Adolf Hausrath
Elfriede
Adolf Hausrath

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Dreizehntes Kapitel

Ein lang erwarteter Besuch war endlich auf Schloß Altenbrück eingetroffen. Nik's Cousine Valentine hatte den oft wiederholten Einladungen der beiden Tanten Folge gegeben, und Niemand in der Familie war darüber im Zweifel, welche Absichten die beiderseitigen Eltern mit diesem Besuche verbänden, das junge Mädchen, das in solchen Dingen sehr klaren Bescheid wußte, am wenigsten. Sie hatte lange gezaudert, als sie aber die Einladung annahm, war sie auch entschlossen auf den Familienplan einzugehen.

Nik's Jugendgespielin war eine glänzende Weltdame von blendender Schönheit geworden, wenn sie auch zu Elfriedens geistiger Anmuth den denkbar größten Gegensatz bildete. Die rothe Rose und die weiße Rose pflegte Nik in seiner Weise beide zu nennen. Elfriede war lichten Haars, sanft, ganz Seele; man wünschte selbst besser zu sein, wenn man in ihre milden, reinen Züge schaute; Valentine hatte reiches kastanienbraunes Haar, ein energisches, römisches Profil, frische Farben und üppige, volle Formen. Elfriede war die Einfachheit selbst in ihrem hellen Kattunkleide, das sich züchtig dem feinen Halse anschmiegte, Valentinens volle Gestalt umwogten reiche Florgewänder, die die Phantasie reizten, in die duftigen Geheimnisse dieser geschmackvollen Toilette tiefer einzudringen. Und Nik war nicht unempfänglich für die raffinirten Künste der Residenz. Er folgte der schönen Cousine bei ihrem ersten Gange durch den Garten auf Schritt und Tritt, und als sie sich unter der großen Linde niederließ, setzte er sich hart neben sie; sein Athem ging tiefer und seine Rede stockte. Der Baron hatte im Frühling unter dem Riesenbaume einen Rundsitz anbringen lassen, um den süßen Duft des blühenden Laubgewölbes in aller Behaglichkeit einzuschlürfen, und dem Summen der Bienen und dem traumhaften Weben des Windes in dem gewaltigen Blätterdome zu lauschen. Nur eine einzige dichte Rhododendronhecke schied diesen neu angelegten Sitz von der sogenannten Traumbank, Elfriedens tief in den Büschen verstecktem Lieblingsplätzchen.

»Ich bin sehr enttäuscht, Vetter«, sagte Valentine, mit ihrem rothen Sonnenschirme allerlei Figuren vor sich in den Sand zeichnend, die sie dann mit ihrem kleinen Füßchen wieder verwischte. »Man hat Dich mir als einen wilden Harald, einen Zecher und Spieler, als einen wahren Karl Mohr geschildert, und nun finde ich einen solchen geschniegelten und fürchterlich tugendhaften Cousin, daß mir der unschuldigste Cadett in Dresden als ein wahrer Don Juan gegen Dich erscheint. Oder ist das Alles Heuchelei, dann müßte man sich wirklich vor Dir hüten.« »Mein Ruf ist wohl nie das Beste an mir gewesen«, sagte Nik gezwungen lachend, »aber ich kann nicht leugnen, daß es eine Zeit gab, in der ich den Abscheu meiner sämmtlichen Tanten verdiente.«

»So«, sagte das schöne Mädchen gedehnt, indem sie Nik kokett von der Seite anblickte, »und was hat Dich denn so gründlich umgewandelt, daß jetzt selbst Tante Klara Dein Lob in allen Tonarten singt?«

»Die Musik«, erwiderte Nik zerstreut.

Valentine lachte laut auf und spottete: »Die Musik?«

»Der Gesang eines blinden Mädchens«, fuhr Nik fort, »der mich festhielt, wenn ich aus Langeweile zu den dummen Studentenvergnügungen wieder zurückkehren wollte, eine seelenvolle Altstimme, neben der mir das Lärmen in den Wirthsstuben roh und bäuerisch erschien, und die mir stets im Ohre und im Herzen war, so daß mir meine frühere Gesellschaft völlig unerträglich wurde.«

»Nun, da wirst Du Deine Retterin wohl heirathen müssen«, erwiderte die Cousine spöttisch.

Nik schwieg. Dann sagte er: »Die Blinde steht zu hoch, um über sie zu scherzen; sie ist eine Heilige und mein guter Engel.«

»Das soll wohl heißen: Engel heirathet man nicht, nur Teufelinnen und schwache Evastöchter. Nun bin ich aber wirklich begierig, Deinen Schutzgeist mit meinen sündigen Augen zu schauen. Ich denke sie mir blaß und mager mit einem sichtlichen Ansatz zu Engelsflügeln? Sie heißt wohl auch Seraphine?« Das schöne Mädchen begleitete diese Spöttereien mit einem Lachen, das nicht ganz natürlich klang. Dann stand sie auf und bat Nik, ihr die große Blattpflanze zu zeigen, von der der Onkel so stolz geredet habe.

Jenseits der Rhododendronhecke saß auf ihrer Lieblingsbank Elfriede. Sie hatte ihr bleiches Gesichtchen seitwärts an die Bank gelehnt, und die schlanken, zarten Kinderhände bewegten sich in nervöser Unruhe, indem sie unablässig Nik's Ring um den Finger drehte. Kein Wort der Unterhaltung zwischen Nik und seiner Cousine war ihrem feinen Gehöre entgangen. »Der gute Mensch«, lächelte sie still vor sich hin: »Ob sie wohl auch gut ist? Ihre Stimme hat etwas Hartes.« Und wieder sank die Blinde in tiefes Sinnen zurück. »Ich habe ihn gewiß nie als etwas Anderes angesehen, als für ein verwahrlostes Nachbarkind, für dessen Erziehung ich dem lieben Gott verantwortlich war, weil ich nun einmal Einfluß auf ihn hatte. Aber die Mutter hat Recht, wenn sie sagt, es sei schwer, ein Kind, das man erzogen, in fremde Hände zu geben.«

Von der anderen Seite des Parkes, wohin Nik und Valentine sich gewendet, ertönte jetzt helles Lachen. Elfriede wußte nicht, warum diese Fröhlichkeit sie so widrig berühre, und wiederum drehte sie an dem Ringe, der sich von dem stärker gewordenen Finger nicht wollte abziehen lassen. »Er ließ sich doch sonst so leicht abstreifen«, sagte die Blinde, »nun ist er durch Gewohnheit mit mir verwachsen.«

Die Stimmen der beiden jungen Leute kamen jetzt wieder näher. Erschreckt fuhr Elfriede in die Höhe, so daß sie ihr Köpfchen an einen Ast anstieß. »Wie thöricht ich bin«, seufzte das blinde Mädchen, und sich behutsam an den Büschen hintastend, hatte sie mit ihren leisen Schritten den Pfad zum Gärtnerhause eben erreicht, als sie angerufen wurde. Gerade an der Parkecke, im Gebiete der Brunnenfrau, traf sie mit Nik und seiner Cousine zusammen.

»Elfriede«, rief Nik herzlich, »bitte, bleibe, ich möchte Dich mit Fräulein Valentine von Altenbrück bekannt machen.« Die Blinde hielt an und neigte nach der Seite, von der die Stimme kam, ihr blondes Köpfchen.

»Mein Vetter hat mir so viel Schönes von Ihnen erzählt«, sagte Valentine herablassend, »daß ich sehr erfreut bin, Sie kennen zu lernen.«

»Es ist Nik's beste Seite, daß er nur Schönes von den Leuten erzählt«, erwiderte die Blinde ruhig.

»Er hat wohl auch minder gute Seiten«, lachte Valentine mit einem spöttischen Seitenblick auf ihren Vetter. »Aber er sagt, Ihr Gesang habe ihn gebessert?«

»Musik bessert alle Herzen, die nicht von Stein sind«, erwiderte Elfriede. »Singen Sie auch, Fräulein?«

»Nein«, rief das schöne Mädchen, »dazu sind mir meine Mitmenschen zu lieb. In der ganzen Familie hat niemand so wenig Gehör wie ich. Tante Klara meint, ich müsse einen Fehler am Trommelfell haben, daß ich so gar nicht empfinde, was schöne Musik sei.«

Elfriede erröthete. – Jemand, der die Musik nicht liebte, konnte der gut sein?

»Aber wir halten Sie an dieser zugigen, feuchten Stelle auf«, sagte Valentine, der die Unterredung mit der Blinden unbehaglich wurde, während ihr zugleich diese todten Augen einen physischen Widerwillen erregten. »Hier wächst ja Schierling und alle möglichen Sumpfpflanzen. Hu, dieser Platz wäre nicht mein Geschmack.« Ein Laubfrosch sprang neben ihr auf und platschte in die Pfütze bei der Tonne. Das Fräulein kreischte laut und rief: »Fort, Nik, fort, Du erkältest Dich. Auf Wiedersehen, Fräulein Elfriede.« Die Blinde neigte leise ihr Köpfchen und ging zögernd den Berg hinan.

Sie wußte nicht, warum ihr plötzlich kalt geworden war. Als sie an Nik's Ring drehte, glitt er ihr so leicht vom Finger, daß er ihr fast entfallen wäre. Rasch hielt sie ihn fest, indem sie ihr kleines Händchen ballte.

»Nik hätte auch ein Wort sprechen können«, dachte sie. »Aber er war wohl zu sehr versunken in ihre Schönheit.« Ihre feinen Lippen kräuselten sich verächtlich. »Pfui, Elfriede«, sagte sie dann zu sich selbst, »ich weiß gar nicht, wie Du mir vorkommst!« Ueber diesen Gedanken hatte sie die Richtung des Weges verloren, so daß sie durchaus nicht mehr wußte, wo sie sich befinde. Mit ausgestreckten Armen mußte sie erst rings umher fühlen, was sie eigentlich umgebe. Nach langem Tasten erst fand sie ein Geländer, an dem sie sich wieder orientirte, und nun huschte sie so rasch, daß sie fast gefallen wäre, auf ihren Pfad zurück und eilte auf dem gewohnten Wege nach ihrem Stübchen. »Schweig stille, mein Herze«, seufzte sie dann, die kleine Hand auf die klopfende Brust legend, »schweig stille, Du thörichtes, selbstsüchtiges, verkehrtes Ding, schweig stille! Du wußtest es ja, daß Alles ein Ende nehme.« Tapfer erhob sie bei diesen Worten ihr blondes Haupt, aber eine Thräne fiel auf den goldenen Kinderring an ihrem Finger, und unwillkürlich fuhr sie mit der Hand über die blinden Augen. »Thörin!« seufzte sie endlich, »wie konntest Du denken, daß dieses Band ewig halten werde? Ja, der gute Pfarrer hatte recht, als er bei dem Anblick dieses Ringes sagte: binde dein Herz an nichts als an Gott – der Anker hält.« Und sie faltete ihre Hände zu stillem Gebete. –

Nik war inzwischen schweigend und befangen der schönen Cousine den Waldpfad hinab gefolgt, sie aber schaute plötzlich um, und sagte in verdrießlichem Tone: »Jetzt weiß ich, warum Ihr diesen Weg den Geisterweg nennt. Ich bin sogar geneigt, an Deine Brunnenfrau zu glauben, denn es lief mir ein kalter Schauer über den Rücken, als ich dort oben an der verrufenen Ecke stand.«

Nik antwortete nicht. Er dachte noch immer an Elfriede, die seine Cousine ganz gegen ihre Gewohnheit so seltsam kühl empfangen hatte. Nach einer Weile erst sammelte er sich und bestätigte: »Du hast ganz recht, Valentine. Auch ich hatte eine Gänsehaut, wie wir prosaischen Sachsen das nennen. In Neudorf kannte ich einen Lievländer, der pflegte, wenn ihn ein solcher Schauder anwandelte, zu sagen: ›eben muß jemand auf mein Grab getreten sein, es überlief mich.‹ Die Redensart machte mir Eindruck. Unwillkürlich muß man denken, in welchem Winkel der Welt wohl das Plätzchen liegen mag, wo man einst ruhen wird unter dem Rasen. Ist das nicht viel poetischer?«

Valentine hielt sich die schönen Hände vor die beiden Ohren. »Um des Himmels willen, Nik«, sagte sie, »man könnte meinen, Du führst mich auf dem Kirchhofe spazieren. Wir unterhalten uns ja wie die Todtengräber im Hamlet. Diesen Weg gehe ich nicht mehr mit Dir und wenn ich noch so lange in Altenbrück bleibe.«

Es war das eine starke Provocation. Wenn es Nik Ernst war, konnte er ihr ja sofort vorschlagen, das Schloß nie wieder zu verlassen. Aber ihm fiel das nicht ein. Er suchte allerdings nach einer galanten Antwort, aber es kam nicht dazu, denn als Beide um einen gewaltigen Taxusbusch traten, stellte sich der rothe Johann ihnen breit und unverschämt in den Weg und sagte: »Herr Baron, ich wünschte Sie zu sprechen.«

Nik fuhr zornig auf und sagte: »Was soll's? Was hast Du hier mit mir zu reden?«

»Nun, wegen meiner Schwester?« erwiderte Müller grob, »die Sie unglücklich gemacht haben.« Valentine that, als ob sie nichts höre, und setzte ruhig ihren Weg fort, aber sie hatte wohl bemerkt, wie Nik zusammenfuhr und die Farbe wechselte.

»Komm um zwei Uhr auf mein Zimmer«, sagte Nik rasch und folgte Valentinen. Der Gärtnerbursche stieß ein freches Gelächter aus, so daß Nik nochmals stehen blieb und mit drohender Geberde eine Verwünschung murmelte. Der Rothe wollte etwas erwidern, aber Nik verhinderte es, indem er den Berg hinab eilte, bis er Valentinen eingeholt hatte.

Das schöne Mädchen sah kalt und schweigend in die Ferne. »Seine Schwester ist krank«, sagte Nik auf das Gerathewohl, da er fühlte, daß er diesen seltsamen Zusammenstoß seiner Cousine irgendwie erklären müsse. »Der Mensch ist gewohnt, daß wir sie unterstützen.«

»Ein seltsamer Ton für einen Bittsteller«, erwiderte Valentine kühl, noch immer nach den fernen Bergen ausschauend. »Was fehlt der Dame?«

»Ich bin schuld an der Geschichte«, fabelte Nik verzweifelt weiter. »Mein Pferd hat sie getreten, aber bitte, sage den Eltern nichts. Ich habe ohnehin so viel Verdruß mit meinem grämlichen Vater.«

»Wie soll ich dazu kommen«, erwiderte Valentine trocken, und sich zu der Brücke über den Zwinger wendend, sagte sie, ohne Nik eines Blickes zu würdigen: »Es ist Zeit, daß ich hineingehe und Toilette mache vor dem Frühstück.«

Kaum hatte seine Cousine den Rücken gewendet, so eilte Nik in den Garten zurück, um den Unverschämten zu züchtigen. »Was unterstehst Du Dich, Du rother Hallunke«, rief er dem Gärtnerburschen zu, »mich in dieser Weise vor Fremden anzureden.«

»Unter vier Augen würde es den Teufel helfen, mit Ihnen zu sprechen«, erwiderte Müller frech. »Sie haben meine Schwester ruinirt, jetzt sorgen Sie für das arme Mädchen, oder ich habe Ihnen bereits gesagt, was ich thue.«

»Du weißt«, sagte Nik plötzlich geschmeidig, »daß ich so viel Geld nicht habe. Was ich aufbringen konnte, habe ich Dir bereits gegeben.«

»Hundert Thaler«, erwiderte Müller höhnisch. »Meinen Sie, das sei ein Ersatz für ein verpfuschtes Leben? Wir werden klagen, ich kann Käthen Alles bezeugen.«

»Du bist ein schöner Zeuge«, spottete Nik. »Dir werden sie glauben.«

Der Rothe warf ihm einen höhnischen Blick zu. »Zum Glück waren der Kutscher und Wilhelm auch unten im Portierhäuschen und der Herr Pfarrer. Damals bei der großen Gesellschaft meine ich. Sie werden sich des Abends ja erinnern«, fügte er mit einem boshaften Blicke hinzu.

Nik stampfte mit dem Fuße. Dann aber sagte er fast demüthig: »So viel als die Gerichte Deiner Schwester zusprechen, werde ich mit der Zeit auch aufbringen und mehr. Was hast Du also davon, mich zu ruiniren. Wenn Du selbst Deine Stelle über die Geschichte verlierst, so ist Deiner Käthe auch nicht geholfen.«

»Die Käthchen muß weg von hier«, sagte der Rothe tückisch. »Dazu braucht sie mindestens tausend Thaler. Können Sie die nicht schaffen, so wende ich mich an Ihre Eltern.«

»Ich will sie ja schaffen,« erwiderte Nik weinerlich, »Aber lasse mir nur Zeit.«

»Ich will meinethalb noch acht Tage warten«, sagte der Rothe in anmaßendem Tone. »Sie müssen aber nicht meinen, daß Sie uns so lange hinauszögern können, bis der Zeitpunkt für die gerichtliche Klage verpaßt ist. Die Altenbrück haben das so in der Gewohnheit, aber dieses Mal soll sich keine Müllerstochter in den Brunnen stürzen. Da verlassen Sie sich darauf«, und er lachte höhnisch.

Nik sah stumm vor sich hin. »Vielleicht gibt es einen Wucherer«, dachte er, »der mir das Geld auf meine spätere Erbschaft vorschießt.« »Ich will es versuchen«, sagte er finster zu Müller und kehrte verstimmt und aufgeregt in das Schloß zurück, während jener ihm mit einem spöttischen Blicke nachschaute.

Im Lesezimmer traf Nik Valentinen, die in einem englischen Stuhle liegend, die Stahlknöpfe an ihren kleinen grauen Schuhen betrachtete. Nik war verlegen. Er stand fremd und verschüchtert in der wohlbekannten Stube, als ob er bei fremden Leuten wäre, und fühlte, daß er den vertraulichen Ton von vorhin nicht mehr zu finden vermöge. Seine Kniee zitterten, und selbst der Gedanke stieg in ihm auf, ob er nicht rasch in das Speisezimmer gehen, und durch eine Flasche Wein das verwünschte Gefühl in seiner Kehle vertreiben solle. Plötzlich sagte Valentine: »Könnte ich das kranke Mädchen nicht besuchen? Ich meine, das schickte sich für mich besser als für Dich?« Es war Nik auf's neue, als ob er einen Schlag vor die Brust erhalte.

»Welches kranke Mädchen?« fragte er mit heiserer Stimme, indem ihm eine verrätherische Röthe in die Wangen trat.

»Nun die, die Dein Pferd getreten hat«, erwiderte Valentine, indem sie ihn fest anblickte.

Nik sah zur Seite und sagte: »Ach diese Geschichte. Nein, das geht wirklich nicht. Sie ist auch gar nicht hier.«

Fräulein Valentine rümpfte die Nase, stand auf und nahm vom Tische ein illustrirtes Blatt, mit dem sie sich an das hohe runde Fenster setzte. »Sie weiß recht viel von der Welt«, dachte Nik ingrimmig, »doch was kümmert es mich, wenn sie nur reinen Mund hält.«

Die Cousine schien sich indessen nach einer Weile überlegt zu haben, daß ihr Betragen zweckwidrig sei. Sie hatte ja gewußt, wie es mit den Sitten ihres Vetters aussehe, und man hatte ihr erklärt, daß es mit denen anderer junger Edelleute auch nicht viel besser stehe. Im Grunde war es ja ganz gut, daß ihr der Zufall einen Faden zuspielte, an dem sie Nik in der Hand behielt. Was lag auch daran? Die Schwester eines Gärtnerburschen! Es war geschmacklos von Nik, aber ein solches Wesen konnte ihr nicht gefährlich sein, und heirathen wollte sie den Vetter aus hundert Gründen, namentlich aber aus dem einen, sehr triftigen, daß ihr dreiundzwanzigster Geburtstag vor der Thüre stand und alle ihre Freundinnen schon verheirathet waren. Unter diesen Umständen fand sie plötzlich eine Abbildung ihrer illustrirten Zeitung so merkwürdig, daß sie Nik herbeirief, um sich dieselbe von ihm erklären zu lassen. Dieser war über den unerwarteten Umschlag des Wetters freudig überrascht. »Sie läßt den Verdacht fallen«, dachte er, und kam eilig herbei, um mit der wißbegierigen Leserin sich das interessante Bild anzusehen. So, die Köpfe in dasselbe Buch geneigt, fast Wange an Wange, fand sie der Baron, der mit Tante Klara eintrat. Der befriedigte Vater lächelte und schaute Tante Klara an, die Tante lächelte und schaute Valentinen an, die beiden jungen Leute aber errötheten, worauf Tante Klara ein kleines Buch aus der Tasche zog und liebevoll sagte: »Hier, meine gute Valentine, bringe ich Dir den Band Channing, den ich Dir gestern Abend versprochen.« Die schöne Nichte dankte der gütigen Tante mit einem Eifer, der dem Baron etwas übertrieben schien. Nik aber trat an das Fenster, trommelte leise an den Scheiben und überlegte, ob nicht Tante Klara ihm vielleicht tausend Thaler borgen könnte, um ihm die widerliche Geschichte mit dem Rothen vom Halse zu schaffen.

Wie er sich jetzt der kläglichen Lage schämte, in die er sich gebracht hatte! Unwillkürlich fielen ihm Worte aus einer Predigt des Pfarrers ein, zu der ihn Fritz einst mitgenommen hatte. »Nicht den hundertsten Theil der Kraft hätte es bedurft«, hatte der würdige Greis gesagt, »um der Versuchung rechtzeitig zu widerstehen, als der Sünder später wird aufbieten müssen, um die Folgen seiner Schwäche abzuwenden.« Wie das auf ihn nun zutraf. In welcher Situation befand er sich doch! Er, der Sohn dieses Hauses, abhängig von der Gnade der Familie Müller! Sie gingen der Reihe nach an seinem Auge vorüber, diese würdigen Personen, in deren Hände er sich gegeben hatte: die Ahnfrau des Geschlechts, die stets angetrunkene alte Müllerin, die verlogenste Bettlerin der ganzen Gegend, sodann Käthchens und Johanns würdige Mutter, die jetzt an den Ecken der Straßen Aepfel und Birnen feil hielt, und endlich die üppige Käthe selbst, der er in's Garn gegangen, obwohl sie so viel älter war als er. Er stampfte mit dem Fuße, daß aller Augen verwundert nach ihm hinschauten. Aber Nik bemerkte es nicht. Wie würde der Vater toben, wenn er den Sohn nun auch von dieser Seite würde kennen lernen, wie würde die Mutter seufzen, welche Gesichter würden die altjüngferlichen Tanten machen! Wo sollte er den Muth hernehmen, um Valentinen wieder unter die durchdringenden Augen zu treten – und, ach vor jenen Augen fürchtete er sich am allermeisten, die nicht sehen konnten, wie er erröthete, wie er bleich und krank geworden war vor innerer Qual, vor Elfrieden, die nichts sagen würde, was ihn kränkte, die ihn nicht sah, und vor deren todtem Blicke er doch in die Erde versinken mußte vor Scham. Sein Kopf sank zitternd an die hohe Fensterscheibe, und finster schaute er dem Spiele des Springbrunnens drunten im Garten zu, als der Diener zum Frühstück abrief. Indem er ietzt endlich aus seinen Träumen auffuhr, sah er, daß Valentine am Spiegel ihre Haare glatt strich und, wie es schien, schon geraume Zeit neben ihm gestanden hatte, ohne daß er es bemerkt hätte. Sie blickte ihn scharf von der Seite an, nahm aber dann ruhig seinen Arm und sagte: »Ist es gefällig? Man träumt nicht, wenn die Damen warten.«


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