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Fünfzehntes Kapitel

Nencio hatte wieder einmal sein Ziel erreicht. Seine fortwährenden Anspielungen blieben nicht ohne Wirkung: eines Tages reiste Alberto ab, so sehr ihn sein Onkel auch bat, noch zu bleiben. Nencio hatte sich in letzter Zeit Alberto gegenüber vollständig verändert. Seine Politik war sehr durchsichtig gewesen. Er hielt es durchaus für möglich, daß sein Vater die dreißigtausend Dukaten erhielt, und wollte nicht, daß dann in dessen Nähe ein Verwandter war, den der Greis aus ganzem Herzen liebte. Alberto war also fort, nachmittags kam jetzt wieder Nencio zu ihm. Er arbeitete neuerdings sogar mit aller Energie daran, seinen Vater zu sich in die Stadt zu holen.

»Er will, daß das Geld in sein Haus kommt«, dachte der Blinde.

Aber das sagte er nur vor sich hin; denn er hatte selbst viel zu große Sehnsucht, in der Nähe seiner Enkel zu weilen, und so überließ er es Nencio, die Erlaubnis der Inquisition zu erwirken.

Der Sohn schrieb an Castelli nach Rom. Er bat ihn, Fühlung zu nehmen, ob ein Gesuch auf Erfolg rechnen könne. Von Castelli war überraschend schnell Antwort da: beim Santo Offizio habe man ihm erwidert, daß anscheinend ein Mißverständnis vorliege; denn es sei Galilei niemals verboten worden, selbst ein Gesuch einzureichen, sondern nur sich der Vermittlung einflußreicher Herren zu bedienen, die dann das Santo Offizio, die Kardinäle oder gar den Papst behelligten. Er möge also ruhig seine Bitte stellen, alles andere würde sich finden. Stolz las Nencio seinem Vater diesen Brief vor.

»Seht Ihr, mein Herr Vater, ich muß nur etwas in die Hand nehmen, und schon gelingt es.«

»Das ist tatsächlich eine ernste Wendung. Aber man scheint Castelli nicht die Wahrheit gesagt zu haben. Ich kann mich ganz deutlich an die Botschaft erinnern, die Pater Fanano brachte, am Abend bevor Celeste starb. Aber das Santo Offizio wird nichts ohne Grund sagen. Höchstwahrscheinlich ist die Zeit der Milde angebrochen. Vielleicht sind sie jetzt geneigt, Gnade walten zu lassen, und suchen eine Brücke. Nun, sieh nur zu, was du machen kannst.«

Nencio ließ sich nicht bitten. Er wollte unter allen Umständen erreichen, daß sein Vater bei ihm wohnte. Er schickte ein Gesuch an Castelli ab, in dem er bat, Galileo Galilei auf Grund des beigefügten ärztlichen Attestes die Erlaubnis zur Übersiedlung in die Stadt zu erteilen, da er sorgfältiger Pflege bedürfe. Wochen vergingen, aber es kam keine Antwort. Eines Tages aber fand sich Pater Fanano unerwartet in Arcetri ein. Er brachte auch einen Arzt mit, weil die heilige Inquisition dem eingereichten Attest keinen Glauben schenkte. Pater Fanano, der inzwischen Oberinquisitor geworden war, leitete ein förmliches Verhör ein. Als Nencio von diesem Besuch erfuhr, rieb er sich erfreut die Hände.

»Gott ist weise, es wird zu unserem Vorteil gereichen, daß Ihr so kränklich ausseht.«

Drei Wochen später traf ein Brief von der Inquisition aus Florenz ein. Fanano teilte dem Kranken kurz mit, er könne in die Stadt ziehen, müsse aber zuvor im Gebäude der Inquisition versprechen, um verschiedene Anweisungen entgegenzunehmen. Sofort ließ Galilei seine Sachen packen, bestellte eine Sänfte und ließ sich geradewegs zur Inquisition tragen. Sein Sohn half ihm, die Treppen hinaufzusteigen. Mit der einen Hand hielt er sich am Geländer fest, in der anderen hatte er einen Stock und tastete damit die Stufen ab. Als sie oben angelangt waren, schob man ihm einen Stuhl hin, auf den er sich vorsichtig niederließ.

»Gelobt sei Jesus Christus!« ertönte die Stimme Fananos in seiner unmittelbaren Nähe. »Ich habe Euch einige strenge Befehle der heiligen Inquisition mitzuteilen. Hört sie mit untertäniger Seele an. Könnt Ihr mich gut verstehen?«

»Jawohl.«

»Soviel mir bekannt, wollt Ihr zu Eurem Sohn auf die Costa San Giorgio ziehen. Ich mache Euch darauf aufmerksam, daß Ihr dieses Haus nicht verlassen dürft, ausgenommen am Osterfest, wenn Ihr die Kirche besuchen wollt. Noch wichtiger ist jedoch, daß Ihr über die verdammte kopernikanische Lehre mit niemandem sprecht. Hütet Euch, Besucher zu empfangen, die den Verdacht erwecken könnten, daß Ihr mit ihnen über diese Sachen sprechen könntet. Verstoßt Ihr gegen diesen Befehl, so steht Euch lebenslängliches Gefängnis bevor und außerdem der Bann der Kirche. Achtet also in Eurem eigenen Interesse darauf. Und jetzt geht hinaus auf den Gang, ich habe noch mit Eurem Sohn zu reden.«

Man geleitete ihn hinaus und hieß ihn sich abermals setzen. Nach wenigen Minuten kam auch Nencio; der Greis erfuhr jedoch erst zu Hause, worüber er mit Fanano gesprochen hatte.

»Der Großinquisitor hat mich beauftragt«, erklärte Nencio flüsternd, »strengstens über der Einhaltung der Befehle zu wachen. Die ganze heilige Inquisition zittert geradezu vor Furcht, daß Ihr diese Lehre weiterverbreiten könntet. Wenn wir es richtig bedenken, können wir eigentlich nur stolz sein, daß die Kirche solche Angst vor Euch hat.«

»Eine Angst, die zu spät kommt«, erwiderte der Blinde, »mein Werk liest die ganze Welt in lateinischer Sprache. Und mein neuestes Buch über die Wissenszweige muß auch jeden Tag erscheinen. Jetzt bringe mir aber meine Enkel!«

Nencio ließ den Vater gerne mit Sestilia plaudern oder mit den Kindern spielen, denn er widmete seine ganze Aufmerksamkeit der niederländischen Angelegenheit; die dreißigtausend Dukaten ließen ihm keine Ruhe. Er traf umfassende Vorsichtsmaßnahmen, daß kein Mensch irgend etwas über den Briefwechsel mit den Niederländern erfahre. Nicht einmal Sestilia gegenüber erwähnte er die Sache. Endlich kam die Nachricht, daß einer der niederländischen Gelehrten, Hortensius, unterwegs nach Italien sei, um den greisen Gelehrten persönlich zu sprechen. Nencio war die Liebe und Aufmerksamkeit selbst.

Da erschien eines Tages unerwartet und ohne vorherige Anmeldung der Oberinquisitor. Überrascht geleitete ihn Nencio zu seinem blinden Vater, der im Bett lag, weil er sich nicht wohl fühlte.

»Ich danke«, sagte der Oberinquisitor, »ich setze mich nicht erst. Was ich zu sagen habe, sind nur wenige Worte. Wir haben erfahren, daß dieses Haus ausländische Gäste erwartet.«

»Wir erwarten niemanden«, erwiderte Nencio schnell und erschrocken.

»Ich will mich darüber nicht streiten«, entgegnete der Oberinquisitor. »Ich habe meine Feststellung auf alle Fälle nach Rom gemeldet und soeben die Verfügung des Santo Offizio erhalten. Es ist meine Pflicht, dieses Edikt persönlich zu überbringen. Es lautet: wenn aus einem katholischen Lande ein katholischer Gast kommt, so könnt Ihr diesen selbstverständlich empfangen; es ist jedoch strengstens untersagt, mit jenem über die Beweglichkeit der Erde zu sprechen. Wenn der Gast aber ein Protestant ist oder auch ein Katholik aus einem protestantischen Lande, so ist es verboten, ihn zu empfangen. Die Zuwiderhandlung dieses Befehles kann die schwersten Folgen nach sich ziehen. Gelobt sei Jesus Christus!«

Der Blinde lauschte den sich entfernenden Schritten des Oberinquisitors und hörte, wie sich die Tür hinter ihm schloß. Kurz darauf kam Nencio hereingerannt, der dem Geistlichen das Geleit gegeben hatte.

»Mein Herr Vater«, rief er verzweifelt, »was war das? Jetzt sind wir zugrunde gerichtet. Woher haben die das erfahren? Es ist einfach unbegreiflich … Ich habe unverbrüchlich geschwiegen, so sehr achtgegeben … Da bleibt einem der Verstand stehen.«

»Merke dir, mein lieber Sohn, daß die Inquisition durch die Wände sehen kann. Ich wundere mich gar nicht.«

»Das ist aber doch entsetzlich! Was soll jetzt geschehen?«

Sie berieten lange. Schließlich beschloß Galilei, Hortensius nicht kommen zu lassen. Sie würden weiter brieflich verhandeln.

In Florenz lebten zwei Brüder, zwei deutsche Kaufleute namens Ebers. Sie hatten sich schon vor vielen Jahren in dieser Stadt niedergelassen und genossen allgemeine Achtung. Eines Tages besuchten ihn die beiden Brüder Ebers und erklärten, sie brächten aus deutschen Landen einen Brief und ein Geschenk für Galileo Galilei. Nencio führte sie zu seinem Vater. Der alte Mann lag im Bett; es ging ihm schlechter denn je, da man eine Arznei, die ihm verschrieben worden war, in der Apotheke verwechselt hatte und er davon eine schwere Darminfektion bekommen hatte. Der blinde Greis ächzte und stöhnte vor Schmerzen.

Die beiden Brüder Ebers stellten sich dem Blinden vor. Er reichte ihnen die Hand, und sie berichteten von dem Zweck ihres Besuches. Einer ihrer Geschäftsfreunde in Deutschland habe ihnen von einem Fremden ein Geschenk und einen Brief zukommen lassen. Nencio öffnete gierig den Brief und las ihn laut vor. Hortensius erwähnte in diesem Schreiben nichts von seinem Besuch, schrieb aber, daß er im Namen der niederländischen Regierung ein Geschenk schickte als Beweis dafür, daß die Verhandlungen günstig abgeschlossen werden könnten.

»Was ist es für ein Geschenk?« fragte Nencio aufgeregt.

Der Blinde hörte, daß man eine Schachtel aufmachte, dann vernahm er die Stimme Nencios.

»Eine Kette, eine schwere Halskette. Aus purem Golde. Herrlich! Faßt sie einmal an, mein Herr Vater, wie schwer sie ist.«

Seine Hand wog die schwere und dicke Goldkette. Er tastete die Ziselierungen mit den Fingerspitzen ab, dann das mächtige Medaillon, das am Ende der Kette hing. Wahrlich, ein fürstliches Geschenk. Sie schwiegen alle vier. In der Stille konnte man Nencios erregten Atem hören. Der Kranke dachte ein wenig nach, dann erklärte er:

»Ich danke Euch ergebenst für Eure Mühewaltung. Wollt Ihr einem todkranken und dem Tode geweihten Manne zu Diensten sein?«

Die beiden deutschen Brüder versicherten dies.

»Dann vergeßt den Inhalt dieses Briefes. Der Brief bleibt hier. Nimm ihn an dich, Nencio, und verbrenne ihn sogleich. Euch aber, meine Herren, möchte ich bitten, Eurem Auftraggeber zu melden, daß ich sehr krank sei und mein Ende nahen fühle. Deswegen könne ich auch nicht versprechen, die gewissen Verhandlungen in Ehren zu beenden. Deshalb nehme ich auch die Kette nicht an. Schickt sie bitte Eurem Auftraggeber wieder zurück.«

»Aber mein Herr Vater!« rief Nencio entsetzt.

»Schickt sie zurück!« wiederholte der Greis mit erhobener Stimme.

Die Brüder nahmen sie ihm ab, erkundigten sich noch höflich nach seinem Befinden und verabschiedeten sich dann.

»Mein Herr Vater«, rief Nencio außer sich, »was habt Ihr getan? Wißt Ihr, was diese Kette wert war? Ein ganzes Vermögen. Wir hätten die Deutschen bitten können zu schweigen. Es sind zuverlässige Leute, sie hätten bestimmt geschwiegen. Denkt Ihr denn nie an Eure Enkelkinder? So ein sträflicher Leichtsinn ist mir noch nie vorgekommen.«

»Es war genug«, sagte der Kranke laut, »ich habe Schluß gemacht. Die ganze niederländische Angelegenheit ist für immer abgetan.«

»Abgetan?« schrie der Sohn entsetzt.

»Begreife endlich, daß ich mich sehr schlecht fühle, ich leide unsäglich. Wenn plötzlich Hortensius hier eintreten würde, würde ich ebenso reden. Jetzt laß mich ruhen, ich bin einer Ohnmacht nahe.«

Nencio ging aus dem Zimmer und schlug die Tür krachend hinter sich zu. Von diesem Tage an trug er eine abweisende Kälte gegen seinen Vater zur Schau. Nur hin und wieder ging er zu ihm hinein, um dessen Post zu erledigen. Die Kinder rief er aus dem Krankenzimmer und befahl sie an die frische Luft. Eine kalte Gleichgültigkeit löste die liebenswürdige Pflege ab, die er ihm zuvor hatte angedeihen lassen. Fast immer saß der Kranke nun ganz allein in seinem Zimmer. Wenn er darum bat, man möge ihm ein wenig vorlesen, so hatte meistens niemand Zeit dazu. Weder sein Leid noch seine Freude konnte er mit jemandem teilen. Bei den Elzevier war inzwischen sein neues Buch erschienen. Auf Umwegen hatte er sogar ein Exemplar erhalten. Lange hielt er es in der Hand, betastete es und versuchte, sich sein Äußeres vorzustellen. Er schlug es auf und fuhr mit den Fingerspitzen, zärtlich über die Buchstaben. Er sehnte sich unbändig danach, daß ihm jemand etwas daraus vorlesen möge. Er wollte sich an seinen eigenen Gedanken ergötzen, er wollte dieses Buch liebhaben. Aber Nencio hatte ständig außer dem Hause zu tun, und Sestilia war stets mit den Kindern beschäftigt. Kurze Zeit nach dem Besuche der beiden Brüder Ebers erschien abermals der Oberinquisitor Pater Fanano. Diesmal nahm er die Aufforderung an und setzte sich neben dem Krankenbett hin.

»Ich bin genauestens unterrichtet«, sagte er, »daß Ihr jenes Geschenk zurückgewiesen habt, daß Euch die Regierung eines ketzerischen Landes geschickt hat.«

»Bewunderungswürdig«, entfuhr es den Lippen des Kranken, »woher habt Ihr das erfahren?«

»Das ist ohne Bedeutung. Ich habe die Angelegenheit jedenfalls nach Rom gemeldet, und Euer Verhalten hat dort einen recht guten Eindruck erweckt. Seine Heiligkeit haben selbst befohlen, ich möge Euer Gnaden mitteilen, daß Seine Heiligkeit der Papst Euer Verhalten mit allerhöchster Zufriedenheit zur Kenntnis genommen habe. Ich richte dies hiermit aus und erlaube mir, zu dieser seltenen Gnade Seiner Heiligkeit meine besten Glückwünsche auszusprechen.«

»Herzlichen Dank, Hochwürden. Und da die heilige Inquisition eine so gute Meinung von mir hat, möchte ich gleich um etwas bitten. Laßt mich zurück nach Arcetri. Mir kann kein Arzt mehr helfen, ich möchte dort sterben.«

»Sehr wohl, ich nehme den Wunsch Euer Gnaden zur Kenntnis. Ich werde ihn nach Rom berichten und Euch dann Bescheid zukommen lassen.«

Fanano ging. Anscheinend hatte er sogleich nach Rom geschrieben; denn kurze Zeit darauf war aus Rom schon eine neue Verfügung da, in der als Aufenthaltsort für den Gefangenen die Ortschaft Arcetri bestimmt wurde. Nencio verhehlte seine Erleichterung nicht im geringsten.

»Leider, mein Herr Vater, machen uns die drei Kinder so viel zu schaffen, daß wir Euch hier gar nicht ordentlich pflegen können, wie es Euch gebührt. Porzia kann das viel besser. Wegen der Briefe seid unbesorgt, ich werde die Nachmittage wieder bei Euch verbringen. Wann wollt Ihr umziehen?«

»Jetzt gleich. Sobald du eine Sänfte besorgt hast.«

Am anderen Tage war er schon wieder in Arcetri in seiner Villa. Die Darmverstimmung war im Abflauen. Er litt keine so großen Schmerzen mehr, aber aufstehen konnte er noch immer nicht. Es war, als ob ihn eine Betäubung überfallen hätte, er kümmerte sich um nichts, lag nur untätig da, und weil auch kein Schlaf in seine Augen kam, verbrachte er die ganze Zeit in einer Art Dämmerzustand. Nencio kam, um Briefe zu erledigen, aber er hatte nicht einmal mehr Kraft zum Diktieren.

»Ich möchte mein Testament machen«, sagte er eines Tages zu seinem Sohn, »besorge einen Notar und Zeugen. Und vereinbare mit ihnen eine Zeit, die dir angenehm ist.«

»Ich halte es für verfrüht«, erwiderte Nencio, »Ihr habt doch keinen Grund, Schlimmes zu befürchten. Wenn Ihr aber meint, jetzt Euren letzten Willen schriftlich niederlegen zu müssen, so werde ich das Nötige veranlassen. Fühlt Ihr Euch tatsächlich so schlecht?« Aus seiner Stimme klang aufrichtiger Schrecken.

Früher hätte dieser echte Ton die Gefühle des Vaters sofort beeinflußt, und er hätte sich selbst Vorwürfe gemacht, daß er seinen Sohn ungerechterweise der Lieblosigkeit bezichtigte. Das viele Leid und die unzähligen Enttäuschungen hatten ihn aber mißtrauisch gemacht: natürlich erschrak Nencio, denn wenn der Vater starb, gab es keine Pension, und die bedeutende monatliche Unterstützung, die der Sohn bislang erhalten hatte, würde auch wegfallen.

»Ich fühle mich nicht wohl, vielleicht wird es aber besser, wenn ich mich hier in dieser Einsamkeit ausruhe. Nicht einmal arbeiten will ich jetzt, du brauchst nicht zu kommen, außer wenn ich dir Nachricht zukommen lasse. Vergiß aber den Notar nicht.«

Eines Tages, im August, kam ein Gast. Schon fürchtete der Greis, daß Fanano abermals eine schlechte Nachricht brächte, aber der Besucher war nicht Fanano, sondern ein junger Ausländer aus London, der bei ihm anfragen ließ, ob er den berühmten Gelehrten nicht kennenlernen dürfe.

»Was ist er für ein Mensch?« fragte er die Haushälterin.

»Er ist sehr hübsch, etwa dreißig Jahre alt. Er hat ein feines Gesicht und teure Kleider an. Seinen Namen habe ich nicht verstanden.«

»Gut, führe ihn herein, aber sage ihm zuvor, daß ich blind bin.«

»Ich bitte ergebenst um Nachsicht, Euere Gnaden«, sagte eine weiche, sehr angenehme Stimme auf lateinisch, »ich habe nicht gewußt, daß Ihr bettlägerig seid. Obwohl ich fürchte, daß ich meine Sehnsucht, Euch kennenzulernen, auch dann nicht hätte meistern können.«

»Nehmt Platz, mit wem habe ich die Ehre?«

»Ich bin ein englischer Dichter, mein Herr. Mein Name ist zwar jetzt noch unbekannt, einst wird er aber weltberühmt sein. Ich heiße Milton, John Milton. Warum beliebt Ihr zu lächeln? Weil ich so überzeugt von mir bin? Haltet Ihr das tatsächlich für einen Fehler, bei jemandem, der begabt ist?«

»Ich halte es überhaupt nie für einen Fehler. Im Gegenteil, für ein gutes Zeichen. Als ich jung war, hatte ich auf der Universität zu Pisa den Ruf, man könne mit mir einfach nicht auskommen, so überzeugt sei ich von mir.«

Der Besucher lachte. Ein angenehmes, fröhliches Lachen.

»Darin erkenne ich mich selbst. In mein Doktordiplom schrieben meine Professoren auf der Universität zu Cambridge: ›Eine tugendhafte und nüchterne Persönlichkeit, kann jedoch nicht bezichtigt werden, seine eigenen Werke nicht zu kennen‹.«

»Herrlich!« lachte Galileo. »Wie klingt das doch auf englisch? Seit vierzig Jahren habe ich nicht mehr englisch sprechen gehört. Seit Padua, wo ich schottische Studenten hatte.«

»Gerne. › Virtuous and sober person, yet not to be ignorant of his own parts‹.«

»Es klingt sonderbar. Und mit welcher Art Dichtungen befaßt Ihr Euch, Domine Milton?«

Der junge Mann begann zu reden wie ein Buch. Er trug zwei Gedichte vor: »Auf den Tod eines blonden Kindes« und »Am Weihnachtsmorgen«. Dann berichtete er mit allen Einzelheiten über sein Schauspiel »Comus«, das im Schlosse des Grafen Bridgewater aufgeführt worden sei. Endlich trug er eine Ode vor, die auch im Druck erschienen war, und zwar in der erst kürzlich herausgekommenen zweiten Folioausgabe der Werke des größten Schauspieldichters seiner Heimat: Shakespeare.

»Wie heißt der Bühnenschriftsteller? Wie sagtet Ihr eben, Domine?«

»Shakespeare. William Shakespeare. William heißt italienisch Guglielmo.«

»Scierxpiro«, wiederholte der Greis mit italienischem Akzent, »ein sonderbarer Name. Seid Ihr schon lange auf Reisen, Domine?«

»Ende April bin ich von Hause fortgefahren. Mein erstes Ziel war Paris. Ich habe dort viele interessante Menschen kennengelernt. Zum Beispiel Hugo Grotius. Wißt Ihr vielleicht, wer das ist?«

»Natürlich weiß ich das. Seid Ihr auch einem Gelehrten namens Diodati begegnet?«

»O ja. Er hat oft von Euch gesprochen. Sein Neffe ist mein bester Freund in Cambridge gewesen. Ihr müßt nämlich wissen, daß Diodati einen Bruder in London hat, der Arzt ist, und dessen Sohn war mein Schulkamerad.«

Schon hielten sie bei den gemeinsamen Bekannten, das Gespräch begann vertraut zu werden. Der junge Mann schilderte seine Familienverhältnisse, er berichtete von den sonderbaren Gepflogenheiten des Universitätslebens in Cambridge, daß man zum Beispiel erst neuerdings die Prügelstrafe verboten habe. Er erzählte von allerlei Reiseabenteuern und von den spaßigen Fehlgriffen seines einfältigen Dieners. Die Zeit verging, ohne daß sie es merkten.

»Und was sind Eure Pläne, mein junger Freund? Was werdet Ihr beginnen, wenn Ihr nach Hause kommt? Wodurch gedenkt Ihr weltberühmt zu werden?«

»Das weiß ich noch nicht. Ich habe nur die Sehnsucht in mir, etwas ganz Großes zu schaffen. Etwas Dantesches. Ich will von Gott dem Allmächtigen künden und davon, welche Verbindung zwischen Gott und den Menschen besteht. Es schweben mir wunderschöne, edle Motive vor. Die Vorstellung von Gott hat mich immer am meisten gefesselt.«

Der junge Besucher begann von Gott zu sprechen und bald sprach er begeistert über seinen Glauben. Dann fügte er hinzu: »Als Kind wollte ich am liebsten Geistlicher werden, aber dann bin ich doch Schriftsteller geworden.«

»Ganz wie ich. Wie ich überhaupt feststellen kann, hat unser beider Katholizismus viel Gemeinsames.«

»Verzeihung«, wandte der junge Mann etwas verlegen ein, »ich bin kein Katholik. Ich bin Protestant.«

»Was Ihr nicht sagt! Natürlich, Ihr seid ja Engländer. Daran habe ich gar nicht gedacht. Wie Ihr aber von Gott sprecht, das klingt so sehr katholisch … Sonderbar …«

»Was ist sonderbar?«

»Daß der wahre Glauben keinen Unterschied zwischen den Menschen macht. Den Unterschied machen die Menschen selbst. Sie sagen: Dogmen. Und dann sagen sie auch noch: Ketzer. Sie sehen sich untereinander an, statt Gott anzusehen.«

Sie unterhielten sich noch lange. Der junge Milton war eine große Seele und ein kluger Kopf. Endlich erhob er sich mit großem Bedauern.

»Es wird dunkel, ich muß gehen.«

»Das bedaure ich aufrichtig. Seht Ihr, bei mir ist es immer gleichmäßig finster. Bewahre Euch Gott davor, mein lieber Sohn, daß Ihr in Eurem Alter erblindet.«

»Das glaube ich nicht«, lachte Milton fröhlich, »ich habe Augen wie ein Adler. Jetzt aber segnet mich, mein Herr, ich werde das Gefühl haben, Homer habe mich gesegnet.«

Galilei legte seine Hand auf das Haupt des jungen Mannes. Seidiges, gepflegtes Haar fühlte er mit seinen Fingerspitzen. Dann ging John Milton, der Ketzer. Galilei hatte wider das Gebot einen Ketzer empfangen. Er hatte gegen seinen Schwur gehandelt. Er hatte geschworen, daß er alle Ketzer verfluchen würde. Diesen hatte er gesegnet. Mochte er seinen Weg zum Weltruhm mit dem Segen eines Pilgers beginnen, der jetzt im Begriff stand, seinen irdischen Weg zu beenden.

Die Verfügung über seinen letzten Willen ging nicht ganz glatt vonstatten. Der Notar lehnte jegliche Hilfeleistung ab und berief sich auf die kirchenrechtlichen Bestimmungen, wonach die vom Santo Offizio Verurteilten über ihr Vermögen nicht mehr verfügen dürften. Hierzu sei vorerst die Genehmigung der Inquisition erforderlich. Nencio beschaffte diese Genehmigung von Pater Fanano. Am Ende des Monats endlich erschien der Notar mit Nencio in Arcetri. Als Zeugen brachten sie zwei Nachbarn mit.

»Setzt den Text auf, bitte, wie es üblich ist«, sagte der Blinde, »alles gehört meinem Sohn, nur zwei Verfügungen will ich zusätzlich treffen. Ich vermache eine lebenslängliche Rente von fünfundzwanzig Goldgulden jährlich meiner Tochter Suor Arcangela, des weiteren den drei Söhnen meines verstorbenen Bruders Michelagnolo einmalig tausend Goldgulden.«

»Wieviel?« rief Nencio entsetzt, als ob ihn ein Tier gebissen hätte.

»Tausend Gulden«, erwiderte der Greis heftig, »ich will kein Wort mehr hören.«

Das Testament wurde aufgesetzt, vorgelesen und beglaubigt. Man gab Galilei einen Gänsekiel in die Hand und führte sie an die richtige Stelle. Als Blinder unterzeichnete er sein Testament. Dann verließen ihn alle. Auch Nencio blieb nicht länger. Er küßte dem Vater nicht einmal die Hand, er grüßte nur unter der Tür stehend. Im Klang seiner Stimme lag sein ganzer Zorn.

Der Greis war noch immer bettlägerig. Sein Sohn besuchte ihn nun überhaupt nicht mehr. Er spielte den Beleidigten. Statt seiner trat eines Nachmittags unerwartet der Großherzog bei dem Gelehrten ein. Diesmal befand sich nur ein Geistlicher in seiner Begleitung, und auch diesen ließ er im Vorzimmer warten. Daß sein Besuch in einer besonderen Absicht erfolgt war, sollte sich bald herausstellen. Nachdem er sich die Klagen des Kranken angehört und auch Worte des Trostes gespendet hatte, begann er von dem eigentlichen Zweck seines Kommens zu sprechen.

»Hört einmal zu, mein Lieber. Wir haben erfahren, daß Ihr mit den Niederlanden wegen einer die Schiffahrt betreffenden Angelegenheit in Verhandlungen steht. Fragt nicht, woher ich es weiß, das ist nicht wichtig. Der Herzog Carlo, den ich zum Admiral der Flotte von Livorno ernannt habe, hat mich gebeten, von Euch in Erfahrung zu bringen, worin Eure Entdeckung besteht.«

Galilei erzählte ihm die ganze Geschichte. Der Großherzog folgte ihm aufmerksam.

»Ihr laßt also diese Angelegenheit mit den Niederlanden schwimmen und werft sozusagen die dreißigtausend Goldstücke einfach fort?«

»Ich kann nicht anders, Hoheit. Die Inquisition schleppt mich sonst in das Gefängnis von Rom. Und das Geld macht mich jetzt wirklich nicht mehr glücklich. Ich erhalte von Eurer Hoheit tausend Goldgulden jährlich, davon kann ich sehr gut leben. Ich hätte gerne meinen Enkelkindern ein Vermögen hinterlassen, aber wenn es nicht geht, dann geht es eben nicht.«

»Und was macht Ihr mit dieser Entdeckung?«

»Nichts.«

»Wir machen Euch einen Vorschlag. Wir wollen die Sache in die Hand nehmen. Vielleicht haben wir mehr Erfolg als Seine Hoheit, Unser seliger Vater. Herzog Carlo ist bereit, persönlich mit der spanischen Regierung zu verhandeln. Spanien ist ein katholisches Land, und dagegen wird die heilige Inquisition nichts einwenden können. Der Fehler ist nur, daß der Herzog nichts von Astronomie versteht, und wir auch nicht. Es müßte also jemand da sein, dem Ihr diese Angelegenheit genau erklären könntet, für den Fall, daß … wenn – möge Gott es nicht zulassen …«

»Eure Hoheit können es ruhig aussprechen. Ich habe erst vor einigen Tagen mein Testament gemacht. Kurz und gut also, es soll jemand da sein, der über die Sache Bescheid weiß, wenn ich sterbe. Da gibt es nur einen Menschen. Seit Jahren bemühe ich mich, zu erreichen, daß er mich besuchen darf, aber man läßt ihn nicht zu mir. Wenn Eure Hoheit diese Angelegenheit also interessiert, so bittet doch Seine Heiligkeit den Papst, er möge Castelli einen längeren Urlaub bewilligen und ihm die Erlaubnis erteilen, mich aufzusuchen. Ich möchte noch bemerken, daß ich meinem Vaterland diese Entdeckung selbstverständlich ohne Gegenleistung anbiete, für den Fall, daß sie überhaupt praktisch zu verwerten ist. Dieses Angebot hatte ich seinerzeit Seiner Hoheit, dem seligen Großherzog Cosimo schon gemacht, und ich möchte es jetzt wiederholen.«

Der Herrscher verbrachte zwei Stunden bei dem Kranken. Er ging mit der Versicherung fort, daß er wegen Castelli ganz Rom in Bewegung setzen würde. Galilei aber ließ sogleich seinen Sohn rufen. Er wollte mit ihm während seines kurzen Erdendaseins noch im Guten auskommen. Über die Nachricht würde er sich sicherlich freuen, daß unter Umständen aus Spanien doch noch eine Entschädigung für das ausgeschlagene niederländische Geld kommen würde. Nencio kam tatsächlich und freute sich auch.

»Wenn wir nun schon von Geld sprechen, mein Herr Vater, so kann ich Euch einen Vorwurf nicht ersparen. Ich hätte es von mir aus nicht zur Sprache gebracht, aber jetzt bietet sich ohne mein Zutun die Gelegenheit dazu. Ich meine das Testament. Ich frage Euch: wieso haben Eure armen Enkelkinder es verdient, daß Ihr sie um tausend Goldstücke kürzt? Ich habe zu Hause von dem Testament erzählt. Sestilia hat drei Tage lang geweint. Der kleine Galileo sagte fortwährend: ›Der Großvater liebt mich nicht!‹ Allerdings läßt sich nun nichts mehr ändern, das Testament ist unterschrieben, aber es schadet nichts, wenn Ihr wißt, welchen Schmerz Ihr den Meinen und Euren Enkelkindern bereitet habt.«

Galilei antwortete sehr vorsichtig. Er traute dieser gefühlvollen Rede nicht. Er lobte Alberto und hob seine Pflichten als Bruder hervor. Nencio aber rechnete ihm vor, daß, wenn sie den Nachlaß, der aus Immobilien und den Geschenken des Herzogs von Mantua bestehe, zu Gelde machten, davon sehr viel Abzüge vorgenommen werden müßten.

»Ihr habt hier und da auch einige Schulden. Und dann sollen wir auch noch tausend Goldstücke in bar auszahlen. Deswegen müssen wir also alles verkaufen. Ein schneller Verkauf bedeutet aber stets niedrige Preise. Ihr dürft auch nicht vergessen, welche Kosten mit dem Begräbnis verbunden sein werden, Verzeiht mir, darüber wollte ich eigentlich nicht sprechen. Aber was wahr ist, muß wahr bleiben. Wie soll ich denn dem kleinen Galileo klarmachen, daß ihn sein Großvater trotzdem liebt?«

»Schon gut«, erwiderte der Großvater nach einer kleinen Pause, »ich will es mir noch überlegen. Im Augenblick bin ich wirklich gespannt, ob Castelli kommt oder nicht. Und auch dich sollte das interessieren, denn das kann viel Geld bedeuten.«

Da brauchte man Nencio nicht erst gut zuzureden. Seine Besuche wurden wieder häufiger. Der Gesundheitszustand seines Vaters besserte sich ein wenig, und es gab viele Briefe zu beantworten. Eine Flut von Briefen strömte aus ganz Europa zu ihm: die berühmtesten Persönlichkeiten sandten ihm ihre Glückwünsche zum Erscheinen seines neuen Buches über die »Neuen Wissenschaften«. Sie nannten es glänzend, epochemachend, genial. Der blinde Greis freute sich unbändig über diese Anerkennungen. Die schönen Sätze, die ihm besonders gefielen, ließ er unter dem Vorwand, daß er sie nicht gut verstanden habe, noch einmal lesen und dann zum zweiten und dritten Male wiederholen, wenn er die Antwort diktierte.

Castelli durfte kommen. Man hätte meinen können, daß alles das, was der Großherzog von Toskana ernstlich erreichen wollte, gelingen müsse. Auch im Galilei-Prozeß wäre vieles anders gekommen, wenn der Großherzog aufzutreten gewagt hätte. Die Freude wurde aber wesentlich gemindert, denn Castelli kam nicht allein, sondern in Begleitung eines unbekannten Geistlichen. Es stellte sich heraus, daß das heilige Offizio eine Unterredung unter vier Augen verboten hatte. Nicht eine Minute lang war es ihnen gestattet, anders als in Anwesenheit eines Zeugen miteinander zu sprechen und auch dies nur abends eine Viertelstunde lang.

Nencio eilte an den Hof. Gereizt schrieb der Großherzog an Niccolini in Rom, was das für eine merkwürdige Erlaubnis sei: es wäre sein Staatsinteresse, daß die beiden Gelehrten eingehend über die Medici-Sterne sprächen. Castelli schrieb eigenhändig an die heilige Inquisition und schwor, daß er ganz und gar nicht beabsichtige, mit dem kranken Gefangenen über die Bewegung der Erde zu sprechen. Umsonst! Das Santo Offizio gab nicht nach. Graf Castelli, der katholische Geistliche, durfte nur in Anwesenheit eines Zeugen und auch nur eine Viertelstunde mit Galileo Galilei sprechen. Die Schifffahrtsangelegenheit erledigten sie zwar, sie hatten aber doch noch tausenderlei persönliche Dinge zu bereden. Der blinde Greis war äußerst verbittert. So war es ja noch viel schlimmer, als wenn Castelli überhaupt nicht gekommen wäre.

In seiner einsamen Gefangenschaft quälte ihn nun das Alleinsein mehr denn je. Er brauchte unter allen Umständen jemanden, mit dem er wenigstens ein gutes Wort wechseln konnte. Endlich blieb ihm nichts übrig, als sich die scheinbare Liebe seines Sohnes zu erkaufen. Er ließ den Notar abermals kommen und änderte das Testament ab. Den Söhnen Michelagnolos vermachte er nichts.

Tags darauf brachte Sestilia selbst die drei Enkelkinder. Der kleine Galileo umklammerte den Hals des Greises:

»Ich freue mich so, daß Großvater mich so lieb hat! Ich habe Euch auch sehr lieb!«

Man hörte an dem Tonfall, daß es eingelernte Worte waren. Aber Galileo, diesem blinden Bettler des Lebens, war auch das recht. Es war ihm ganz gleich, ob sie ihn wahrhaft liebten oder nicht, die Hauptsache war, sie zeigten es. Und glückselig drückte er den Knaben an sich.


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