlassen mußte, ehe der Nebel aufstieg.

Die Früchte dieser Ueberwucherung des Phantasielebens traten zu Tage, als mit dem sechsten Lebensjahre Nik's Unterricht beginnen sollte. Er war jetzt reizend, der kleine Nik, mit seinen großen hellblauen Augen und der verständnißvollen altklugen Miene; er war sanft und gutmüthig und von gutem Willen, aber es schien fast unmöglich, in den mit Märchen vollgepfropften Kopf etwas hineinzubringen. Zwar mit dem Lesen ging es noch, und nachdem er einmal die ersten Schwierigkeiten überwunden hatte, warf er sich mit einem wahrhaft krankhaften Heißhunger über die Märchenbücher und Kindergeschichten her, die ihm den Mangel aller Gespielen ersetzen mußten. Sein Hang zum Träumen wurde dadurch nur gefördert, und war ein Buch zu Ende gelesen, so konnte er noch stundenlang in den Sophakissen kauern und in's Blaue starrend seinen phantastischen Bildern nachhängen. Die ungesunden Träumereien entnervten ihn aber auf's neue. Jeden Winter gerieth er wieder in die Hände des Hausarztes, und da er zwischen Arzneikolben aufwuchs, konnte von einer Gewöhnung an geordnete Arbeit nicht die Rede sein. Seine schwache, zitternde Hand führte die Feder schlecht und er malte entsetzliche »oh« und »eh« in die Hefte. Die Geheimnisse des Addirens und Subtrahirens ihm einzuprägen, mußten Mutter und Tante Klara endlich aufgeben. So entschied man sich denn für einen Hauslehrer.

Während die Zwillinge mit ihrer Schiefertafel lustig zur Schule trollten und sich ihnen dort täglich neue Quellen der Lebensfreude und der fröhlichen Entfaltung ihrer Kräfte aufthaten, lernte das Schloß eine Perlenschnur von Kandidaten kennen, die Nik's Unterricht übernommen hatten, weil sie Zeit gewinnen wollten, sich zu ihrem eigenen Examen vorzubereiten, mit dem es haperte, oder weil sie eine unüberwindliche Scheu hegten, in den Beruf einzutreten, den sie sich doch selbst gewählt hatten.

Der erste war ein bleichsüchtiger, semmelfarbener junger Mann mit unreiner Haut, der täglich versicherte, daß das Examen ihm auf die Nägel brenne. Vermuthlich war es darum, daß er zum Entsetzen der Baronin fortwährend an seinen Fingern nagte. Mit Tante Klara hatte er es gleich am ersten Tage verdorben, da er ihren Channing zurückwies, indem er keine Zeit für unnütze Lesereien habe. Seitdem hatte sie ein scharfes Auge auf ihn und fand bald, daß er sich täglich verschlechtere. Nachdem er einige Wochen mit Nik gerechnet und ihm die Anfangsgründe des Lateinischen eingetrichtert hatte, ließ er »zur Uebung in der Selbstständigkeit«, wie er sagte, seinen Schüler für sich allein lernen, während er selbst seine Examenvorbereitung betrieb. Nun verlangte Tante Klara ungestüm seine Entlassung. Aber der Baron wollte von einem Wechsel nichts hören.

»Einen fehlerlosen Gaul, meine Gnä'ge«, schnarrte er in seiner Weise, »habe ich immer nur in fremdem Stalle gesehen. Sobald ich ihn im Hause hatte, war er ein Durchgänger, ein Krippenbeißer oder sonst ein Racker. Bei dem Wechseln kommt also gar nichts heraus.«

Aber Tante Klara war so leicht nicht zur Ruhe zu bringen, und der Herr Kandidat ließ wirklich nach. Als die Sommerhitze drückender wurde, traten an Stelle der Examenbücher Romane, in die der Zögling mit der Zeit auch einsah, und als der Freiherr in einer Stunde, wo ihn seine üble Laune durch das Haus trieb, Lehrer und Schüler darüber betraf, wie sie zusammen einen Band aus der Leihbibliothek verschlangen, gab er selbst dem jungen Manne in gröblicher Weise den Laufpaß. An seine Stelle trat ein rothbackiger, aufgeregter junger Doktor, der stundenlang auf den armen Nik einredete, so daß dieser fortwährend sein Gesicht mit seinem kleinen Taschentuche abwischen mußte. Er hatte für Channing mehr Interesse, aber bei der Mittagstafel brachte er durch seine Beredtsamkeit den Baron zur Verzweiflung, denn der junge Mann bereitete sich für die Tischunterhaltung eifrig aus Channing und andern Büchern vor, und wußte sich durch sein lautes Wesen bald so unleidlich zu machen, daß der Baron ihm kündigte, obwohl beide Damen fanden, daß das etwas taktlose Wesen des Doktors doch kein Grund sei, ihn auf die Straße zu werfen. An seine Stelle trat ein alter Student mit zerhauenem Gesichte. Er dressirte die Hunde des Barons mit größerem Erfolge als sein Söhnchen. Zuweilen war er angetrunken, und als das Fräulein, das den Weinkeller unter sich hatte, dahinter kam, daß die Quelle seiner Begeisterung in ihrem Weinschranke sprudele, jagte der Baron ihn fort. Ein ernst aussehender älterer Lehrer, der schon viel unterrichtet hatte, trat an seine Stelle. Er war von dunkler, galliger Gesichtsfarbe, die schwarzen Augenbrauen waren über der Stirn zusammengewachsen, was seinem Gesichte etwas Finsteres gab. Er schrie auf den Kleinen beim Unterricht ein, daß diesem Hören und Sehen verging, und Nik noch dümmer wurde als die Lectüre der Romane und Märchenbücher ihn schon gemacht hatte. Der Junge erschien oft bleich und aufgeregt bei Tisch und konnte kaum etwas essen. Gleich einem fremden Waisenknaben schlich er sich verschüchtert nach seinem Stuhle, aber es war nicht aus ihm herauszubringen, was ihm sei. Da war die Baronin eines Abends anwesend, als Nik gebadet und abgetrocknet wurde, und gewahrte auf seinem Rücken ältere und neuere Striemen, die in allen Farben glänzten. Nur schwer war der Knabe zu dem Geständniß zu bringen, daß der neue Informator ihn mit dem Stocke zu züchtigen pflege. Der energische Pädagoge hatte nämlich dem Kinde gedroht, er wolle ihm alle Rippen im Leibe entzwei schlagen, falls er sich bei den Eltern beschwere. Entrüstet stürmte die Baronin zu ihrem Gemahle, der die Narben seines Rekruten sofort in Augenschein nehmen mußte. So wurde denn auch der vierte Pädagoge entlassen und ein neuer gesucht. Derselbe fand sich im Lande Württemberg. Es war ein junger Tübinger Theologe, der zur Wohlbeleibtheit neigte. Der kleine Gottesmann hatte eine niedere Stirne und große starre Augen. Nik lebte unter seiner Pflege wieder auf, da der schwäbische Kandidat große Spaziergänge mit ihm machte. Die Stunden verliefen still und friedlich. Aber der schwäbische Pädagoge war ein Philosoph und gedachte die Welt mit einem neuen Systeme zu beschenken, und während er über den Abfall der Natur vom Absoluten brütete, und dabei Augen machte wie ein todter Hase, malte sein Zögling in alle seine Hefte Männchen und Weibchen, das Ei des Vogel Rock und Aladins Zauberlampe. Bei einer Prüfung zeigte sich, daß Nik das Wenige, was ihm der Vorgänger eingeprügelt hatte, wieder vergessen habe, und der Baron stellte nun ernstliche Betrachtungen darüber an, ob er das halbe Dutzend von Hauslehrern vollzählig machen oder seinen einzigen Sohn bei einem Professor unterbringen wolle.

In solchen Betrachtungen aus dem Fenster schauend, sah er die Gärtnerskinder aus der Schule zurückkehren. Sie sahen so fröhlich aus, wie Nik noch niemals von seinem einsamen Unterrichte zu Tisch gekommen war. Fritz trug den Ranzen an einem Riemen, während er mit dem andern sich selbst das Gesicht bearbeitete. Elfriede schlenkerte ihren Schulsack, als ob es in der Welt nichts Lustigeres gebe, als in die Schule zu gehn. Da fragte sich der vornehme Mann, warum er eigentlich sein Fleisch und Blut dieses Glückes beraube. »Man bringt einen Knaben um den besten Theil seiner Jugend, wenn man ihn nach pennsylvanischem System erzieht«, sagte er bei sich selbst. Die Folge dieser Betrachtung war, daß der Baron seiner Gattin mittheilte, er wolle Nik in das Gymnasium thun. Da aber kam er schön an. Die Baronin verfiel in Weinkrämpfe, sie weissagte, daß sich Nik bei dem Gang in die Stadt die Rippenfellentzündung holen, an Gelenkrheumatismus sterben und außerdem ihnen alle ansteckenden Krankheiten in's Haus schleppen werde. Sie citirte den Medizinalrath, der dem Baron mit einem sehr bedenklichen Schütteln des Hauptes und wichtig emporgezogenen Brauen »positiv« erklärte, daß Nik's Constitution viel zu anämisch und zu rhachitisch disponirt sei, um den Temperaturunterschied der Straße und der überheizten Schulstube ertragen zu können. Die wässerigen Augen der Baronin erglänzten vor Triumph bei dieser »positiven« Erklärung des Hausarztes, der Baron aber stellte sich an's Fenster und trommelte unmuthig an den Scheiben. Er sagte vor der Hand weder ja noch nein, aber welcher Ehemann hätte auf die Dauer dem nervösen Zureden einer zarten blonden Gattin widerstanden, die zu Weinkrämpfen neigt. Er kannte den Quälgeist, der in solchen rastlosen, krankhaften Naturen liegt, und wußte aus der reichen Erfahrung seines langen ehelichen Lebens, daß diese Säge arbeiten würde bei Tag und bei Nacht, bis sein Widerstand würde gebrochen sein. Darum versuchte er einen solchen lieber gar nicht mehr. Nik blieb im Hause, und der schwäbische Kandidat, an dem der Freiherr nun all' seinen unterdrückten Ingrimm ausließ, nahm sich seines Unterrichts etwas mehr an, da er stets eines Ueberfalls des Barons, oder, was er noch mehr fürchtete, der Tante Klara gewärtig war. Der Freiherr aber hatte den Gedanken, Nik aus seiner Zellenhaft zu befreien, keineswegs aufgegeben, und unterhielt sich viel mit dem Pfarrer über eine vernünftige Pädagogik. Die zarte Baronin neigte sich dann abwechselnd bleich und roth über ihre Stickerei, und die bösen Augen der Tante Klara quollen auf wie die einer geärgerten Schnecke.


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