Adolf Hausrath
Elfriede
Adolf Hausrath

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Sechstes Kapitel

Die Niederlage, die der Baron in der Fehde über den Schulbesuch Nik's erlitten, hatte für ihn doch einen Vortheil im Gefolge. Sie verschaffte ihm in dem zweimal siebenjährigen Kriege, den er gegen seine Frau und ihre Schwester führte, einen Bundesgenossen. Der alte Pfarrherr, nachgerade ein würdiger Greis, dessen Haare silbern unter dem schwarzen Käppchen hervorquollen, ward bei dieser Gelegenheit erst gewahr, daß der so grimmig dareinschauende Baron, den seine Gattin überall als tyrannischen Ehevogt verschrie, im Grunde nur ein armer Ehekrüppel sei, und der alte Herr beschloß, dem Bedrängten zu Hülfe zu kommen. Die Gelegenheit dazu fand sich bald, da Nik demnächst confirmirt werden sollte. Als der Pastor, kurz bevor der Confirmandenunterricht begann, auf dem Schlosse seinen Besuch machte, empfingen ihn die Baronin und ihre Schwester zuvorkommender als sonst, und Tante Klara holte eigenhändig für ihn einen Stuhl herbei. Der Pfarrer lächelte, denn er sah sofort, daß die Damen etwas im Schilde führten. Die Baronin begann denn auch alsbald mit ihrem alten Liede über Nik's zarte Gesundheit und rückte dann mit ihrem Anliegen heraus, für ihr Söhnchen eine Privatconfirmation auf dem Schlosse zu verlangen, da Nik unmöglich in den winterlichen Abendstunden zu dem allgemeinen Unterrichte in das Pfarrhaus kommen könne.

Der Prediger wiegte nachdenklich sein graues Haupt, dann nahm er seine silberne Brille ab, und indem er der Baronin mit seinen milden grauen Augen freundlich in ihr bleiches Gesicht mit den beschränkten obstinaten Zügen schaute, sagte er ruhig, es thue ihm leid, diese Bitte nicht erfüllen zu dürfen. In die Gemeinde solle der junge Herr durch den Akt der Confirmation aufgenommen werden, mit der Gemeinde müsse er sich unterweisen lassen, und gemeinsam mit deren Kindern sein Taufgelübde erneuern. Der Baron, der etwas abseits am Fenster saß, spielte bei dieser Scene den völlig Neutralen. Er strich sich ironisch lächelnd den Schnurrbart, indem er die beiden bleich und bleicher werdenden Damen spöttisch von der Seite durch sein Augenglas betrachtete. Dieses Mal half der gnädigen Frau alle Berufung auf Nik's papierene Gesundheit nichts. Der alte Pfarrer war entschlossen, den sanften Teufel, der die kleine Frau plagte, energisch auszutreiben. Sie hatte nur die Wahl, zu gehorchen oder ihren Nik auswärts confirmiren zu lassen, was ihr noch schrecklicher gewesen wäre. Zum Troste sagte ihr der Pfarrherr nur, daß auch ihr Nachbar von Frankenstein seinen Knaben zu gleichem Zwecke in das Pfarrhaus schicke. Sie wußte nicht, wie ihr geschah, aber zum ersten Male mußte sie sich fügen. Der Baron wurde förmlich gesund vor heimlicher Schadenfreude, und Nik trollte vergnügt in seinen Unterricht. Im Anfang begleitete die sorgliche Mutter ihn selbst, und wenn er zurückkam, mußte er sofort alle Kleider wechseln, da der Schulgeruch, den er aus dem Pfarrhause mitbrachte, der gnädigen Frau ganz entsetzlich war. Bald aber ward sie des Wegs nach dem Dorfe müde und ließ den Knaben allein ziehen.

Nik selbst bekam der Gang durch die klare Winterluft vortrefflich, und das Zusammensein mit gleichalterigen Bauernkindern erweckte in ihm die Empfindung, wie sehr er gegen seine Altersgenossen zurückgeblieben sei. Diese Knaben und Mädchen erschienen ihm wie Riesen, und ihr resolutes, fertiges Auftreten imponirte ihm nicht wenig. Obgleich die Meisten ziemlich rücksichtsvoll mit ihm umgingen und seine kindischen Erzählungen scheinbar bewundernd anhörten, sah er doch bald, daß sie sich oft untereinander spöttische Blicke zuwarfen, und nach kurzer Zeit war er sich selbst überlassen, da die Andern nichts mit ihm anzufangen wußten.

Auch kleine Reibereien blieben nicht aus. Ein rothhaariger Knabe aus der Rettungsanstalt, den es reizte, daß Nik, wie er sagte, den Vornehmen spiele, fing eines Tages an, wenn der Prediger es nicht bemerkte, ihn in die Seite zu stoßen, so daß Nik's schwache Rippen sich bogen. Beim Hinausgehen trat er ihn auf die Füße und suchte ihn umzurennen. Der unerfahrene Nik that das Verkehrteste, was er in dieser Lage thun konnte. Um seinem Peiniger zu entrinnen, lief er allen anderen Kindern voraus, so daß der Verfolger am Ausgange des Dorfes ihn ganz allein erwischte, wo alle Hülfe fern war. Mit überlegener Gewalt drängte der stämmige Proletarier den schwachen Junker gegen die geweißte Wand eines Hauses und sagte: »Baron, sage gleich: alle Freiherrn haben Plattfüße.« Dabei erhob er die Hand und ließ keinen Zweifel darüber, welches die Folge sein werde, wenn Nik diesen Naturmangel seiner Standesgenossen bestreite. Der kleine Mann war zum Märtyrer nicht veranlagt. Mit bleichen Lippen sprach er die beleidigenden Worte nach und meinte nun seines Peinigers ledig zu sein. Der aber lachte boshaft und sprach: »So ist's recht. Und nun sage: alle Freiherrn haben Säbelbeine.« Nik preßte die Lippen aufeinander und um seine Kinnladen zuckte es, als ob er das Weinen verbeiße. »Eins, zwei«, zählte der grobe Demokrat, indem er auf's neue die Hand zum Schlage erhob.

»Drei«, rief da plötzlich eine Stimme hinter ihnen, und eine starke Hand schleuderte den frechen Angreifer mitten in die Straße, so daß er Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten. Fritz Glimm hatte den gemeinen Angriff gegen den Schwächeren gesehen und war in großen Sätzen hinter beiden hergeeilt, um Nik beizustehen, nicht weil der Verfolgte der Sohn des Barons, sondern weil er der Schwächere war. Der Angreifer gab sich aber mit dem verfehlten Ausgange seines Anschlags nicht zufrieden. Er sprang nach dem nächsten Steinhaufen, um aus der Ferne seine Geschicklichkeit im Werfen zu erproben. Inzwischen war die schlanke Elfriede ihrem Bruder nachgekommen, und als sie den kleinen Nik zitternd und bleich an der Wand lehnen sah, während der Rothhaarige einen Stein nach dem anderen gegen ihn schleuderte, stellte sie sich vor ihn. »Sei nur ruhig«, rief sie, »mich wirft er nicht.« Diese Rechnung auf die Galanterie des rothen Dorfteufels war aber ein Irrthum des guten Mädchens. Im gleichen Augenblicke flog ein Stein gegen ihre Stirne, so daß das Blut niederfloß, und jetzt erst hörte der Unhold, nachdem er gesehen, was er angerichtet, zu werfen auf. Fritz wollte ihn verfolgen, ließ aber bald davon ab, weil er für seine verwundete Schwester besorgt war. »Es ist nichts«, sagte Elfriede. »Ein Loch im Kopf, es sind schon mehr da«, und sie preßte ihr Taschentuch gegen die Stirne, nahm mit der andern Hand Nik am Arme und zog ihn weiter, da alle Kinder in Haufen gesprungen kamen, um zu sehen, was es gebe. Es half nichts, daß Fritz abwehrte. Wie die Ameisen wimmelte die kleine Schaar hinter dem unwillig erröthenden Mädchen her, während einige der Stärksten den Rothkopf zur Rede stellten. »Was hat Dir Altenbrück gethan, daß Du ihn werfen wolltest?« schrieen sie auf den häßlichen rothen Jungen hinein, der trotzig dastand und, die Hand in der Tasche, mit den aufgelesenen Steinen spielte.

Der Name Altenbrück schien ihn aber zu erschrecken. Er erbleichte unter seinen Sommersprossen und sagte betroffen: »Ich meinte, er heiße Frankenstein.«

»Altenbrück heißt er«, erwiderte der Sprecher der Knaben, »und der Baron wird Dir's heimzahlen, daß Du sein Söhnlein knufftest. Sieh, wie er blaß wird«, setzte er dann verächtlich hinzu.

In der That schien der Rothe völlig umgewandelt. Er that einige Schritte, als ob er den Kindern aus dem Schlosse folgen wolle, um Frieden zu machen. Aber sie waren schon weit voraus. So zuckte er die Schultern und kehrte mit hängendem Kopfe zum Dorfe zurück. Indessen hatte Elfriede den kleinen Pfad erreicht, der zu dem Gärtnerhäuschen führte. Dort nahm sie lachend von Nik Abschied, während ihm der Bruder noch bis zum Parkthore das Geleit gab, weil Nik noch immer fürchtete, von seinem Feinde eingeholt zu werden. Zu Hause erzählte dieser von seinem Abenteuer nichts, weil er fürchtete, die Gänge zum Pfarrhause könnten ihm sonst untersagt werden, wohl aber schloß er sich von da an auf seinem Heimwege jedesmal eng an die Zwillinge an.

Nik's romantische Träumereien gewannen in Folge dieses ersten Eintretens in den uralten Kampf zwischen arm und reich einen lebendigen Inhalt. Er focht nicht mehr gegen die Mohrenkönige der alten Bärbel, sondern er hatte einen wirklichen Feind, den er in seiner Phantasie in dem imaginären Kerker hinter dem Zwinger unterbrachte, oder in die geheimnißvolle Brunnenstube einschloß. Einige Tage marterte er ihn dort auf jede Weise zu Tode, da die Erinnerung an die eigene feige Schwäche, die im Begriff gewesen war, nicht nur die Plattfüße, sondern auch die Säbelbeine eines hohen Adels zuzugeben, seinen Haß gegen den Rothen verschärfte. Doch schon nach wenigen Tagen wich dieser Haß einer milderen Stimmung, da ihm die Gärtnerskinder bei dem Gange nach dem Pfarrhause erzählten, der rothe Johannes aus dem »verlorenen Sohne« sei am frühen Morgen zu ihnen gekommen und habe Elfrieden um Verzeihung gebeten. Auch flehe er Nik an, ihn nicht anzugeben, denn der Baron sei es, der das Kostgeld für ihn in der Anstalt bestreite. Er würde entsetzlich bestraft werden, wenn die Sache zur Anzeige komme.

»Was würdet Ihr thun?« fragte Nik, den es doch reizte, den Feind seine Macht gründlich empfinden zu lassen.

»Er muß Dich um Verzeihung bitten«, sagte Fritz.

»Pfui, nochmals«, sagte Elfriede, und ihr feines Gesichtchen erröthete vor Eifer. »Man muß vergeben können, ohne viele Feierlichkeiten. Sei froh, wenn er Dir keine solchen süßlichen Reden hält wie mir. Er thäte es doch nur aus Furcht. Die Sache ist abgethan, nicht wahr Nik?«

Nik gab ihr beglückt die Hand und sagte »Ja, Elfriede.« Er wurde ganz roth, als er ihren Namen aussprach. Sie aber lachte und eilte den Knaben zwei Schritte voraus nach dem Pfarrhause. Als dort der rothe Müller Nik ehrerbietig grüßte, ihm während der Stunde das Bleistift aufhob, das ihm gefallen war, und ihm beim Schlusse, noch ehe der Pfarrer Amen gesagt, seinen Hut vom Nagel nahm und höflich darreichte, hatte Nik ihm auch innerlich vergeben. Am folgenden Nachmittage hörte die Baronin ihren einsam im Parke streifenden Sohn besonders laut und feierlich peroriren und deklamiren. Derselbe entließ bei Sonnenuntergang den gefesselten Feind aus seinem Kerker und ließ ihn bei den Hörnern eines einsam gelegenen Gartenaltars Urfehde schwören. Von dieser Stunde an war er auch im Pfarrhause gegen den Rothkopf sehr versöhnlich und dankte stets freundlich für die kleinen Dienste, die dieser zu leisten nicht müde ward.

Dieselbe knabenhafte Phantasie aber, die den rothen, sommersprossigen Jungen aus dem Rettungshause zu einem höllischen Dämon gemacht hatte, und ihn unter eine durchaus bengalische Beleuchtung stellte, wob um die zarte Psychegestalt der blonden Elfriede eine Glorie, die die liebliche, blauäugige Gärtnerstochter zum Seraph mit Engelsfittichen umschuf. Sie war die Fee, die ihn, beschützte, das edle Fräulein, um das er kämpfte, die Dame, deren Farbe er bei allen Turnieren trug. Während die übrigen Confirmanden die Mädchen verachteten, weil sie weder werfen, noch sich prügeln konnten, Zöpfe trugen, an denen man sie rupfen konnte, und obendrein die niedrige Neigung hatten, ihre Beleidiger dem Pfarrer anzugeben, ging Nik's ganzes Sinnen und Trachten darauf, einige von den blonden Haaren seiner Dame zu rauben. Er entführte zu diesem Zwecke aus dem Arbeitskorbe seiner Mama deren beste kleine Scheere und brachte dadurch das Zimmermädchen in ungerechten Verdacht. Dennoch gebrauchte er das Werkzeug nicht, das er so unredlich sich angeeignet hatte, weil ihm bei jeder sich darbietenden Gelegenheit die Hand zu zittern begann. Auch Fritz war ihm im Wege, da der ernste Knabe Nik imponirte, so daß er in seiner Gegenwart mit seinen phantastischen Einfällen zurückhielt. Um so schwärmerischer besang er seine Geliebte, wenn er allein durch den winterlichen Garten streifte. Tausend Märchen gingen ihm durch den Kopf, in denen die Gärtnerstochter alle Abenteuer Dornröschens, der Adlerbraut und Schneewittchens zu bestehen hatte, »bis sie auf seinen güldnen Thron erhob der junge Königssohn.«

Fritz dagegen war in den Träumen Nik's nur eine untergeordnete Rolle zugedacht. Er war der Knappe, der die Pflicht hatte, seinen Herrn rechtzeitig herauszuhauen, dann aber in den Stall geschickt ward, während der Ritter mit seiner Dame koste. »Knapp, sattle mir mein Dänenroß!« rief Nik ihm am Morgen zu, und es kam sogar vor, daß der Knappe – allerdings immer in seiner Abwesenheit – tüchtig ausgescholten ward.

Innerlich und äußerlich gab es auch kaum verschiedenere Knaben, als den hochgewachsenen Gärtnerssohn mit seinen frischen Farben und klaren braunen Augen, die das Bild eines guten Gewissens und sauberen Innern waren, und den verkümmerten Nik mit seinem bleichen, greisenhaften Gesichtchen und den zerstreuten, unsteten Blicken, in denen sich sofort sein zerfahrenes Wesen offenbarte. Nach einer Jugend, die nur eine Abwechselung von Krankheit und Reconvalescenz gewesen, zwischen Frauen und Dienstboten aufgewachsen, mit ungesunder Lectüre vollgestopft und träumerisch durch Mangel an gleichalteriger Gesellschaft, war er frühreif und unreif, altklug und unklug. Wenn die beiden Gärtnerskinder ihn anhörten, so erstaunten sie bald über sein buntes Wissen, bald über seine kindische Albernheit. Im Ganzen aber herrschte bei Fritz die Geringschätzung, bei Elfrieden das Mitleid vor, obwohl auch sie mit Nik's Haltung in den Confirmationsstunden gar nicht zufrieden war.

Denn der Unterricht des Pfarrers wurde von den Zwillingen mit strenger Andacht und Aufmerksamkeit aufgenommen, und beide waren innerlich sehr mit den tiefen Problemen des Lebens beschäftigt, die hier zum ersten Male, wenn auch nur im Bilde und Gleichniß, ihnen vorgelegt wurden. Woher stammst du, wozu lebst du, wohin gehst du? Das waren die geheimnisvollen Fragen, die der würdige Pfarrherr ihnen vorlegte und im Sinne der Kirche beantwortete, zu deren Gliedern er diese jungen Christen erziehen sollte. Elfrieden, die nach Mädchenweise religiös früher entwickelt war, als die Knaben, genügte manche Lösung nicht. Wenn sie den Rückweg vom Pfarrhause antraten, standen schon die Sterne an dem klaren Winterhimmel, und träumerisch schaute das holde Kind zu den leuchtenden Gestirnen empor. »Glänzen sie nicht da, wie die Vergißmeinnichte auf unserer Wiese«, sagte sie zu Fritz. »Wer weiß, ob nicht sie die wahren Kinder Gottes sind? Seht, wie sie dort an der Milchstraße sich drängen. Das ist der Weg, auf dem sie herauf und heruntersteigen. Vielleicht sind wir alle diese Straße gekommen und dürfen einst über sie heimkehren zum lieben Gott.« Fritz wollte von solchen Träumen nichts hören; er sagte in ziemlich rechthaberischem Tone, da man von diesen Geheimnissen nichts wissen könne, halte er sich einfach an das geoffenbarte Wort. Nik aber langweilten derlei Gespräche. Seine Phantasie wanderte andere Bahnen. Der Räuber Orbasan war ihm interessanter als Moses und die Propheten, und wenn es Elfrieden rührte, zu denselben Sternen emporzuschauen, zu denen Gott schon den Vater Abraham aufblicken hieß, meinte Nik, aus den Sternen mache er sich nichts, aber einen rechten Kometen mit feuriger Ruthe möchte er wohl einmal sehen, so wie er in seinem Bilderbuche abgemalt sei.

Unter diesen Eindrücken war der Winter dahingegangen. Die Ulmen im Parke knospten, die Mandelbäume blühten und der Tag der Confirmation brach an. Wieder läuteten die Glocken und genau wie vor vierzehn Jahren an dem Tage, an welchem Schloß und Gärtnerhaus mit der Geburt heiß ersehnter Kinder beglückt worden waren, sang die Gemeinde auch heute das schöne Kirchenlied: »Eins ist Noth, oh Herr, dies Eine lehre meine Seele doch.«

Die Kinder waren um den Altar des kleinen Kirchleins versammelt, dessen vom Epheu grün übersponnene Scheiben mit dem mystischen Glanze gemalter Domfenster wetteiferten. Unter den ernsten Klängen der Orgel traten die Kleinen zum Altar, die Knaben in schwarzen Röcken, die Mädchen weißgekleidet, gleichsam eine Prophezeiung auf ein Lebensstadium, das sie noch nicht erreicht hatten. Die Zwillinge waren tief ergriffen, während Nik auch heute mehr an Elfriedens blondes Haar und weißes Kleid dachte, als an die heilige Handlung.

»Eure Eltern und Freunde«, so wendete sich der würdige Prediger an die jungen Christen, »tragen heute nur den einen Wunsch in ihren Herzen, daß Ihr möchtet glücklich werden. Wie aber, lieben Kinder, werdet Ihr glücklich? Die Welt hat auf diese Frage durch lange Zeiten geantwortet, glücklich werden wir, wenn wir für uns selbst sorgen, bis der Heiland kam und sprach: ›glücklich werdet ihr, indem ihr für Andere sorgt‹. Die Welt lehrt: ›Haltet zu euern Freunden, und eure Feinde tretet unter euere Füße‹. Der Heiland spricht: ›Liebet eure Feinde, segnet die euch fluchen, thut wohl denen, die euch hassen‹. Die Welt spricht: ›Rache ist süß, der Heiland sagt: ›Es ist süß zu vergeben‹. Das ist die verkehrte Welt, die Jesus Christus gestiftet hat, und zu Bürgern dieser neuen Welt wollen wir euch heute weihen.«

»Glücklich sein«, fuhr der Greis fort: »heißt lieben, Haß aber ist nur ein anderer Name für das tiefste geistige Elend. Darum lieben sie im Himmel, darum hassen sie in der Hölle, hassen Gott, hassen die Menschen, hassen sich selbst – und weinen und seufzen doch, daß sie nicht lieben können. Wollt ihr also glücklich sein, so dürft ihr keinen Menschen hassen, ihr müßt euch selbst vergessen und an die Anderen zuerst denken. Stirb dir selbst ab und du wirst leben, so lautet der Widersinn, der die größte Weisheit ist, das große Geheimniß, das nur die Einfältigen verstehen, das Grundgesetz des Gottesreichs, das Christus gegründet hat. Versuche es mit der Selbstliebe und du wirst dich selbst elend machen, versuche es mit der Selbsthingabe und du wirst das Glück finden, das du suchst. Dein Ich ist der Feind, den du tödten mußt, du hast keinen größeren, keinen anderen.«

An Nik's Ohr waren diese Worte, für die er noch nicht reif war, wie ein tauber Schall vorübergegangen, und er wunderte sich, warum Elfriede sich so ergriffen zeigte. Sie hatte doch gewiß keine schwerere Sünde auf dem Herzen, als die, daß sie zuweilen die Haarbänder aus ihren langen blonden Flechten verlor, worüber sie dann immer sehr zerknirscht war, weil sie von ihrer Mutter dafür getadelt wurde. Unwillkürlich mußte Nik bei diesem Gedanken wieder hinüber sehen; Fritz bemerkte es und biß sich unwillig auf die Lippen.

Endlich war der Gottesdienst zu Ende. Nik hatte schon lange seine Mütze unruhig in der Hand gedreht und drängte so rasch als möglich nach der Thüre. Aber er mußte noch auf den Vater warten, den er in ein ernstes Gespräch mit dem Pfarrer vertieft sah. Endlich erschien derselbe und die Eltern nahmen den Sohn in ihre Mitte. Der Vater war trüb gestimmt. Ein Wort aus der Rede des alten Pfarrers hatte ihn tief ergriffen. »Sorget«, hatte der würdige Greis den Eltern zugerufen, indem er sie mit festem Blicke in's Auge faßte: »daß diese Kinder besser werden, als wir es sind und als wir es werden konnten.« Dieses Wort hatte den Freiherrn im Mittelpunkte seines Herzens getroffen. »Werden konnten«, wiederholte er sich leise, als er aus der Kirche trat. »Wie hätte ich besser werden können, als ich geworden bin, verhätschelt von Kindesbeinen an, verführt von Jugend auf, müßig alle Tage meines Lebens.« So war es gekommen, daß er jetzt schon ein verbrauchter Mensch war, in den Jahren der Kraft gequält von allen Schwächen des Greisenthums. Das Alles aber rührte daher, daß er nichts ordentlich gelernt, nichts ordentlich getrieben, daß er mit einem Worte keinen Beruf gehabt hatte, denn der Müßiggang war aller Laster Anfang gewesen.

Der Pfarrer hatte dann weiter, indem er von der rechten Erziehung sprach, das Bild des Evangeliums gebraucht von den Körnern, die nicht Wurzel schlagen konnten, weil sie auf den harten Weg gefallen waren, so daß die Vögel des Himmels kamen und sie wegpickten. »Wie«, hatte er gefragt, »ist der Weg doch so hart geworden? Wie viele leichtfertige Füße und schwere Lasten haben ihn so hart getreten, so daß der beste Same da nicht mehr aufgeht? So möchte man auch bei manchen Herzen fragen: wie ist der Weg doch so hart geworden?« Dieses Wort klang dem Baron in der Seele nach, gleich wie die Orgel noch weiter klingt auch wenn das letzte Lied zu Ende ist und die Gemeinde die Kirche schon verlassen hat. »Wie ist der Weg doch so hart geworden?« fragte er sich selbst. Und er gedachte der Zeit, da er so alt war wie Nik. Ja es war viel dahin gegangen über das weiche Herz des Knaben, bis es so hart wurde – schlechte Beispiele, schwere Erfahrungen und schwere Verschuldungen, verkehrte, harte Behandlung, bis das weiche Herz einem harten Wege glich, auf dem kein guter Same mehr aufgeht. Wohl aber kamen die Vögel des Himmels geflogen und pickten ihn weg. Es waren leichtsinnige Vögel darunter, Vögel mit häßlichen und mit schönen Federn, schmutzige Straßensperlinge und prunkende Ziervögel, aber alle waren eifrig gewesen, die guten Körner im Gemüthe des Jünglings nicht Wurzel schlagen zu lassen. Der Acker seines Herzens war nicht ordentlich umgearbeitet worden, er war nicht eingefriedigt gewesen und niemand hatte über der Aussaat gewacht. Aber bei Nik sollte das anders sein. Sollte der Sohn besser werden als der Vater gewesen war und hatte werden können, so mußte er für irgend einen bestimmten Beruf geschult werden. Es darf nicht dem Zufall überlassen werden, was aus dem guten Samen wird. »Ob er es so weit bringt, eine Compagnie zu führen«, dachte der Baron bei sich selbst, »oder auf der Gerichtsstube zu amten oder Gesandtschaftsberichte zu schreiben, das alles gilt mir gleich, nur das halbe Wesen nicht, an dem unsere vornehmen Söhnchen kranken, Männchen, unfertig wie halb gebackene Bretzeln, für niemanden genießbar und vor der Zeit sauer!«

Während der Freiherr so in trübe Erinnerungen vertieft neben Frau und Sohn auf der Landstraße längs des Flusses dahinschritt und zuweilen im Gefühle eines unwiderruflich vergeudeten Lebens die Achseln zuckte, folgte ihnen einer der eben confirmirten Knaben aus der Ferne. Hielt der Baron stille, so blieb auch der schwarz gekleidete Junge stehen; schritt die freiherrliche Familie zu, so beschleunigte auch er den Gang. Nachdem der Baron in das Schloß verschwunden war, näherte sich die schattenhafte Gestalt zögernd dem Gartenthore; dort blieb der Knabe stehen. Es war, als ob er etwas vor sich hersage oder leise lerne. Nach einer Weile lüftete er seine Confirmandenmütze und trat gleichfalls in den Garten ein.

Der Freiherr hatte sich eben seines Gesangbuchs und der schwarzen Kleider entledigt, als der Diener einen Knaben meldete, der sich Johannes Müller nenne und dem Freiherrn dafür danken wolle, daß er ihn habe erziehen lassen. Herr von Altenbrück erinnerte sich des Namens nicht.

»Er hat rothe Haare und ein Gesicht voll Sommersprossen«, sagte der alte Lakai, »und redet wie ein Pfarrer; so wie sie es gelehrt werden im verlorenen Sohn.« Jetzt erinnerte sich der Freiherr seines Schützlings im Rettungshause und sagte: »Richtig, der Mensch war ja gerade so alt wie Nik. Der ist also heute auch confirmirt worden.« Und nun war er doch neugierig, wie der Altersgenosse seines Sohnes aussehe, den er selbst nur aus dem jährlichen Posten in seinem Ausgabenbuche kannte.

Er fand im Vorzimmer einen lang aufgeschossenen Knaben, der mit seinen rothen Haaren, dem gelben, von Sommersprossen gefleckten Gesichte und den stechenden grauen Augen ihn daran erinnerte, daß sein Schützling früher den Namen des kleinen Dorfteufels getragen habe. Klein war er nun nicht mehr, aber ungelenk wie ein Gliedermann, und die große, langfingerige Hand, die er dem gnädigen Herrn reichte, war kalt und klebrig, so daß der Baron mit der seinen sofort in die Rocktasche fuhr und sich mit seinem seidenen Taschentuche zu schaffen machte. Noch ehe er ihn etwas fragen konnte, überschüttete aber der hagere Jüngling seinen Wohlthäter mit einer salbungsvollen Ansprache, in der viel von der Gnade der Herrschaft, von der ewigen Dankbarkeit seiner so geringen Person, von Zeit der Vergeltung und ähnlichen Dingen die Rede war. Diese Danksagung ward in einem Predigertone hergesagt, der dem Barone ganz unausstehlich war.

»Das ist alles schön und gut«, unterbrach er den wortreichen Jüngling endlich, »aber was willst Du nun werden?«

»Ich habe den Herrn auf den Knieen darum befragt«, erwiderte der Knabe, »aber die innere Stimme sagte: es wird dir gezeigt werden.«

»Nun«, sagte der Baron gutmüthig, »in Deinen Jahren muß man die Beine nicht zum Knieen benutzen, sondern dazu, Andere flink zu bedienen, zu springen und meinetwegen zu tanzen. Ich will einmal mit dem Pfarrer reden.«

Da flog ein Schatten über das sommersprossige Gesicht des rothen Johann und er sagte nun plötzlich sehr geradeaus: »Ich möchte Gärtner werden, und vielleicht könnte mich Herr Glimm als Lehrjungen annehmen.«

»So, so«, meinte der Freiherr, über einen so bestimmten Vorschlag etwas überrascht, »Du hast wohl mit meinem Gärtner schon gesprochen?«

Der Knabe legte pathetisch seine große knochige Hand auf sein Herz: »Wie sollte ich mich erdreisten, der Gnade des Herrn Baron vorzugreifen. Ich unterwerfe mich ganz den Anordnungen des gnädigen Herrn, der Alles zum Besten lenken wird. Wenn ich als Kind in meinem Bettlein den Herrn anflehte für den Herrn Baron und das ganze freiherrliche Haus, dann fragte ich mich oft, in welcher Stellung ich am frühesten meine Schuld abtragen könnte an meinen Wohlthäter, und dann dachte ich, wenn ich einmal Gartengehülfe wäre, dann könnte ich die Bänke besonders schön abstäuben, auf denen der Herr Baron am liebsten sitzt, ich könnte seine Lieblingsblumen eifrig gießen und pflegen, die vielleicht jetzt zu rasch abwelken, und ich könnte es dem Herrn an seinen milden Augen absehen, wie er Alles im Garten am liebsten hat.«

Der Baron schaute den langen Menschen mit gemischten Gefühlen an. Das süßliche Gerede erschien ihm geschmacklos, aber im Grunde schmeichelte es ihm doch, daß er durch das kleine Opfer eines jährlichen Beitrags zur rettenden Vorsehung eines Kindes geworden sein sollte, das täglich für ihn gebetet hatte.

»Laß das«, sagte er, den weiteren Redestrom abwehrend. »Ich werde mit Glimm reden. Kann er Dich brauchen, so sollst Du unter meinen Augen arbeiten. Ich werde dann sehen, was an Dir ist.«

Der Knabe verstand den Wink sofort und verneigte sich, unter der Thüre aber blieb er stehen und fragte demüthig: »Wann dürfte ich nachfragen, was der Herr Baron beschlossen? Aus der Anstalt bin ich entlassen. Ich muß in die Höhle des Lasters zurückkehren, bis ich ein anderes Unterkommen finde.«

»So komme morgen früh", erwiderte der Baron etwas ungeduldig. »Ich werde heute noch mit dem Gärtner reden.«

Zum Mittagessen war der Pfarrer in's Schloß geladen, um Nik's Ehrentag gebührend zu feiern. Als er erschien, trug ihm der Baron sofort das Anliegen des Johannes Müller vor. »Ich erinnere mich«, sagte er, »daß ich vor einiger Zeit einen Bericht des Directors las, in welchem es von meinem Schützlinge hieß, in früheren Jahren habe er viel gelogen, aber in der Anstalt sei er ein anderer Mensch geworden.«

»Ein Anderer ist er geworden", erwiderte der Pfarrherr ironisch, »aber ich fürchte der Andere lügt auch.«

Gegen den Plan des Barons hatte er übrigens nichts einzuwenden. Im Gegentheil meinte er, bei Meister Glimm werde der Knabe wohl aufgehoben sein.

»Würden Sie nicht geschwind noch zu Glimm hinübergehen«, bat der Baron den alten Herrn, »und mit ihm reden. Ich habe wenig Verständniß für solche Dinge, genehmige aber Alles zum voraus, was Sie mit meinem Gärtner ausmachen. Es wäre mir lieb, wenn ich dem Jungen schon morgen Bescheid sagen könnte.« Der Pfarrer war gern dazu bereit und sprach bei Glimm vor, der bereits mit seinem Mittagsmahl zu Ende war und sich zu einem zweiten Kirchgange rüstete. Als der Gärtner aber den Vorschlag des Pfarrers vernommen, zog er die Augenbrauen bedenklich in die Höhe und wollte von einem Lehrjungen aus dem verlorenen Sohne nichts wissen. »Die passen nur für's Amerika und so Länder dahinten«, meinte er. Aber der Pfarrer redete ihm eifrig zu. Bei verständiger Behandlung könne er noch immer aus dem Knaben, der so jung sei, etwas machen. Schließlich empfand es der gutmüthige Mann selbst als eine Art von Pflicht, den verdrehten Kunden, wie er ihn nannte, in die Reihe zu bringen. »Wissen Sie, Hochwürden«, sagte er, »sie meinen es gut im verlorenen Sohne, aber wenn man einen Jungen so vollpfropft mit frommen Redensarten, daß sie überall herausgucken, aus den Augen, aus dem Munde, aus den Taschen und wo sonst noch, dann meint man, sie seien nicht in das Herz gekommen, sondern daneben.«

Der Pfarrer gab ihm darin vollkommen Recht, aber er fügte hinzu: »Wenn Sie ihn in die Kur nehmen, so seien Sie vorsichtig, daß er nicht mit der übertriebenen Schaustellung der Frömmigkeit die Frömmigkeit selbst wegwerfe.«

»Der hat nicht mehr viel wegzuwerfen«, dachte Glimm, doch unterdrückte er diese Bemerkung aus Respect vor dem Pfarrer, und nachdem er diesem noch ein Stück Wegs das Geleit gegeben, kündigte er seiner Frau an, daß er einen Lehrjungen angenommen habe.

Während die Gärtnersfamilie nunmehr nach der Stadt aufbrach, wo sie den Nachmittagsgottesdienst besuchen wollte, kehrte der Pfarrer zum Schlosse zurück, um dort der lästigen Pflicht eines endlosen Mittagessens zu genügen, das allen Theilen eine Plage war. »Wenn die Arbeiter nur wüßten«, dachte er bei sich, »wie es mit den Vergnügungen der oberen Zehntausend beschaffen ist, sie würden dieselben nicht so sehr beneiden.«

Nachdem er dem Baron mit zwei Worten Bescheid gesagt, führte ihn dieser zu der Familientafel, an der die Gäste bereits Platz genommen hatten. Nik's Pathen waren vollzählig zu seinem Ehrentage erschienen und zu oberst thronte die treffliche Tante Rudolfe, eine dicke Frau, die ihre eigenen Kinder schlecht erzog, aber sich sehr für Armenschulen interessirte. Sie widmete ihre ganze Zeit dem Briefschreiben und war allzeit gern mit fremdem Gelde wohlthätig. Neben ihr saß die eben so wohlbeleibte Friederike, die drei Möpse hatte, für die Evangelisirung Spaniens wirkte und die Photographie des Tenors Ruffini stets im Strickbeutel mit sich führte. Auch die hagere, durchsichtige Magdalene war eine sehr interessante Cousine, denn ihre Specialität waren die verkommenen Familien und die Kanarienvogelhecken, von welchen beiden sie die fabelhaftesten Dinge zu erzählen wußte. Der Baron machte den drei Damen mit großer Ergebenheit den Hof, denn er gedachte der Zeit, in der seine ätherische Gattin, so mager sie war, doch siebzehn Busenfreundinnen hatte, und er war glücklich, daß sie diese Zahl heute officiell auf drei ermäßigte, denn er hatte in früheren Tagen schwer gelitten unter der Ueberfülle der Theilnahme an seinem Hauswesen.

Nik selbst saß zwischen dem Prediger und seinem schwäbischen Hauslehrer, dessen Wohlbeleibtheit bei der guten Kost im Schlosse und seinem steten Brüten über das Absolute in letzter Zeit fast bedrohliche Proportionen angenommen hatte. Als der Braten aufgetragen ward, erhob sich der Pastor, um einen Toast auf Nik's Wohlergehen auszubringen, in welchem er die Hoffnung aussprach, der kleine Confirmand werde dereinst noch der Stolz seiner Eltern und die Zierde des sächsischen Adels sein. Die Gläser erklangen, und Nik ging von einer Tante zur andern, um mit ihr anzustoßen. Nach der Tafel wurde Nik von den drei Damen mit Geschenken, guten Lehren und Küssen überhäuft, welche letztere ihm noch fataler waren, als die guten Lehren, so daß er sobald als möglich in den Garten entwischte.

Sobald er weggegangen war, brachte der Prediger bei dem Kaffee ein Anliegen zur Sprache, das der Baron ihm schon in der Kirche, unmittelbar nach dem Gottesdienste, vorgetragen hatte. Nik's Vater, innerlich bewegt von der Confirmationsrede seines Pfarrers, hatte diesem warm die Hand gedrückt, und ihm dann anvertraut, wie gern er seinen Knaben in eine öffentliche Anstalt bringen möchte, damit er für's Leben, wie er sich ausdrückte, gar gekocht werde. Da nun der Prediger es durchgesetzt hatte, daß Nik den Confirmandenunterricht mit den anderen Kindern besuchen durfte, so bat ihn der Freiherr, ob er nicht seine Frau auch dahin bringen könne, den Hauslehrer zu verabschieden und Nik in die Schule zu schicken. Die Gelegenheit dafür sei jetzt gerade besonders günstig, da Tante Klara abwesend sei, um ihre Augen operiren zu lassen, die immer bedenklicher aus dem Kopfe hervorquollen. Der Freiherr ahnte dabei nicht, daß in seiner Gattin selbst sich bereits eine Wandlung ihrer Gesinnungen vollzogen hatte. Die gnädige Frau, die bei ihrem Ueberfluß an Zeit eine ausgedehnte Correspondenz mit Tanten, Basen und Freundinnen führte, hatte sofort nach jenem Zank über Nik's Erziehung, den neuen Anschlag ihres tyrannischen Gatten auf ihre zarte Gesundheit allen ihren Correspondentinnen vermeldet. Zu ihrer Verwunderung hatten aber die theuren Rudolfen, Magdalenen, Friederiken, Emilien und wie sie alle hießen, fast übereinstimmend erwidert, ihre Neffen, Pathen oder Söhne gingen alle in öffentliche Anstalten und hätten für ihre Gesundheit nur Vortheil davon gehabt. Diese Übereinstimmung ihrer Orakel hatte die Ueberzeugung der sonst so eigensinnigen Frau doch in ihren Tiefen erschüttert, und da der Baron so klug war, sich jeder Aeußerung zu enthalten, weil erfahrungsgemäß ein Betreiben der Sache durch ihn nur einen um so hartnäckigeren Widerstand seiner theuern Lebensgefährtin hervorgerufen hätte, war sie dem Plane innerlich nicht mehr so abgeneigt wie vordem. Vielmehr entschied sie sich dahin, daß sie dem erfahrenen Rathe der weisen Frauen ohne Schande weichen könne, während sie um keinen Preis der Tyrannei ihres Mannes sich gefügt haben würde. So verlief denn die Verhandlung weit ruhiger, als der Baron erwartete. Schon mehrmals hatte er mit dem Prediger bedeutsame Blicke gewechselt, bis dieser endlich mit einer energischen Bewegung seine Brille abnahm und die Baronin mit seinen hellen Augen fest anschauend, mit dem Vorschlage herausrückte, Nik müsse nun, da er confirmirt sei, auch in eine öffentliche Anstalt verbracht werden. Wer für die Welt erzogen werden solle, sagte er, der müsse auch in der Welt erzogen werden, was die drei Pathinnen lebhaft billigten. Sie alle redeten gleichzeitig auf ihre theuere Cäcilie hinein, indem jede die Erfahrungen pries, die sie mit ihrer Schule gemacht hätte. Den Ausschlag aber gab weder die erfahrene Rudolfe, noch die beleibte Friederike, noch die zarte Magdalene, sondern zur allgemeinen Verwunderung der dicke, rothbäckige Kandidat, der lebhaft für das Project des Barons eintrat. Der schwäbische Philosoph war nämlich nach jahrelangem Brüten zu der Erkenntniß gelangt, daß die Natur sich überhaupt nicht als Abfall von dem Absoluten begreifen lasse, sondern eine für mich seiende Daseinsform des Absoluten sei. Um aber ein System auf dieser Grundlage auszuarbeiten, mußte er der ewigen Störungen durch den täglich unausstehlicher werdenden Nik enthoben sein. Ohnehin war ihm der Baron, seit er über Verbringung seines Sohnes nach dem Gymnasium brütete, unausgesetzt auf den Fersen und hatte sich bei Gelegenheit, in seltsamem Mißverstand der philosophischen Terminologie, die Bemerkung herausgenommen, das Fürsichsein imponire ihm gar nicht, der Mensch sei für die Welt da, und ein Hauslehrer namentlich sei nicht für sich da, sondern für seinen Zögling. So warf der Kandidat heute die Bemerkung in das Gespräch, daß für Nik jedenfalls ein neuer Lehrer gesucht werden müsse, da er sich um eine schwäbische Pfarrei beworben habe. »Und das sagen Sie uns jetzt erst« – brauste der Baron auf. Der Schwabe aber lachte mit dem ganzen dicken Gesichte. »Ja, wir Württemberger«, sagte er selbstvergnügt, »machen unser Sach' hehlingen.« Diese graziöse Erklärung gab denn den Ausschlag. Die Baronin wurde von allen Seiten mit Vorstellungen bestürmt, der Baron zuckte wohlweislich nur die Schultern, aber er deutete an, daß bei der Hartnäckigkeit seiner lieben Frau ja doch Alles vergeblich sei. Das schlug durch. Um ihren Freundinnen einen greifbaren Beweis zu liefern, wie ihr Gemahl sie verleumde, und wie nur er an allen Mißhelligkeiten schuld sei, gab sie feierlich nach, und der Baron ließ sofort anspannen, um alsbald zum Director der königlichen Lateinschule zu fahren, damit die Angelegenheit geordnet werde, ehe seine drei Bundesgenossinnen das Haus verließen. Schon nach einer Stunde kam er mit der Nachricht zurück, daß Nik zu Anfang des nächsten Curses in der Klasse erscheinen solle, in die er zunächst als Gast aufgenommen sei. Einstweilen aber versprach der Baron seiner Frau, dem armen Knaben nichts davon zu sagen, damit er die wenigen Wochen seiner Freiheit noch in voller Unbefangenheit zu genießen vermöge. Das aber war hauptsächlich darum nöthig, weil ein Besuch von Tante Tina und ihrer Tochter Valentine bevorstand, und bei diesem Zusammensein, erklärte die Baronin mit größter Bestimmtheit, dürfe Nik nicht »präoccupirt« sein.

Zufrieden, in der Hauptsache seinen Zweck erreicht zu haben, verließ der Prediger das Schloß. »So war der Mittag doch nicht völlig vergeudet«, sagte er bei sich selbst. »Es war auch die höchste Zeit, dieser verkehrten Erziehung ein Ende zu machen.« Als er in dieser befriedigten Stimmung dem Schloßthore zuschritt, begegnete er im Vorgarten der alten Braunin, die diesen Tag nicht vorübergehen lassen wollte, ohne ihn zu einer Bettelei zu benutzen.

»Heda«, sagte der Pfarrer zu ihr, »Ihr laßt ja die Käthe doch als Blumenmädchen in den Wirthshäusern herumgehen. Haltet Ihr so Euer Versprechen?«

»Ach, Herr Paster!« erwiderte die Alte, indem sie that, als ob sie nach Luft schnappe.

»Wißt Ihr nicht mehr, wie das Geschäft Euerer Tochter bekommen ist, müßt Ihr nun Euere Enkelin auch ruiniren?« sagte der Pfarrer streng.

»Ach, Herr Paster«, schnappte die Alte auf's neue.

»Warum habt Ihr sie nicht in den Dienst gebracht, den ich Euch nachwies? Nun?«

»Ach, Herr Paster«, sagte die Alte, »das waren so harte Leute, und die Frau Baronin versprach der Käthe täglich einen Strauß abzukaufen. So stellen wir uns ja viel besser.«

Der alte Herr stieß mit seinem Stocke zornig auf den Boden und sagte: »So, so, die Frau Baronin. Nun ich werde einmal mit dem Bürgermeister sprechen.« Damit schritt er auf die Landstraße hinaus, das Thor ärgerlich hinter sich zuwerfend.


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