Adolf Hausrath
Elfriede
Adolf Hausrath

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Sechszehntes Kapitel

Als Nik wieder zu sich kam, lag er in seinen beschmutzten, zerrissenen Kleidern auf dem Divan. Die Morgensonne fiel hell in's Zimmer, und der starke Geruch einer Essenz, mit der man ihn übergossen hatte, belästigte ihn. Zuerst unterschied er das alberne, aufgeregte Gesicht des alten Hausarztes, das über ihn gebeugt, ihn aus nächster Nähe beobachtete. Wüst blickte der Erwachende in seiner Stube umher und suchte vergeblich seine Gedanken zu ordnen.

»Können Sie mir sagen«, hörte er nun eine tiefe männliche Stimme ihn anreden, »warum Sie bei unserem Anblicke so erschraken, daß Sie ohnmächtig wurden?«

Nik wendete seine stieren Blicke nach dem Fragenden. Er sah eine hohe, breite Gestalt in der Uniform eines Polizeicommissärs vor sich. Mit leeren Augen, als ob er noch immer geistesabwesend wäre, starrte er dem Frager in sein rothes Gesicht. Dann entdeckte er, daß noch zwei Polizeisoldaten hinter dem Commissäre standen.

»Sie wissen doch, was sich begeben hat«, sagte der Commissär auf's neue. Der Kranke nickte mit dem Kopfe. »Wer hat es Ihnen gesagt?« fragte der Polizeimann rasch.

»Gesagt?« erwiderte Nik mit leiser Stimme, »ich habe es selbst gesehen.«

»Was haben Sie gesehen?« Nik schwieg, und es schien ihn ein Schauder zu überlaufen.

»Warum antworten Sie nicht? Seien Sie offen!« sagte der Commissär streng.

Nik suchte den Krampf, der ihm die Zunge lähmte, zu überwinden, dann sagte er leise: »Zuerst sah ich es im Garten ... da kam es zuerst; dann folgte es mir hierher. Als ich das Fenster schließen wollte, stand sie mir gegenüber mit ausgebreiteten Armen und wollte mich umarmen. Dann wurde es dunkel.« Der Arzt und der Commissär sahen sich verwundert an.

»Wer wollte Sie umarmen?« fragte der Geheimrath. Nik schaute den alten Arzt starr an. Dann sagte er: »Die Brunnenfrau.«

»Der nächtliche Kampf und die Gewissensbisse haben ihm die Sinne zerrüttet«, flüsterte der Commissär dem Arzte zu.

»Sind Sie sicher, daß er der Thäter ist?« erwiderte dieser eben so leise.

»Wie können Sie zweifeln?« erwiderte der Beamte. »Er hat Wunden an den Händen und im Gesichte. Die Kleider selbst zeigen, wie der Vater sich gewehrt hat. Bei dem Nahen der Polizei fällt er in Ohnmacht, noch ehe ihn irgend Jemand beschuldigt. Die Blutspuren reichen bis an seine Thüre.«

»Aber sie hören dort auf«, sagte der Arzt, indem er seine Dose herauszog und eine Prise nahm, wobei er den Polizeimann mit selbstgefälligem Zwinkern der Augen schlau ansah.

»Natürlich reinigte er sich«, erwiderte der Commissär, »ehe er seine eigene Stube betrat. Er wird die Stiefel unter der Thüre ausgezogen haben. Was ihn verdächtig machen konnte, vergrub er im Garten, denn daß er dort gearbeitet, zeigen seine Kleider.«

»Aber was sollte er dort arbeiten?« fragte der Arzt.

»Die Sache ist ja völlig klar«, erwiderte der Commissär mit einer Handbewegung, als ob sich Alles ganz von selbst verstehe. »Der junge Mann, der mit dem Vater schlecht stand, und wie mir der Diener Müller sagte, unlängst sogar in großer Gesellschaft von ihm geohrfeigt wurde, der sich zudem stets in Geldverlegenheiten befand, wollte den Geldbrief, der gestern ankam, heimlich an sich nehmen. Bereits hatte er den Geldschrank geöffnet, als der Vater erwachte. Nun entspann sich ein Kampf. Er würgte den Vater bis er ihn am Boden hatte, und dann stieß er ihm ein Messer, oder einen Dolch, oder sonst ein scharfes Instrument in den Hals. Die Wunde ist halb geschnitten, wie mit einem Rebmesser. Der Baron folgte ihm noch bis zum zweiten Zimmer, dort brach er zusammen. Nachdem der Mörder die tausend Thaler an sich genommen, kehrte er in sein Zimmer zurück, reinigte sich, und vergrub das Geld, vielleicht auch die blutigen Kleider oder dergleichen im Garten. Hier ruhte er dann aus.« Der Commissär deutete nach dem Lehnstuhle, um welchen rings die Spuren von Nik's Füßen sichtbar waren. »Sein Bett, wie Sie sehen, ist unberührt. Vermuthlich wollte er gerade seine bei den Erdarbeiten beschmutzte und im Kampfe mit dem Vater zerrissene Kleidung wechseln, als er uns eintreten hörte, und von seinem bösen Gewissen übermannt ward.«

Die Unterhaltung war flüsternd geführt worden, so daß Nik nur wenige Worte verstand.

»Ist meinem Vater etwas zugestoßen?« fragte er jetzt tonlos, da er noch immer sich das Gebahren der Anwesenden nicht zu deuten wußte.

»Sie wissen doch«, erwiderte der Arzt, indem er Nik scharf ansah, »daß Ihr Herr Vater in dieser Nacht ermordet wurde.« Nik fuhr todtenbleich von seinem Sitze empor und stieß einen gellenden Schrei aus. Seine Augen schienen aus dem Kopfe zu treten, dann hielt er beide Hände vor sein Angesicht und rief in herzbrechendem Tone: »Oh, ich Elender, ich Elender!« Von tiefer Reue, wie es schien, übermannt, sank er dann kraftlos in den Divan zurück.

Der Geheimrath wollte ihm beispringen, aber der Commissär trat dazwischen.

»Er hat gestanden«, sagte er, »so gut als gestanden, und ich muß nun jeden Verkehr mit Dritten abschneiden.«

»Bitte, bitte«, erwiderte der Geheimrath, »hier waltet noch ein wesentlicher Irrthum ob. Gethan hat er es freilich, das gebe ich nunmehr gleichfalls zu, aber der Ausgang des Kampfes war ihm unbekannt. Sie sahen seine Bestürzung. Er wußte nicht, daß sein Vater todt ist. Was also folgt daraus?« und er sah den Polizeimann mit überlegener Miene an. Als dieser schwieg, sagte er mit selbstzufriedenem Lächeln: »Er handelte im Delirium. Der junge Mann ist ein Trinker und zugleich von nervöser Constitution. In Folge des Uebergenusses von Alkohol verfiel er in Raserei, und in diesem besinnungslosen Zustande beging er die That.«

»Kann auch sein«, erwiderte der Commissär kurz, »das Alles kann später ermittelt werden, für jetzt werden wir uns des sauberen, jungen Herrn versichern.« Und indem er den Arzt unhöflich bei Seite schob, fragte er seinen Sergeanten: »Ist der Wagen bereit?«

»Zu Befehl«, war die Antwort. Die beiden Beamten faßten nun den noch immer halb ohnmächtigen Nik unter den Armen und führten ihn hinaus auf die Flur. Eine gegenüberliegende Thüre stand offen, und man sah auf einem Tische die Leiche des Barons. Der Commissär machte ein Zeichen, zu halten, und beobachtete scharf, welchen Eindruck der grauenhafte Anblick auf den Gefangenen mache. Das fahle Gesicht des Ermordeten war in furchtbarem Todeskampfe verzogen, das Auge starrte weit offen nach der Decke, das Hemd war über Schulter und Arm vom Blute schwarz.

Wie fragend richteten sich alle Augen auf das verstörte Angesicht des Sohnes. Aber Nik schien diesem grauenhaften Bilde gegenüber stumpf und empfindungslos. Eine völlige geistige und körperliche Erschöpfung war über ihn gekommen. Ruhig ließ er sich die Treppe hinab nach dem Wagen geleiten, der ihn rasch nach der Stadt entführte.

Eine Stunde lang lagerte die tiefste Stille über dem Schlosse, denn alle Insassen waren stumm, und keiner wagte laut aufzutreten, als fürchte er, den Tobten in seinem Schlafe zu stören. Bald aber wurde es um so lauter und belebter. Kaum hatte sich in der Stadt die Nachricht verbreitet, daß der Baron von Altenbrück am frühen Morgen in seinem Blute schwimmend in dem Besuchszimmer aufgefunden worden sei, so erschienen dutzendweise die Boten der befreundeten Familien, die sich vorsichtig nach dem Befinden der gnädigen Herrschaft erkundigen sollten, oder erröthend fragten, ob Alles wohl sei? Meist empfing sie der rothe Johann, der in dem Tone eines Kastellans, welcher dieselben Merkwürdigkeiten seines Schlosses schon hundertmal vorgezeigt und erklärt hat, den Fragenden erzählte, daß er am Morgen die Kleider des gnädigen Herrn zur gewohnten Stunde habe holen wollen, aber die Thüre verschlossen fand. »Nun«, fuhr er dann in weinerlichem Tone fort, »ich dachte, der Herr' wird in den Garten gegangen sein, denn ein großer Blumenfreund war er all' seine Tage, und wenn er etwas Neues gepflanzt hatte, ging er oft schon am frühen Morgen im Schlafrock und den Filzschuhen in den Park, um zu sehen, ob das Bäumchen gedeihe. Wie ich nun über die Brücke gehe, die über den Zwinger führt, sehe ich durch das Fenster im Salon etwas Weißes auf dem Boden liegen, was dahin nicht gehörte, und wie ich näher zusehe, Sie können denken, wie ich erschrak, war es der Baron, der flach an der Erde liegt. ›Karl! Wilhelm!‹ rufe ich, ›den Herrn Baron hat der Schlag gerührt‹, denn wer denkt an einen Mord, wenn man selbst kein Mörder ist. Es steht ja geschrieben: ›wer Blut vergießt, dessen Blut soll vergossen werden‹. Die Anderen meinen, ich sei nicht bei Sinnen, weil ich verlange, sie sollten die Leiter bringen, wir müßten durch's Fenster einsteigen, weil Alles von innen verschlossen war. Ich hole also selbst die Leiter, die Anderen folgen mir, und ich steige nach dem Fenster hinauf und schlage die Scheibe ein, um zu öffnen. Ein Glück war es, daß ich mich dabei nicht schnitt und blutig machte, denn sonst hätte ich ja selbst in Verdacht kommen können. Aber wer denkt an so etwas in einem solchen Augenblicke. Kurz, ich steige ein, und die zwei Anderen hinter mir. Da sah ich denn, daß mein lieber Herr am Boden lag und hatte einen Stich im Halse, von einem Dolche, wie ihn die vornehmen Leute zu tragen pflegen. Der Geldschrank stand offen, wo viele Hunderttausende zu liegen pflegen, ein Stuhl war umgefallen, eine Fensterrosette lag an der Erde, als ob man da gekämpft hätte. In den Teppich hatten sie sich verwickelt, und da war der Herr zu Fall gekommen, und so war es geschehen, das sah man. Die Anderen wollten nun gleich den jungen Herrn holen, aber seine Thüre war verschlossen. ›Halt‹, sage ich, ›wenn all unser Laufen und Wehklagen ihn nicht von selbst herbeizieht, so ist da etwas nicht in Ordnung!‹ Der Kutscher aber läuft zu der anderen Thüre und will die aufschließen. Nun aber trat ich dazwischen und sagte: hier bleibt Alles, wie es ist, bis die Polizei da war. Wer hier etwas ändert, der macht sich selbst verdächtig. Das sahen denn auch die Anderen ein. Wir kehren also alle auf demselben Wege zurück, wie wir gekommen. Der Wilhelm bleibt im Hause, um es zunächst der Schwester der gnädigen Frau zu melden, was geschehen ist, der Kutscher läuft zum Arzte, und ich, so schnell mich meine Füße tragen, zum Polizeibureau. Der Commissär ging denn auch sofort mit mir. Das ist ein sehr geschickter Mann. Er rieth gleich auf den Rechten. Wir steigen also alle wieder durch das Fenster ein, und der Herr Commissarius constatirt sofort, daß alle Thüren von innen geschlossen sind, nur die des jungen Herrn von außen. Da überlief mich denn ein Schauder, wie ich sah, daß der Sohn den eigenen Vater getödtet hatte. Ich ging nicht mit hinein, das konnte ich nicht mit ansehen. Der junge Herr aber fiel in Ohnmacht, sobald er die Polizei erblickte. Und wie sah er aus, mit Wunden an den Händen und im Gesicht, und besudelt mit Blut, mit dem Blute seines leiblichen Vaters! Es ist schwer zu sagen für einen treuen Dienstboten, aber was wahr ist, ist wahr. Mit Absicht hat er es nicht gethan, sondern, wie der Herr Medizinalrath sagt, im Delirium. Warum trank er auch so viel, daß der Branntweinteufel über ihn kam! Nun, da haben sie ihn denn gleich mitgenommen, und nun sitzt er und das von Rechts wegen, denn es steht geschrieben: ›Du sollst Vater und Mutter ehren, damit du lange lebest in dem Lande, das dir der Herr dein Gott gibt‹. Und das gilt nicht nur für die alten Juden, sondern auch für die jungen Freiherrn.« Für einen treuen Dienstboten sei das eine schwere Sache, pflegte er dann zu wiederholen, aber es könnte mancher daraus lernen, wie vergänglich die Erdengüter seien, denen der junge Mann nachgetrachtet, denn er habe seinen Vater offenbar bestehlen wollen, um mit dem Gelde nach Amerika zu gehen.

Der rothe Müller betete diese Geschichte herunter wie eine Litanei, die er wörtlich auswendig wußte, und es war merkwürdig, zu sehen, wie seine Augen während seiner Erzählung unruhig hin und her gingen, als ob sie in den Zimmern umherspähten, ob etwa noch irgend eine Spur des Verbrechens aufzufinden sei.

»Ein fataler Kerl«, dachte Mancher, der ihn so reden hörte, »man könnte denken, er selbst sei der Mörder, so scheu stehen ihm die Augen im Gesichte.«

Während so Johann Müller plötzlich die Hauptperson im Schlosse geworden war, die den Polizeileuten Bescheid sagte, die Besuche empfing, und die Neugierigen abwies, lag die Herrin des Hauses in Krämpfen auf ihrem Bette, niedergeschmettert von dem Blitze, der sie von heiterem Himmel getroffen hatte. Ihr erstes Wort, als ihr ihre Schwester vorsichtig am frühen Morgen mittheilte, daß ein schweres Unglück ihren Gemahl betroffen habe, war der Ruf gewesen: »Nik soll kommen, wo ist Nik?«

Tante Klara hatte sich darauf hinaus begeben, um ihren Neffen zu suchen, aber wie eine Wahnsinnige stürzte sie nach einer Weile wieder in die Stube und rief: »Soeben verhaften sie Nik! Er hat es gethan, oh, welch' ein Gräuel, welche Schande!«

Das war zu viel für die schwache Frau. Sie fiel in heftige Krämpfe, und während ihre Kammerfrau und ihre Schwester sich um sie bemühten, rief sie fortwährend: »Oh, warum hat er ihn auch in's Gesicht geschlagen? Was brauchte er ihn zu schlagen vor allen Leuten. Ach, mein armes, armes Kind!«

Ihre Schwester dachte für sich, sie wisse, warum Alles so habe kommen müssen. Sie hatte es stets gesagt, daß die falsche Stellung, in die Cäcilie sich hatte drängen lassen, schließlich sich rächen werde. Den armen Nik haßte sie, seit er auf ihr Heirathsproject nicht eingegangen war, und ihre Herzensmeinung war, daß nach dein Benehmen, das ihr Neffe seit Jahren angenommen, man auch über diese Unthat sich kaum mehr wundern dürfe. Unter solchen Umständen fand sie es sehr selbstverleugnend von sich, daß sie diese Gedanken, angesichts des Jammers, den sie hier vor sich sah, vorläufig in ihrem jungfräulichen Busen verschloß. Fräulein Valentine dagegen ließ sich bei der unglücklichen Tante überhaupt nicht blicken. In aller Stille reiste sie ab, um nicht, wie sie sich ausdrückte, in den Skandal verwickelt zu werden. Der Pfarrer und die Dienstboten mußten die nöthigsten Anordnungen treffen, bis endlich die verschiedenen Freundinnen der Baronin eintrafen und die Ordnung im Hause wieder herstellten.

Endlich gab das Gericht auch die Erlaubniß, die Bestattung des Todten vorzunehmen, nachdem die Leiche zuvor nochmals einer genauen Besichtigung unterworfen worden war. Das Trauergefolge war eng beisammen. Die auswärtigen Verwandten hatten sich entschuldigt, und von den Bekannten in der Stadt lud die Baronin nur die Nächsten ein. Sie selbst aber schloß sich von der Feier aus. Sie zürnte dem Todten, in dem sie den Feind ihres einzigen Kindes sah, nicht dem Sohne, der nur in Geistesverwirrung gehandelt haben konnte.

Nicht einmal den Geistlichen wollte sie empfangen Er hatte ihr ja stets Unrecht gegeben, hatte sich stets auf die Seite ihres Mannes geschlagen und es befürwortet, daß man Nik in schlechte Gesellschaft bringen müsse. Das waren nun die Früchte seines Systems; jetzt, da sie elend und krank war, wollte sie wenigstens mit seinem verhaßten Zuspruch verschont bleiben. In warme Decken gehüllt, kauerte sie in ihrem Lehnstuhle in ihrer Stube und hörte so durch die Thüre die mächtige Stimme des Predigers und die monotonen Formeln des Gebets. Sie seufzte, daß der alte Herr gar kein Ende finden könne, und Alles so in die Länge ziehe. Endlich rauschten die Schritte des Leichengefolges auf der Treppe. Sie hörte, wie man den Sarg in den Wagen schob, und die Thüre desselben zuschlug. Langsam und feierlich bewegte sich der Leichenzug an ihren Fenstern vorüber, während sie ihm mit starren, thränenlosen Blicken nachschaute.

Nun erschienen auch die in tiefe Trauer gehüllten Freundinnen, vor Allem Klara und Friederike mit verweinten Augen und gerötheten Gesichtern. Sie erzählten, daß der greise Pastor sich sehr seltsam benommen habe. Er hatte in seiner Rede gebetet, Gott möge das Geheimniß dieser dunkeln Nacht erhellen, und das steinerne Herz des Thäters erweichen, daß er nicht einen Unschuldigen büßen lasse für seine Schuld. Er möge die Zunge der Zeugen lösen, daß jeder ohne Menschenfurcht bekenne, was er wisse, und was ihm aufgefallen, und dem Verbrecher den fest geschlossenen Mund aufbrechen, daß er sich verrathe wider Willen. Dabei habe er die Dienerschaft, die an der Thüre beisammen stand, so strafend angeschaut und fortwährend zu ihr gesprochen, so daß die Leute ganz verwunderte Blicke gewechselt hätten. Namentlich der redliche Johann habe erhitzt und zornig ausgesehen, als ob ihn die taktlose Rede entrüste. Auch das fanden die tröstenden Freundinnen merkwürdig, daß der Pfarrer vor der Beerdigung in das Gärtnerhäuschen gegangen sei, und bei der Blinden so lange verweilt habe, daß man nach ihm schicken mußte, weil die Versammlung auf ihn wartete. Dort habe man ihn wohl auf so seltsame Gedanken gebracht, denn die Glimms behaupteten noch heute, selbst wenn Nik den Mord gestehe, habe er ihn dennoch nicht verübt, er sei dessen gar nicht fähig.

Die bleichen Lippen der Mutter bebten, und sie sagte leise: »Ach, und wäre es denn nicht möglich, daß sie Recht hätten?«

»Aber Cäcilie!« rief ihre Schwester, und ihre Augen quollen mit einem bösen Ausdruck aus dem Gesichte, während die dicke Friederike mitleidig den Kopf wiegte. Die unglückliche Mutter aber verbarg ihr Gesicht in dem Spitzentuche und weinte auf's neue.

Während die Frauen so in warmer Stube der Wittwe ein schwächliches Mitleid zollten, stand draußen auf dem herbstlichen Friedhofe der Sarg des Ermordeten über dem geöffneten Grabe, das vielleicht für immer über dem blutigen Geheimniß sich schloß. Traurig und trostlos sah hier Alles aus. Der Herbstwind trieb in kurzen Stößen die dürren Blätter über die Gräber, die Todtenkränze rauschten an den Grabsteinen, und zuweilen löste sich einer von seinem Kreuze und flog mit seinen schwarzen Bändern gleich einem Gespenste durch die Luft, bis er an der Ecke der Mauer neben der Thüre auf den kleinen Kindergräbern liegen blieb. Der Sturm heulte und stöhnte, und die theilnahmlos umherstehenden Bekannten des wenig beliebten Abgeschiedenen hielten mit den Händen Hut und Mantel fest, und dachten nur an baldiges Abkommen von dieser unerfreulichen Stätte. Fröstelnd standen sie auf den schweren, übermächtigen Granitplatten, die dafür gelegt schienen, damit die begrabenen reichen Leute nur ja drunten blieben und nicht wieder heraufkämen, um ihre Erben im Genusse ihrer Güter zu stören. Selbst die gewaltigen Rittergestalten, die von den alten, in die Dorfmauer eingefügten Grabsteinen dem trübseligen Schauspiele zusahen, schienen die Vergänglichkeit alles Erdenglanzes zu predigen, und ihre Hünengestalten spotteten der kümmerlichen Reste des Enkels, der hier bestattet ward, und der ihnen kaum zur Schulter reichte, falls er sich aus dem kleinen Sarge erhob. Wohin auch die anwesenden Freunde dieses ruhmvollen Hauses ihre Gedanken lenken mochten, es war Alles trüb und trostlos. Der letzte Sproß dieses alten Geschlechtes saß, während man hier den Vater beisetzte, verwirrten Geistes hinter Kerkermauern, des Mordes beklagt, und die kränkliche, verbitterte Wittwe im Schlosse grollte dem Todten, daß er den Sohn so weit gebracht, und sie der Stütze ihres Alters beraubt habe. Sollte da der Sturm nicht heulen und die Todtenkränze von ihren Kreuzen zerren! Nun aber erhob der greise Prediger noch einmal seine Stimme zu dem Gebete: »Herr, sende Licht in unsere Finsterniß!« Die Stimmung der Ungeduldigen wurde ruhiger, selbst der Wind legte sich, und als der Prediger den Segen sprach: »Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über Euch, und gebe Euch seinen Frieden«, da brach durch das trübe Gewölke des Herbsthimmels ein Lichtstrahl, und nachdenklich, unter flüsternden Gesprächen kehrten die Teilnehmer zu den Wagen zurück, die sie in raschem Trab nach der Stadt entführten.

Nur der alte Pfarrer schritt von dem ländlichen Friedhofe wieder dem Schlosse zu, aber nicht die Wittwe suchte er auf, die ihre egoistische Verbitterung für Trauer hielt, sondern zum Gärtnerhäuschen wendete er den Schritt, überzeugt, daß ihm dort manches Räthsel gelöst werden könne.

Elfriede saß mit der Mutter allein, als der Pfarrer eintrat, denn Vater und Bruder hielten trotz Wind und Kälte draußen auf dem Kirchhofe aus, um die letzte Scholle auf den Sarg des armen, reichen Mannes zu werfen, mit dem ernst gemeinten Gebete, daß ihm die Erde leicht sein möge, nachdem ihm das Leben so schwer gewesen war. Vater Glimm trug es dem Todten nicht nach, daß er eine mehr als dreißigjährige Arbeit ihm mit Undank gelohnt hatte, sondern nahm bewegten Herzens von dem Grabe seines unglücklichen Herrn Abschied.

Der greise Pfarrherr setzte sich einstweilen am Fenster bei Elfrieden nieder, die auf ihrem Schemel kauerte, während sie ihr blondes Köpfchen traurig an ihre Harfe lehnte. Sie sah bleich und niedergeschlagen aus, und hatte verweinte Augen. »Glaube, mein Kind«, sagte der Prediger, indem er freundlich ihre schlaff herabhängende Hand ergriff, »daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen. Wenn der junge Mann unschuldig ist, so wird diese Prüfung ihn zur Besinnung bringen, daß er seinem lasterhaften Treiben entsagt. Es war eine harte Schule, aber sie that noth. Der liebe Gott muß in einer kurzen Leidenszeit nachholen, was die vornehmen Eltern in langen Jahren an dem armen Jungen versäumt haben. Wenn man so sieht, wie eine Familie nach der andern ihre Kinder zu Grunde richtet, so begreift man die Blindheit dieser Leute nicht. Aber sie meinen immer, reich sein sei Alles.«

Während dieser Worte traten der alte Glimm und Fritz ein. »Ich traute dem jungen Herrn nie viel Gutes zu«, nahm der Gärtner das Wort. »Ich kann ihm nicht vergessen, daß er mir immer die Knospen von den Nadelhölzern abpflückte, und keine Liebe hatte weder zu einem Menschen noch zu einem Thiere, aber das Alles hat er von dem Rothen gelernt, und wenn ich dem in seine unsteten Diebsaugen sehe, so will es mich immer bedünken, als ob er mehr wisse als er sagt.«

»Er ist auch schon dreimal vernommen worden«, fügte Fritz hinzu, »und wir wunderten uns immer, wenn er wieder zurück kam und dann den Kopf plötzlich wieder hoch trug. Es wäre besser, wenn sie ihn dort behielten.«

»Wie kommst Du auf den Verdacht«, fragte der Prediger, indem er über seine silberne Brille hinweg Fritz einen prüfenden Blick zuwarf. »Habt Ihr irgend etwas wahrgenommen?«

»Er verkehrte wieder viel mit Nik in der letzten Zeit«, sagte Elfriede, die mit einem rührenden Ausdruck von hülfloser Trauer ihr verweintes Gesichtchen zu dem Greise erhob. »Ich hörte beide mehrmals in der Ferne eifrig sprechen, Müller frech und drohend, so daß ich seine Stimme zuerst gar nicht wiedererkannte, Nik bittend, fast weinerlich. Wenn Nik Böses gethan hat, so hat ihn Müller dazu verführt«, schloß die Blinde ihre Rede mit großer Energie, und ihre Augen nahmen den unruhigen, flirrenden Glanz an, der immer in ihnen aufleuchtete, wenn sie tief erregt war.

»Noch ein Anderes will mir nicht aus dem Kopfe«, sagte nun der alte Glimm. »Vor drei Wochen kam ich in das Portierhäuschen, um die Zeitungen für den Baron zu holen, die der Rothe nicht gebracht hatte. Da sah ich Gedrucktes hinter einem Brette und zog es hervor, weil ich dachte, es seien die Journale, aber es waren vier Schriften über Amerika und ein Tarif für die Dampferverbindungen mit New York. Hm, dachte ich, wenn der nach Amerika will, muß man seine silbernen Löffel zählen, denn der geht nicht ohne ein Andenken. Und wozu versteckte er die Schriften und redete mit keiner Seele davon, daß er auswandern wolle, wenn er nicht etwas Geheimes im Schilde führte? Deshalb will mir's nicht aus dem Sinne, daß Müller mehr weiß von den tausend Thalern als der junge Baron, der keinen Grund hatte, seinen Vater umzubringen wegen des bischen Geldes. Der Rothe aber kann nicht nach Amerika ohne Reisegeld. Woher sollte er es aber nehmen, da die Löhne bei dem Herrn Baron nicht groß sind?«

Die Blinde saß mit bleichem Angesichte da und verschlang jedes Wort, das der Vater sagte. »Bitte, retten Sie ihn", flehte sie dann zu dem alten Pfarrer. »Sprechen Sie mit dem Richter. Ich begreife nicht, daß Fritz so wenig Glauben an Nik's Unschuld hat."

Der Pfarrer, dessen weiße Haare im Lichte des Fensters silbern erglänzten, strich ihr tröstend und beruhigend über ihr blondes Haupt. Aber er erwiderte nichts. Er blickte nur nach Fritz hinüber. Dieser hatte dem Gespräche schweigend und mit bekümmerter Miene zugehört, jetzt aber nahm auch er das Wort und sagte: »Wenn ich es mir recht überlege, so hatte Nik weder den Muth, noch die Kraft zu der furchtbaren That. Er mag auf räthselhafte Weise in die Sache verwickelt sein, das fürchte ich allerdings, denn die Zerrüttung seines Geistes deutet auf irgend einen schrecklichen Eindruck hin, der ihn völlig zerschmettert hat. Aber als ich ihn wenige Stunden vor dem traurigen Ereigniß im Garten sprach, machte er mir einen gedrückten, niedergeschlagenen Eindruck, den eines Knaben, der Alles über sich ergehen läßt, nicht den eines Mannes, der zu Allem entschlössen ist. Mit Johann ist das anders. Er war in den letzten Tagen stets erhitzt und aufgeregt. Er wußte sofort, durch welches Fenster man die Leiche des Barons sehen könne. Statt den Sohn zu wecken und durch dessen Zimmer einzutreten, zieht er es vor, die Dienerschaft beizuziehen und unter dem Vorwande, daß alle Thüren von innen verschlossen seien, durch's Fenster einzusteigen. Ein Beweis, wie sehr er Nik's Anblick scheute, sonst hätte er sich erst verlässigt, ob der Durchgang von Nik's Stube her nicht frei sei. ehe er die Scheiben einschlug. Dann läuft er selbst zur Polizei, und schwatzt dem Commissär die Ohren voll, so daß dieser mit einer völlig abgeschlossenen Ueberzeugung an die Untersuchung herantritt. Er hütete sich aber wohl, in das Zimmer von Nik mit einzutreten. Natürlich, Nik hätte ja auf ihn deuten können und rufen: ›Der ist der Mörder!‹ Denn daß Nik von der Sache wußte, ist nach der Erzählung des Medizinalraths leider sicher.«

Der Pfarrer nickte zustimmend mit dem Haupte; Niemand redete, denn Alle dachten still darüber nach, was wohl zu thun sei. Wie in tiefen Gedanken verloren, griff die Blinde leise Akkorde auf ihrer Harfe, während der alte Pfarrer seine Brille abnahm und sie sorgsam reinigte. Endlich erhob sich Elfriede und sagte: »Fritz, Du mußt zu dem Richter und ihm das Alles vortragen. Du mußt auch Nik sprechen, Dir wird er sagen, was er Anderen verschweigt. Oh, wenn sie nur mich zu ihm ließen. Ich wollte bald Licht schaffen, blind wie ich bin.«

Auch der Pfarrer stimmte bei. Fritz solle einen Versuch machen, zu dem Gefangenen durchzudringen. »Gehe, mein Sohn, ehe die Nacht anbricht«, sagte der Prediger. »Die Herren vom Gericht sind nicht allzulange auf ihrer Amtsstube zu finden.«

»Ich gehe, wie ich bin«, erwiderte Fritz, indem er seine Hand tröstend auf die Elfriedens legte. »Mir selbst drückt es auf der Seele, daß wir nur ja thun, was irgend möglich ist. Das Ende legen wir in Gottes Hände.«

Damit machte der wackere, junge Theologe sich auf den Weg. Am Thore fiel ihm auf, daß noch immer ein Schutzmann die Ausgänge bewachte, und ihn mit seinen Blicken verfolgte, als er so eilig den Weg nach der Stadt einschlug. Er aber beschleunigte seine Schritte, um noch vor Ablauf der Geschäftsstunden auf der Gerichtskanzlei einzutreffen.


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