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Die verwittwete kleine Baronin war eine seltsame Frau. All' die Jahre hatte sie am hellen Tage Gottes lieben Sonnenschein nicht sehen wollen, weil ihr Mann ihr im Lichte stand, jetzt, da nach der Meinung der Welt die Nacht der Trübsal über sie hereingebrochen war, lebte sie in einer gewissen Vergnüglichkeit dahin und sah Alles in rosigster Beleuchtung. Das Mißverständniß mit Nik mußte sich demnächst aufklären; Nik würde zu ihr zurückkehren, ein neuer Mensch werden, und sie würden dann zusammen auf dem Schlosse all' die entzückenden Einrichtungen treffen, an deren Ausführung sie bisher nur durch die Tyrannei ihres grimmen Ehevogtes verhindert worden war. Sobald sie sich von der ersten Bestürzung wieder erholt hatte, ging sie mit verhältnißmäßigem Frohsinn an die Ordnung ihrer neuen Verhältnisse, und setzte allen theilnehmenden Besuchern mit solcher Fröhlichkeit auseinander, wie sich nunmehr in ihrem Hause Alles herrlich und schön gestalten solle, daß diese den Eindruck hatten, die Erlösung von ihrem Ehejoche mache die thörichte Frau so glücklich, daß sie nicht einmal im Stande sei, das schwere Unglück ihres einzigen Kindes ernsthaft zu nehmen. In der That war sie viel zu albern und zu egoistisch, um sich ihre schwere Lage anders zu erleichtern, als mit dem einfachen Mittel, daß sie so wenig als möglich an dieselbe dachte.
Für Niemanden war das kindische Gebahren und die rosigen Erwartungen der so rasch getrösteten Wittwe eine stärkere Reizung und Herausforderung, als für das altjüngferliche Gemüth ihrer Schwester Klara, die sich verpflichtet fühlte, die arme Cäcilie darauf vorzubereiten, daß Nik wahrscheinlich würde hingerichtet, jedenfalls zu lebenslänglicher Einsperrung verurtheilt werden. So geschah es denn, daß die beiden, langjährigen Verbündeten, die gegen den verstorbenen Freiherrn so treulich zusammengestanden hatten, sich nunmehr so gründlich veruneinigten, daß sie nicht mehr gemeinsam speisten, überhaupt gesonderte Wege gingen, und Tante Klara in eifriger Correspondenz mit ihrer Nichte Valentine sogar ihre Uebersiedelung nach der Residenz betrieb. Aber auch die anderen Freundinnen hatten der armen Baronin immer nur neue Beweise für Nik's Schuld vorzutragen, im besten Falle vertrösteten sie ihre theuere Cäcilie auf die öffentlichen Verhandlungen, die die volle Wahrheit an das Licht bringen müßten. Darüber kam es denn auch mit ihnen fast zum Bruche. Denn so verschroben die thörichte Frau auch war, ihr Mutterherz war doch so weit noch gesund genug, sich aus diesem trostlosen Gerede ihrer Intimen lieber nach dem einfachen Gärtnerhäuschen zu flüchten, wo Menschen wohnten, die an Nik's Unschuld glaubten, die etwas für Erleichterung seiner Lage thaten, und mit denen Nik selbst am meisten verkehrt hatte.
Die Gärtnersfamilie saß jetzt wieder Abend für Abend vor ihrem Hause, denn das Wetter war mild und freundlich geworden. Auf die trüben Herbsttage war ein warmer Nachsommer gefolgt, und die Oktobersonne lag golden auf den Abhängen des Stromthals, das in buntem, herbstlichem Blätterschmucke prangte.
Auch heute trippelte die Baronin hinüber, um sich von Fritz berichten zu lassen, wie der Präsident des Oberlandesgerichtes die Eingabe aufgenommen habe, die sie zusammen ausgearbeitet hatten. Fritz hatte demselben persönlich vorgetragen, welchem Verfalle der junge Gefangene bei der Behandlung seines Untersuchungsrichters entgegen gehe. Der alte Herr nahm seine Vorstellungen nicht nur freundlich auf, sondern zeigte sich auch sehr entrüstet über das rohe Verfahren des jungen Richters. In warmen Worten ließ er der unglücklichen Mutter seine innigste Theilnahme bestellen, und sie versichern, daß ihren Beschwerden sofort abgeholfen werden solle. Die Baronin war aufgelöst in Dank gegen Fritz und drückte ihm immer wieder seine großen, rothen Hände, während Frau Glimm und Elfriede sie versicherten, wie gern Fritz sich der Sache annehme, und wie es sich doch von selbst verstehe, daß er für seinen Freund thue, was möglich sei. Die Kündigung der Gärtnerstelle hatte die Baronin natürlich schon längst zurückgenommen, und so vertiefte sie sich mit dem alten Glimm in ein Gespräch, welche Aenderungen in der Verwaltung des Gutes vorgenommen werden müßten, um seinen Ertrag zu steigern. Da war denn Vater Glimm in seinem Elemente. Er zeigte der aufmerksam zuhörenden kleinen Frau, wie sich Alles wohlfeiler einrichten lasse. Statt Wein zu bauen, der nur alle drei Jahre reif werde, solle sie die Rebberge in Ackerland umwandeln, die Gartentrauben verkaufen, statt sauern Wein zu keltern, die Steine könne man selbst gewinnen, wenn man einen Steinbruch anlege, den Sandbruch und die Lehmgrube müsse man verpachten, kurz, sie solle alles das thun, was der Freiherr aus Hochmuth und aus Rücksicht auf seinen Stand unterlassen hatte. Die kleine Frau verstand von all' dem wenig, aber sie hörte doch eifrig zu, und es that ihr wohl, zu erfahren, daß sie Alles praktischer einrichten werde, als ihr Gemahl, der ihr doch sein Leben lang vorgeworfen hatte, daß sie ein wahres Lehrbuch des Unpraktischen sei.
Es war schon spät, als sie aufbrach, und Elfriede gab ihr am Arme von Fritz das Geleite bis zum Park. Als sie mit einem mütterlichen Kusse sich von dem blinden Mädchen verabschiedete, stand ihr fest, daß sie auch diesem lieben Kinde gegenüber sich ganz anders verhalten wolle, als ihr verstorbener Gemahl. Ihr schien, daß Nik gar nichts Besseres thun könne, als Elfrieden zu heirathen. Ein Makel blieb an ihm, auch wenn er frei ward, und Valentine, das wußte sie, würde das Ihre thun, um ihm eine standesgemäße Ehe zu erschweren. Unzuträglichkeiten mit der Gesellschaft konnte die Verbindung mit der Gärtnerstochter nicht nach sich ziehen, da es sich von selbst verstand, daß eine Blinde außerhalb der Gesellschaft lebte. Wer aber wäre geeigneter gewesen, die Bewirthschaftung des Gutes auf möglichst verständige Weise zu besorgen, als der alte Glimm, der auch Takt und Bescheidenheit genug besaß, sich nicht als Schwiegervater lästig zu machen. So träumte sie sich eine schöne Zukunft, in der sie, befreit von der Tyrannei ihres übellaunigen Ehevogtes, in der lieben Gesellschaft der sanften Elfriede, ihre Enkel erziehen würde, die ja hauptsächlich der Großmutter gehören mußten, wenn die Mutter hülflos und blind war. Kurz, es waren nur sonnige und rosige Träume, die, in ihr aufstiegen, als sie fröhlich singend den Weg nach dem Schlosse hinabging, nur freilich, daß all' ihre schönen Pläne mit dem bösen Nachsatze endeten: »Wenn er frei wird.«
Während das Licht in dem Schlafzimmer der Baronin aufleuchtete, gingen die Zwillinge in der milden Abendluft noch eine Weile unter den alten Ahornstämmen des Parks hin und her, um zu berathen, was geschehen könne, um Müller zu überführen, von dessen Schuld sie sich je länger, je mehr überzeugt hatten. »Die gute Baronin«, sagte Fritz, »ist in ihrer Phantasie schon über alle Berge, aber wenn es uns nicht gelingt, gegen Müller zwingende Beweise zu finden, so habe ich wenig Hoffnung. Auch wenn die Geschworenen ihn frei sprechen, bleibt Nik ein bescholtener Mann.«
»Ach könnte ich dem häßlichen Müller nur in die Augen blicken«, seufzte Elfriede, indem sie ihr blondes Köpfchen an die Schulter des Bruders lehnte, »ich würde ihm gewiß seine Schuld auf dem Antlitz ablesen. Wie deutlich ich ihn noch vor mir sehe mit seinem tückischen Blicke und seinem gefleckten Gesichte. Alles war an ihm unwahr, sein gekünsteltes Lächeln, jede Geberde, ja der Vater sagte einmal, er habe sogar einen lügenhaften Gang, denn jeder Schritt trage eine Geschäftigkeit zur Schau, die die Leute täuschen solle. Da war keine Bewegung, die nicht ein Werben um Beifall gewesen wäre, und man sah, daß er stets an den Eindruck dachte, den er auf Andere mache. Mitten unter allen Geräuschen erkenne ich noch jetzt seine hüpfenden Schritte. Ich würde sie aus Hunderten herausfinden, und immer steht dann die ganze widrige Gestalt mir deutlich vor Augen.«
»Für mich ist sein Aussehen auch beweisend«, sagte Fritz. »Er ist stets erhitzt, wechselt die Farbe; blickt man ihn an, so wagt er es nicht, die Augen aufzuschlagen, sehe ich weg, so verfolgt er mich argwöhnisch mit seinen grünen Schlangenblicken. Neulich sagte der Kutscher unten, jetzt erst sei man dem Rechten auf der Spur, da fuhr er zusammen, daß die Blumentöpfe klirrten, die er in dem Korbe trug. Das Alles sind für mich überzeugende Beweise, aber vor Gericht kann man nicht viel damit ausrichten.«
»Weiß er, daß er beobachtet wird?« fragte Elfriede.
»Er müßte dümmer sein, als er ist«, erwiderte Fritz, »wenn er es nicht merkte. Der Schutzmann steht ja bei Tag und bei Nacht vor dem Gartenthore.«
»Dann wird er sich nicht fassen lassen«, sagte Elfriede. »Du weißt, wie der Vater ihn oft wegen Betrügereien in Verdacht hatte, und wie es doch niemals gelang, ihn auf der That zu betreten.«
»Hoffen wir, daß es Gott gefalle, den Schuldigen an's Licht zu ziehen«, sagte Fritz. »Wer weiß, was er wollte, als er Nik so schwer traf. Zunächst hat er den Armen nur in um so tiefere Finsterniß gestürzt, aber ich bin gewiß, daß ihm aus diesem Dunkel der Morgenstern aufgeht.«
Die Nacht war über diesen Gesprächen hereingebrochen, und beide Geschwister kehrten in das Haus zurück. Elfriede legte sich bald nieder, aber es kam kein Schlaf in ihre Augen. Allzusehr hatte sie das Gespräch mit Fritz aufgeregt, und sie zergrübelte ihren kleinen Mädchenkopf, was sie thun könne zu Nik's Rettung. Die Liebe, die sie zurückgedrängt, als sie erfahren, wie wenig Nik ihrer würdig war, und wie er sie nur als Kette und Hinderniß betrachte, stahl sich mit dem Mitleid, das sie für ihn fühlte, auf's neue in ihr Herz, und wenn sie an die Zärtlichkeit der Baronin dachte, wie mütterlich diese sie geküßt, wie sie ihr Haar gestreichelt, wie sie ihr zugeflüstert hatte, es werde noch Alles gut werden, so fing ihr armes, unruhiges Herz auf's neue an zu schwellen, sich zu sehnen, und sie träumte von einem Glücke, von dem ihr heller Kopf ihr doch sagte, daß es mit einem so schwachen Menschen wie Nik nicht zu finden sei. Daß aber das Haupthinderniß einer Verbindung durch den Tod des Barons hinweggeräumt sei, konnte sie sich nicht verhehlen.
»Es ist schon ein Uhr«, sagte sie endlich, als sie die Thurmuhr draußen schlagen hörte, »du mußt endlich schlafen, du thörichte Elfriede.« Energisch drückte sie auch ihr Köpfchen in die Kissen, aber der Schlaf wollte nicht kommen. »Ach, was ist meiner Mutter Tochter für ein thörichtes Mädchen«, sagte sie nach einer Weile. »Aber es ist auch unerträglich dumpf und schwül in dem Stübchen wie noch nie.« Leise glitt sie aus dem Bette und öffnete ihr Fenster. Sie konnte die sternenlose schwarze Nacht nicht schauen, die draußen herrschte, aber sie sog ihre milde, laue Luft in tiefen Zügen ein. Erst nach einer geraumen Weile riß sie sich los, um ihr warmes Lager wieder zu suchen. Aber mitten in der Stube hielt sie inne. Ihr war, als höre sie in der Ferne einen leisen, schwebenden Schritt. Sie fuhr zusammen und strich sich mit beiden Händen über die Schläfe, denn es war der Schritt, von dem sie noch diesen Abend behauptet hatte, unter Hunderten und im größten Geräusche würde sie ihn erkennen. Kein Zweifel, er war es. Was hatte der unheimliche Mensch um diese Stunde im Garten zu thun? Erst dachte sie, »ich will Fritz wecken«, aber bis dahin war es zu spät, und Fritz war nicht leise genug. Rasch fuhr sie in ihre Kleider und huschte an die Thüre. Für sie war ja die Nacht wie der Tag; vor dem Hause angelangt hielt sie still, als ob sie auf einen Ton in der Ferne horche, nach dem sie ihre Richtung nehmen müsse. Die Schritte gingen den Geisterweg hinab und lenkten nach dem Gange zur Psyche ein. Rasch folgte die Blinde. Wie mit Schwalbenfittichen die Büsche streifend, gleitete sie den Bergpfad hinab und hielt vorsichtig an dem breiten Wege inne. Eine Fledermaus macht beim Fliegen nicht mehr Lärm als sie mit ihrem leisen, vorsichtigen Gange.
»Was hat er an der Psyche?« sagte sie dann zu sich selbst. Sie hörte deutlich, wie er die Figur aufnahm und schwer abstellte. Jetzt wußte sie genug. Mit Gedankenschnelle stand nun der ganze Zusammenhang von Nik's Visionen ihr vor der Seele. In jener Nacht hatte ja Nik die Psyche an der Erde gesehen. Es war also keine Hallucination des verwirrten jungen Mannes gewesen, dort hatte der Mörder das Geld versteckt. Nur einen Augenblick überlegte Elfriede, indem sie vor Aufregung in ihren gekrümmten kleinen Finger biß, dann wendete sie leise um und eilte nach der Wohnung zurück, um Vater und Bruder zu rufen.
Der Rothe besorgte indessen mit aller Ruhe und Umsicht seine nächtliche Arbeit. Er schien auch die Eigenschaften eines Nachtthiers zu haben, daß seine grünen Augen im Dunkeln sahen, wenigstens leuchteten sie in der Finsternis; gleich denen einer Katze. Vorsichtig legte er die Thonfigur der Psyche auf die Erde und nahm dann aus der Höhlung im Innern zunächst einige Kleidungsstücke hervor; dann wickelte er aus einem blutigen Tuche ein großes Messer, das er zu sich steckte. Endlich kam ein versiegeltes Packet zum Vorschein, das er sorgfältig betastete, dessen unverletzte Siegel er befühlte und das er dann sorglich in dem Schafte seiner Stiefel verbarg. Alsdann brachte er die blutige Leinwand und die Weste wieder in der hohlen Thonfigur unter. Nachdem er sich dann genau umgesehen, ob er nichts vergessen habe, nahm er die Figur vorsichtig auf und stellte sie sorgsam wieder auf ihr Postament. Hierauf prüfte er mit der Hand, ob sie auch genau in der Mitte stehe, und schob sie mehrfach herüber und hinüber, bis wieder Alles in der Ordnung war. Als er damit zu Ende gekommen, ergriff er einen Rechen, den er am Abende geflissentlich hier hatte stehen lassen, und machte die Stelle wieder eben, wo die schwere Gestalt gelegen hatte. Tief aufathmend strich er sich dann den Schweiß von der Stirne, setzte seinen Hut wieder auf und sagte: »So, das wäre geglückt. Nun mit dem Frühzug nach Hamburg. Wer weiß, wie lange sie noch warten, ehe sie mich einziehen. Käthchen wird sich wundern, daß sie das Geld nur für mich verdient hat.«
Zum letzten Male wollte er nun das Portierhäuschen betreten und, nachdem er seine Sachen an sich genommen, über den Berg einen Weg nach der nächsten Station suchen; indessen mochten sie die Landstraße und den Bahnhof hier bewachen bis er über der Grenze war. Aber als er die Treppe nach dem Vorgarten hinabgestiegen war, schrak er zusammen, daß ihm seine langen Glieder schlotterten. An der Ecke des Schlosses lehnte eine dunkle, breite Gestalt. Sein erster Antrieb war, umzukehren und so schnell als möglich den Berg hinaufzulaufen und durch die Reben zu entfliehen. Aber eine wohlbekannte Stimme sagte ganz unbefangen: »Guten Morgen, Johann! Woher so früh?« Es war die des alten Glimm.
Müller schwieg einen Augenblick, dann sagte er: »Ich hatte meine Uhr auf dem Tische oben liegen lassen und fürchtete, sie könnte wegkommen, wenn ich den Tag abwartete.«
»Ja, ja, so etwas kann vorkommen«, lachte der Alte, indem er sich ihm anschloß.
»Warum er sich nur so hart an meiner Seite hält?« dachte der Rothe, und vorsichtig machte er eine Bewegung nach der Tasche, um sein Messer zu ergreifen, aber im gleichen Augenblicke hatte die riesenstarke Faust des Gärtners seine Hand fest umklammert. »Hierher!« rief er laut, »hierher!« Müller hatte erst versucht, sich loszureißen und mit der linken Hand das Messer zu erwischen, als er aber in dem gleichen Augenblicke die breite Gestalt des Kutschers und hinter demselben den am Thore stationirten Schutzmann um die Ecke kommen sah, gab er den Widerstand auf.
»Was wollt Ihr denn«, fragte er in grobem Tone, obwohl seine Stimme zitterte. »Das ist ja ein förmlicher Ueberfall.«
»Ja, ja«, sagte der Gärtner vergnügt. »Schon manche Spinne lauerte auf ihren Raub, und als sie meinte, ihn im Garne zu haben, zerdrückte sie der Daumen des Gärtners. So, mein Sohn, nun wollen wir abrechnen über allen Verdruß, den Du mir in acht Jahren gemacht hast.«
»In die Portierloge mit ihm, bis der Commissär kommt«, rief nun der Schutzmann. Die Thüre des Häuschens wurde geöffnet, und es fand sich, daß Johann seine Lampe nur zugedeckt, nicht gelöscht hatte. Der Kutscher nahm an der Thüre Platz, Vater Glimm stellte sich vor das Fenster, dessen Laden übrigens geschlossen war, und der Beamte schaute sich in der Stube um, deren Schubladen und Schränke offen standen, als ob soeben hier ausgeräumt worden sei. Als er die Decke vom Bette zog, kam eine schwer gepackte Reisetasche zum Vorschein. Der Gefangene knirschte wüthend mit den Zähnen und setzte sich trotzig am Tische nieder, wo er den Kopf in die Hand stützte. »Die Waffe wollen wir ihm lieber gleich abnehmen«, sagte Vater Glimm, indem er ihm das Messer aus der Seitentasche zog. Der Rothe ließ es ruhig geschehen, er schielte nur nach der Thüre. Als aber in diesem Augenblick auch Fritz eintrat, schien er jede Hoffnung auf Entwischen aufzugeben. Mit einem Blicke voll Haß schaute er den früheren Genossen an, und wendete ihm dann den Rücken. Der Schutzmann legte indessen die Reisetasche des Gefangenen auf dem Tische auseinander. Sie enthielt nichts, als Bücher über Amerika, Fahrpläne, Wäsche und einen Anzug, den der Beamte genau durchsuchte. Als er nichts Verdächtiges fand, brachte er Alles wieder in die Tasche zurück, und fuhr fort, die Stube zu durchmustern.
Ueber dieser Haussuchung erschien derselbe Commissär wieder, der seiner Zeit Nik verhaftet hatte, gefolgt von einem Polizeisergeanten.
»Ihre blinde Tochter hat ja Wunder gethan«, sagte der Commissär zu dem alten Gärtner. »Respect vor dem Mädchen. In tiefer Nacht hat sie sich bis zu der Polizeistube hindurchgefunden.«
»Für sie ist es immer Tag und immer Nacht«, erwiderte Glimm mit einem Seufzer.
»Das also ist der Patient«, sagte der Beamte, indem er mit der Hand über Müller's Taschen fuhr. »Ihnen soll es schlecht bekommen, daß Sie mich an der Nase herumgeführt und auf eine falsche Fährte geleitet haben. Nichts da versteckt? Ziehen Sie doch einmal die Stiefel aus.«
Der Rothe fuhr auf, und sagte trotzig: »Kehren Sie mir meinetwegen die Taschen um. Aber auskleiden lasse ich mich nicht.«
»Ziehen Sie ihm die Stiefel aus«, wiederholte der Commissär barsch, indem er sich zu dem Schutzmanne wendete. »Die Scherze kennen wir.«
»Hier steckt etwas«, sagte der Sergeant, nachdem er Johann's Beine mit der Hand geprüft hatte, und alsbald stand dieser barfuß, wie ein armer Sünder, vor den Anwesenden. Der Commissär nahm das Packet auf, das bei dem Entkleiden des Delinquenten zur Erde gefallen war, und betrachtete es.
»Die tausend Thaler hätten wir«, sagte er, indem er das Packet sofort an sich nahm. »Schön, daß Sie die Siegel nicht verletzt haben, das erspart mir das Nachzählen. Also in der Gartenfigur hatte er die Sachen verborgen! Daß wir daran nicht dachten! Nun, Herr Glimm, führen Sie uns. Ich bitte um eine Laterne. Eine Lampe thut aber auch den Dienst, da es windstill ist. Es wäre recht schönes Reisewetter gewesen, Herr Müller. Aber für künftige Fälle merken Sie sich, daß gerade in solchen dunkeln Nächten wir auch besonders aufmerksam sind. Weiter als bis zum Bahnhofe wären Sie schwerlich gekommen.«
Der Rothe murrte etwas zwischen den Zähnen und warf dem Commissär einen höhnischen Blick zu, der aber nahm gleichmüthig die Laterne, die der Gärtner gebracht hatte, und entfernte sich mit den beiden Glimm nach dem Garten, während die Schutzleute bei dem Gefangenen zurückblieben. Nach einer Weile, die Johann Müller wie eine Ewigkeit erschien, kehrten sie zurück. Zuerst trat der Commissär ein, dann die gewaltige Gestalt des alten Glimm, die Thonfigur der Psyche auf seinen Schultern tragend, zuletzt Fritz mit der Laterne. Die Gartenfigur wurde auf dem Tische niedergelegt. Der Commissär besichtigte sie erst von außen, wobei er auf der Rückseite die Spuren einer blutigen Hand entdeckte. Alsdann griff er in die Höhlung. Das Erste, was er herauszog, war eine Weste, auf der sich deutliche Blutspuren befanden, dann ein Tuch, an dem ein blutiges Messer abgewischt worden war, endlich ein Hemd, dessen einer Aermel ganz in Blut getaucht schien. Ein Schweigen des Grausens legte sich über die Versammlung. Selbst Johann Müller war todtenbleich geworden.
»Erkennen Sie diese Sachen als die Ihren an?« fragte er. Der Rothe nickte unmerklich mit dem Kopfe. »Ja oder Nein?« fragte der Commissär scharf.
»Es sind Ihre Kleider, Johann«, sagte Glimm ernst. »Erschweren Sie Ihre Lage nicht durch Leugnen von Dingen, die Ihnen jeder beweisen kann.«
»Ja«, sagte der Rothe jetzt zitternd.
»Gestehen Sie, daß Sie den Baron ermordet haben?«
»Es war Nothwehr«, rief der Gefangene nun mit Geläufigkeit, als ob er etwas schon lange Ausgedachtes hersage. »Ich wollte das Geld holen, das der Bote am Morgen gebracht hatte. Die Versuchung war eben zu groß. Die vornehmen Leute sollten solche Summen nicht vor unseren Augen umher liegen lassen und uns zeigen, wo sie dieselben aufbewahren. Als ich das Geld eben an mich genommen hatte, überfiel mich der Baron, und ich setzte mich zur Wehr, denn er wollte nach seinem Revolver greifen, um mich zu erschießen. Als ich ihn nicht festhalten konnte, griff ich nach meinem Messer. Es war mir leid, aber ich konnte mich selbst nicht anders retten.«
»Hatten Sie das Messer für einen solchen Nothfall mitgenommen?« fragte der Beamte.
»Nein«, erwiderte der Rothe rasch, »es ist mein Gartenmesser, das ich immer bei mir trage.« Glimm bestätigte das, setzte aber hinzu: »Er hatte es heute offen in der Tasche.«
»Weil ich es offen in der Figur da versteckt hatte«, rief Johann grob.
»Wie gelangten Sie in das Schlafzimmer des Barons?« fragte jetzt der Beamte weiter.
»Durch das Zimmer des jungen Herrn.«
»Das Zimmer war am Abend von dem Zimmermädchen wie sonst abgeschlossen worden«, setzte der Beamte sein Verhör fort. »Wer öffnete Ihnen?« fragte er, indem er den Gefangenen fest anblickte. Dieser schwieg. Er war klug genug, sich bei dieser Frage zu berechnen, daß sein Diebstahl als ein vorher geplanter Einbruch erscheinen müsse, wenn er gestand, er habe sich die Schlüssel von Nik eigens zu diesem Zwecke ausgebeten. Viel besser, er stellte Alles als eine Kette von Zufälligkeiten hin, die ihn ohne jede Vorbereitung überraschten, und ihn unversehens in das Unglück lockten. Vor Allem durfte es nicht den Anschein gewinnen, als ob er im Komplotte mit dem Sohne des Ermordeten gehandelt habe. Er beschloß also, Nik ganz aus dem Spiele zu lassen.
»Nun? Werden wir bald die Wahrheit erfahren?« mahnte der Commissär.
»Der junge Herr«, sagte Müller langsam, und jedes Wort überlegend, »hatte seinen Schlüssel stecken lassen, und die Thüre von da nach dem Salon stand offen. Es war mondhell, das verführte mich einzutreten, und so kam ich von Zimmer zu Zimmer. Das Portemonnaie mit dem Schlüssel zum Geldschranke lag auf dem Tischchen neben dem Bette des Barons; ich hatte auch den Schrank schon glücklich geöffnet und das Geld eingesteckt, da fiel eine Rosette von dem Vorhang, den ich streifte, und alsbald war der Herr aus dem Bette und packte mich am Arm.«
»Ihre Großmutter und Ihre Schwester logen mithin, als sie aussagten, sie seien bis nach Mitternacht in ihrem Hause an der Dorfmauer gewesen?« fragte der Beamte.
»Ja«, erwiderte Johann trocken.
»Sie haben früher ausgesagt«, forschte der Commissär weiter, »Sie hätten tausend Thaler von dem jungen Baron verlangt als Entschädigung für Ihre Schwester. Hängt Ihr Einbruch damit zusammen?«
»Gar nicht«, sagte der Rothe, der jetzt Nik durchaus nicht in der Angelegenheit brauchen konnte. »Jene Forderung war überhaupt nicht so ernst gemeint. Der Herr Commissär wissen ja, daß meine Schwester ein leichtes Ding ist, das keine tausend Thaler werth gewesen wäre.«
»Damit nehmen Sie also Ihre früheren Beschuldigungen gegen den jungen Freiherrn zurück?« forschte der Beamte weiter.
»Ja«, bestätigte der Rothe laut. »Er ist völlig unschuldig.«
Fritz athmete tief auf. »Gott, im Himmel sei gedankt«, rief er aus voller Seele.
Der Commissär stand eine Weile nachdenkend. »Wer hätte das gedacht?« sprach er, den Kopf schüttelnd, zu sich selbst. »Nun, auch der Vorsichtigste greift einmal fehl, und der junge Herr benahm sich gar so verdächtig.« Dann trat er zum Tische, und bat Fritz um Schreibgeräthe, um ein Protokoll aufzunehmen. Eine halbe Stunde hörte man nur das Knistern seiner Feder, während er ab und zu dem Rothen seine Aussagen wiederholen ließ. Schließlich wurde das ganze Aktenstück vorgelesen, und von dem Angeklagten, sowie von allen Anwesenden als Zeugen unterschrieben. Als der Commissär dann die Laden des Fensters öffnete, stand draußen bereits der Transportwagen, den einer der Schutzleute herbeigeholt hatte. Johann wurde mit Handschellen geschlossen, und nach dem Wagen gebracht. Die beiden Glimm traten hinaus in die Nacht, die sich gegen Osten bereits lichtete. »Johann«, sagte der alte Gärtner ernst, »ihr seid noch jung, erst einundzwanzig Jahre, wenn ich recht weiß, und der Mensch lebt siebzig Jahre. Noch ist es nicht zu spät für Euch, Euch zu bessern. Kommt Ihr mit dem Leben davon, so ziehet einen neuen Menschen an.«
Aber der Gefangene kehrte sich trotzig um. »Diese Sprüchlein kennen wir alle«, sagte er, »ich habe sie von Jugend auf gehört bis zum Ekel. Hättet Ihr mich entkommen lassen nach Amerika, so hätte das neue Leben nicht gefehlt. Jetzt spart eure Worte.«
»Vorwärts«, rief der Commissär. »Sitzt er erst im Spinnhause, so wird er schon andere Saiten aufziehen.« Damit schob er den Gefangenen in den Wagen, wo die beiden Schutzleute sich zu ihm setzten, worauf der Commissär selbst bei dem Kutscher auf dem Bocke Platz nahm.
Mit klopfendem Herzen schauten Vater und Sohn den Abziehenden nach. Als der Wagen in der Nacht verschwand, und nur noch sein Licht gleich einem röthlichen Sterne durch den Nebel schimmerte, da war es Fritz, als ob das böse Gestirn in die ewige Finsterniß zurückkehre, das so unheilvoll über diesem Dache geleuchtet hatte. Nachdenklich, aber mit erleichtertem Herzen, kehrten Vater und Sohn in das Portierhäuschen zurück. Noch stand die Thongestalt der Psyche auf dem Tische, und in der flackernden Beleuchtung des Talglichts erschien sie wie ein lebendes Wesen. Vater Glimm aber packte sie auf, um sie wieder an ihren alten Standort zu bringen, wo ihr süßes Kindergesicht, unschuldig wie zuvor, sich über den Falter neigte, um ihn zu haschen, unbewußt all' der Schrecken, die sie so lang in ihrem Innern geborgen hatte.
»Ich werde die Gestalt nie wieder ansehen können«, sagte der alte Gärtner, »ohne an diese Nacht zu denken. Sie war es, die den häßlichen Nachtfalter einfing.«
»Sie und Elfriede!« rief Fritz, und Vater und Bruder beeilten sich, das heldenmüthige Mädchen zu suchen, dessen feine Hände den verhängnißvollen Knoten entwirrt hatten, der unlösbar verschlungen schien. Sie fanden sie in der Wohnung, wo sie ihr erregtes, glühendes Antlitz in dem Schoße ihrer Mutter verbarg, die beide Hände über ihrem Haupte faltete. Als sie die Beiden eintreten hörte, erhob sie sich wie in süßer bräutlicher Verwirrung. »Nun werden sie ihn doch frei geben müssen«, sagte sie zu Fritz, und dieser erzählte ihr voll Freude von Müller's rückhaltslosem Bekenntniß. Elfriede aber berichtete von ihren abenteuerlichen nächtlichen Gängen, bei denen sie Gedächtniß und Ortssinn in staunenswerther Sicherheit geleitet hatten. So tauschten die guten Menschen ihre Erlebnisse, Hoffnungen und Wünsche miteinander aus, bis der Morgen hell durch die Fenster brach.
»Also nun glaubst auch Du«, sagte Elfriede scherzend zu dem Bruder, »daß Nik völlig unschuldig ist.«
»Möge sein eigen Gewissen ihn so unbedingt lossprechen, wie das Zeugniß Müller's«, erwiderte Fritz. »Niemand wird glücklicher sein als ich, wenn ich höre, daß das Geheimniß, von dem er noch immer sprach, nur eine Grille seines überreizten Hirnes war.«
»Schwarzseher!« rief Elfriede, »so sei doch fröhlich, daß wir es sind, die sein Gefängniß öffnen und ihn der schönen Welt zurückgeben. Nun wird er sicher gut und fest bleiben nach solcher Prüfung!«