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Papst Urban hatte das Urteil des Santo Offizio sogleich abgeändert. Es war seine Absicht gewesen, mit der Kerkerhaft den Sündigen zu erschrecken und dann zu beweisen, daß er auch gnädig sein könne und die Macht ihm gehöre. Galilei blieb zwar auch noch weiterhin in Haft, aber in der Haft des prächtigen Palastes der Gesandtschaft und ihres Gartens. Hier verbesserte sich sein körperlicher Zustand etwas, aber seine Gewissensbisse und Seelenqualen hielten noch immer an, wenn auch nicht mehr in so starkem Maße wie vordem. Jetzt hatte was er redete wenigstens wieder Zusammenhang. Niccolini befaßte sich beinahe mit nichts anderem als mit Galilei. Da er dessen Zustand sah und ernstlich befürchtete, daß der Greis den Erschütterungen erliegen könnte, suchte er von früh bis abends Kardinäle, ja sogar Inquisitoren auf, mit denen er, da die Angelegenheit inzwischen der Öffentlichkeit bekannt geworden war, nunmehr ruhig verhandeln konnte. Auch der Papst gewährte ihm eine Audienz. Er bat Seine Heiligkeit, man möge dem körperlich und seelisch gebrochenen Greis gestatten, nach Toskana zurückzukehren und seine Wohnung in Arcetri in der Nähe seiner Töchter als Ort seiner Haft bestimmen. Aber darein willigte der Papst nicht. Er entgegnete, daß die Sache sich doch nicht so schnell verlaufen könne. Der Frevler möge erst sühnen, ihm wäre sowieso schon eine außerordentliche Vergünstigung zuteil geworden. Für die Heimreise hätte er noch Zeit genug. Vorerst möge er sich mit der Erlaubnis zufriedengeben, von der Gesandtschaft aus die heilige Messe in der Kirche zu besuchen. Da warf der Gesandte die Frage auf, ob der Verurteilte nicht in Siena interniert werden könnte. Der Bischof Piccolomini würde sicherlich gerne die Aufsicht übernehmen. Dafür schien der Papst schon eher zu gewinnen. Aber er zögerte immer noch, das letzte Wort zu sprechen.
Während der Gesandte tagtäglich von einem zum anderen lief, widmete sich Frau Katharina ganz ihrem greisen, todunglücklichen Gast. Mit unendlicher Geduld und Güte versuchte sie ihn zu beruhigen. Der mit sich selbst Zerfallene erschloß ihr seine ganze Seele. Er erzählte ihr, wie furchtbar demütigend es sei, das Bewußtsein eines so ungeheuren Verrates in seiner Seele zu tragen. Er gestand ein, in der Todesangst eine ganze Reihe von Eiden gebrochen zu haben. Seine langen Geständnisse hätten kaum einen Satz enthalten, in dem er nicht gelogen hätte. Den schwersten Meineid habe er zum Schluß in der Kirche abgelegt, als er mit der Hand auf der Bibel geschworen habe, daß er diese Lehre mit aufrichtigem Herzen und Glauben verleugne. Das sei eine Lüge gewesen; denn er glaube immer noch an das, woran er sein ganzes Leben lang geglaubt habe. Er habe sich selbst in der Kirche verflucht! »So wahr mir Gott helfe«, habe er auf eine ganze Reihe von Lügen gesagt. Und auch andere Todsünden habe er begangen: im Hause des Santo Offizio habe er gebeichtet und kommuniziert, aber nicht gewagt einzugestehen, daß er einen Falscheid geleistet hatte. Als Unwürdiger habe er also die heilige Hostie zu sich genommen. Wenn er sechzig Jahre lang ein guter und wahrer Gottgläubiger gewesen sei, so habe ihn das Verfahren der Inquisition jetzt in die schwersten Sünden gedrängt. Die könne er nun nie mehr loswerden, weil er seine falschen Eide nicht zu beichten wage.
»Ein Beichtvater würde das Beichtgeheimnis niemals preisgeben«, sagte Frau Katharina sanft.
»Nein, nein«, rief er verzweifelt, »ich wage es nicht! Man würde mich verbrennen. Ich müßte doch bekennen, daß ich immer noch an mein Weltsystem glaube, das ich so schändlich und niederträchtig verraten habe. Ich glaube heute fester daran als je!«
»Quält Euch doch nicht so«, erwiderte die Frau, »was Ihr getan, habt Ihr aus Selbsterhaltungstrieb getan. In der Notwehr ist manches erlaubt, sowohl nach den göttlichen als auch nach den irdischen Gesetzen. Denkt nur, welch fürchterliche Schmerzen Ihr Celeste bereitet hättet, wenn Euch etwas zugestoßen wäre.«
»Ja, Celeste! Wie entsetzlich quält mich auch dieser Gedanke! Wie soll ich wieder mit ihr sprechen, wie soll ich ihr in die Augen sehen? Wenn sie erfährt, wie dieser Prozeß verlaufen ist, wie ich, auf das Kruzifix schwörend, gelogen habe, wenn sie erfährt, daß ich als Katholik die schwersten Sünden begangen habe und auch heute noch begehe! Sie würde mit sich selbst zerfallen, die Arme, so rein ist ihr Inneres und so sehr liebt sie mich. Ich weiß gar nicht, was ich ihr erzählen soll. Ich werde immer wieder lügen müssen, damit wenigstens sie ihre Seelenruhe behält. Für mich ist das alles sowieso ganz gleichgültig. Ich bin für jeden ehrlichen Katholiken in demselben Augenblick ein unheilbarer Aussätziger geworden, da ich nach der Meinung des Santo Offizio wieder ›geläutert‹ wurde. Und mit jeder weiteren Sekunde werde ich nur noch sündiger, denn meine Verstocktheit hört ja nicht auf. Vor Gott bin ich verdammt, vor mir selbst ehrlos.«
Niccolini hatte getan, was er konnte: innerhalb von nicht ganz zwei Wochen hatte er erreicht, daß Siena als Haftort für den Verurteilten bestimmt wurde. Am sechsten Juli reiste er schon dorthin ab. Die Sänfte des Bischofs Piccolomini stand seit Wochen bereit. Erschüttert nahm er Abschied von Niccolinis und umarmte beide herzlich. Auch seine Gastgeber verhehlten ihre tiefe Ergriffenheit nicht.
»Auf Wiedersehen«, sagte Frau Katharina.
Er schüttelte mit dem Kopf.
»In meinem Alter und bei meinem Zustand ist jeder Abschied ein Abschied für immer. Möge Euch Gott mit seinen beiden Händen segnen, daß Ihr in der schwersten Zeit meines Lebens so gut zu mir wart.«
Dann setzte sich die Sänfte in Bewegung. Er zog die Vorhänge zu, als wolle er sich vor der Hitze schützen, in Wirklichkeit wollte er aber die Ewige Stadt nicht mehr sehen, die ihn so gequält hatte. Als die Stadt weit hinter ihm lag, fühlte er sich leichter. Nicht viel, denn umsonst verließ er dieses Häusermeer mit dem Papst, den Kardinälen, den geheimnisvollen Organisationen des Santo Offizio, umsonst, – die Weltmacht dieser Stadt würde ihm als ein unsichtbarer Schatten überallhin folgen, ihn nie wieder aus ihren Fängen lassen.
Ascanio Piccolomini, der junge Bischof, wohnte in einem prächtigen Palast in der Nähe der Loggia del Papa. Dieser Palast war seit langem der Wohnsitz des altehrwürdigen Geschlechtes, das seinen Stammbaum bis auf Porsenna, den König der Etrusker, und Tarquinius Superbus, den letzten römischen König, zurückführen konnte. Der junge Sproß des großen Geschlechts, der Bischof Ascanio, den Galilei schon als Knaben gekannt hatte, empfing seinen Gast mit herzlicher Freundschaft. Eigentlich sollte er der Kerkermeister des Greises sein, in Wirklichkeit aber war er ihm ein freundlicher und aufrichtig zugetaner Hausherr.
Im Palast hatte man für Galilei einige der vornehmsten Wohnräume bestimmt, und eine ganze Reihe von Dienern stand zu seiner persönlichen Verfügung. War es also eine Gefangenschaft, so die Gefangenschaft eines Fürsten.
Der Bischof Ascanio führte den Greis im ganzen Schloß herum und zeigte ihm alle Erinnerungen seiner stolzen Familie, Aeneas Sylvius, als Papst Pius II., hatte ein Familienarchiv gegründet und der Bischof berichtete anschaulich und lebhaft von den großen Traditionen des Hauses sowie von seinen lebenden Mitgliedern. Die Kirche hatte nicht weniger als acht Piccolominis heilig gesprochen. Zur Familie gehörten unzählige Heerführer, Kardinäle, Bischöfe und päpstliche Würdenträger. Guido Piccolomini, der noch als kleines Kind starb, war heilig gesprochen. Giovanni Piccolomini verlieh der Familie ein neues Wappen: ein Kreuz mit fünf Halbmonden. Tommaso Piccolomini hatte als Heerführer dem ungarischen König Ludwig dem Großen gedient. Aber jedes Gespräch mündete immer wieder bei Pius II., dem Stolz der Familie, der mit besonderer Liebe an den Seinigen gehangen, und zu seinen Verwandten stets sehr gütig gewesen war. Er hatte sogar einen dieser Verwandten adoptiert: er übereignete sein Wappen einem Ammannati und machte ihn zum Kardinal.
»Ammannati«, rief Galilei überrascht, »meine Mutter war auch eine geborene Ammannati, Gott gebe ihr die ewige Ruhe.«
»Was Ihr nicht sagt! Von welchen Ammannatis?«
Schon waren sie in einem Gespräch über den Stammbaum ihrer Familien vertieft und stellten ihre weitläufige Verwandtschaft fest. Der Bischof hätte tatsächlich zu seinem nächsten Verwandten nicht liebenswürdiger, vor allem aber nicht taktvoller sein können. Sorgfältig mied er, alles zu erwähnen, was das Gespräch auf den berühmten Prozeß gelenkt hätte. Schon am ersten Abend brachte er einen Gast zu Galilei, den Astronom Marsili, der jetzt in Siena wohnte. Er war ein alter Freund Galileis, der mit ihm in ständigem Briefwechsel stand. Es schien fast unvermeidlich, daß Galilei von seinen großen Entdeckungen sprechen würde. Der Name Kopernikus wurde des öfteren genannt, aber jedesmal mischte sich dann der Bischof ins Gespräch, als ob er Galilei schützen wollte. Nach dem Abendessen gingen sie in dem schönen, gepflegten Garten spazieren, alles zeugte hier von Reichtum, alles wirkte beruhigend. Aber dann kam die Nacht und mit ihr die Einsamkeit, und mit der Einsamkeit kamen Gewissensqualen. Der aufmerksame Hausherr sah am anderen Tag seinem Gast an, daß er wieder nicht geschlafen hatte.
»Messer Galilei, ich habe einen guten Rat für Euch!«
»Ich hätte einen einzigen Rat nötig, Monsignore Ascanio: wie könnte ich meine Freiheit wiedererlangen?«
»Verlangt nichts Unmögliches von mir. Aber wenn Ihr auf mich hört, werdet Ihr Euch Erleichterung verschaffen können: ich rate Euch, zu arbeiten.«
»Ich? Arbeiten? Kann ich es denn überhaupt noch wagen, auch nur ein einziges Wort niederzuschreiben?«
»Tausend, wenn es Euch Freude macht! Ich habe Euch gestern beim Abendessen mit Entzücken zugehört, als Ihr von der Wärme und der Gravitation spracht, und ich würde dies alles nur zu gern in einem Buch lesen. Ihr habt auf dem Gebiete der Physik doch so unendlich viel Neues entdeckt. Warum faßt Ihr das nicht in einem Buch zusammen? Ihr könntet die ganze Welt Eure Physik lehren. Hier hättet Ihr alles, was Ihr für Eure Arbeit braucht: Ruhe, Bequemlichkeit und meine große Bibliothek; auch Marsili besitzt viele Fachbücher, überlegt es Euch und macht Euch an die Arbeit!«
»Es würde mir sehr schwer fallen, Monsignore. Meine Seele ist so müde.«
»Das weiß ich. Ich weiß aber auch, daß die Seele gewisse Zeiten hat, in denen die Arbeit Ruhe und Entspannung bedeutet. Mir ist auch bekannt, daß, wenn man solch einem Gehirn Nahrung gibt, es sich dann nicht mehr selbst zerfleischt.«
Überrascht blickte Galilei den jungen Bischof an, der ihm diese klugen Ratschläge erteilte.
»Ich danke Euch für Euren Rat, Monsignore, ich will es versuchen. Noch herzlicher danke ich aber für die Güte und Anteilnahme, die diesen Rat veranlaßt hat. Ich will aufrichtig sein: ich glaube nicht, daß es gehen wird.«
»Versucht es wenigstens, setzt Euch an den Tisch und legt einen Bogen Papier vor Euch hin. Dieser unbeschriebene Bogen wird schon nach Buchstaben verlangen, verlaßt Euch darauf. Handschlag, daß Ihr es versucht!«
Galilei lächelte und reichte ihm die Hand. Und er versuchte es. Bar jeder Zuversicht legte er das Papier vor sich hin, starrte es an und hielt den Gänsekiel in der Hand. Was konnte er denn noch schreiben, wo man ihm doch mit erbarmungsloser Strenge für ewig die Sprache verboten hatte? Das Werk seines ganzen Lebens war so abgerundet, so einheitlich, daß man keine einzelnen Teile herausnehmen konnte. Nicht der Schwur hielt ihn zurück, ein neuerliches Geständnis seiner Weltanschauung zu Papier zu bringen. Darüber war er hinaus. Hundert Eidbrüche oder noch einer mehr – das dürfte wohl gleichgültig sein. Aber die Angst? Die Kirche hatte ihr Ziel erreicht: sie hatte es fertiggebracht, den größten europäischen Kämpfer für eine neue Wissenschaft in Furcht zu versetzen. Als er aber so vor dem leeren, weißen Bogen saß, mußte er über die grundsätzlichen Unterschiede zwischen der alten und der neuen Lehre nachdenken. Eigentlich gab es hier zwei Übel, und das Verbot der kopernikanischen Lehre war noch das kleinere. Das größere Übel war das Fehlen eines Denksystems. Die kopernikanische Frage war nur ein Teilproblem angesichts dieses viel größeren allgemeinen Übels. Das wissenschaftliche Denken war in eine Sackgasse geraten: die Kirche hatte die Peripatetiker zu den einzigen berufenen Hütern ihrer Dogmen gemacht und somit den menschlichen Geist, besten Erkenntnisdrang doch keine Grenzen kennt, zum Erstarren gezwungen. Auf keinem Gebiete der Wissenschaft durfte man sich rühren. Das galt für die Medizin geradeso wie für die Naturwissenschaft. Seit vielen hundert, seit mehr als tausend Jahren war Wissenschaft nichts anderes als ein ewiges Wiederkäuen überlieferter Lehrsätze aus dem Altertum, und als der größte Gelehrte galt jener, der diese Lehrsätze mit den meisten Zitaten zu kommentieren verstand.
Ein neues System ist nötig! Eine neue, freie Denkweise! Man muß wieder zurück zu den elementarsten Dingen: zur Materie der Kraft und des Lichtes. Die muß man loslösen von der Metaphysik. Man muß für sie eine Form finden, die von jedem Vorurteil frei ist, die die Theologie rücksichtslos in ihre Grenzen verweist und sich streng davor hütet, in die Berechnung der Parabel den Begriff »Gott« hineinzuziehen. Gott schuf die Welt und schuf sie so groß und herrlich, daß das menschliche Gehirn kaum ein Tausendstel all der Wunder in sich aufzunehmen und ihre Gesetze zu ergründen vermag. Die Aufgabe des wahren, gottgläubigen Gelehrten ist also nicht, seine Nase in das Mysterium der unendlichen, in ihren Urgründen unfaßbaren Schöpfung zu stecken, sondern ihr Wirken in den Naturgesetzen zu erforschen und die wunderbaren Zusammenhänge der Erscheinungen zu ergründen. Je mehr er ohne Mithilfe der Theologie entdeckt, um so mehr wird er von der unermeßlichen Weisheit des göttlichen Werkes erahnen, mithin in weit höherem Maße dem Ruhme Gottes dienen.
Er legte den Gänsekiel aus der Hand und kümmerte sich nicht mehr um den unbeschriebenen Bogen Papier. Die seit Monaten stehende Mühle begann wieder zu mahlen, obwohl man hätte fürchten können, daß die Kraft des Denkens in der Feuerglut der Heimsuchungen erloschen war.
»Nun, ist es Euch schon gelungen, etwas zu arbeiten?« fragte eines Abends der Bischof.
»Ich habe noch keine Zeile geschrieben«, erwiderte er, »aber ich glaube, es wird ein Buch!«
»Bravo! Ich bin glücklich! Und der Titel?«
»Das muß noch überlegt werden. Aber über eins bin ich mir schon im klaren. Der Ausdruck ›neue Wissenschaft‹ wird sicherlich im Titel enthalten sein.«
Marsili kam und wußte vor Verwunderung nicht, was er sagen sollte, so völlig hatte sich das Wesen Galileis von heute auf morgen verändert.
»Ich habe noch eine große, wissenschaftliche Sehnsucht,« sagte Galilei, »die möchte ich noch erfüllt sehen.«
»Möchtet Ihr etwas erfinden?«
»Ja. Ich möchte Mittel und Wege finden, die Geschwindigkeit des Lichtes zu messen.«
Nach und nach begann er wieder niederzuschreiben, was er alles in seinem neuen Buch berücksichtigen könnte. Eine Menge von Dingen fielen ihm ein, die er schon vor Jahren und Jahrzehnten ausgezeichnet, aber dann wieder beiseite gelegt hatte, weil seine astronomischen Arbeiten ihm keine Zeit ließen, sich mit Physik zu befassen. Diese Aufzeichnungen befanden sich sämtlich noch in seiner Villa unter Schloß und Riegel. Aber ob sie heute noch dort waren?
Ein Bekannter von ihm, namens Rondinelli, bewohnte die Villa vorübergehend. Dieser schrieb zwar herzlich wenig, um so mehr aber Celeste. Porzia, die Wirtschafterin, und sein Diener suchten sie regelmäßig im Kloster auf. Sie verwahrte das Geld, sie verteilte die Arbeiten, sie leitete die Post weiter, sie war die Seele der ganzen Familie. Auch der Schwager von Nencio, Geri Bocchineri, schrieb setzt öfter. Er hielt aufrichtig zur Familie. Geri schrieb, daß die Inquisition alle Freunde Galileis in Florenz beobachten lasse, insbesondere jene, die im Rufe stünden, Kopernikaner zu sein. Das bewies deutlich, daß man sich vor ihnen fürchtete, und legte die Vermutung nahe, daß eines Tages die Inquisitoren in seiner Wohnung erscheinen, eine Haussuchung vornehmen und seine Aufzeichnungen aus fünfzig arbeitsreichen Jahren nebst seiner gesamten wissenschaftlichen Korrespondenz beschlagnahmen könnten. Aber Geri wußte nichts davon und Celeste hatte nie etwas dem Ähnliches geschrieben. Und brieflich danach zu fragen, war unmöglich; denn er konnte nicht wissen, ob die Inquisition nicht seinen ganzen Briefwechsel kontrollierte.
Diese Sorge quälte ihn über alle Maßen. Mehr noch bedrückte ihn das Bewußtsein, ein Verbannter und Gefangener zu sein. Zwar hatte er nicht viel Lust, in den Straßen von Siena spazierenzugehen, damit die Leute auf der Gasse miteinander tuscheln und auf ihn deuten konnten, auf ihn, das Opfer des weltberühmten Prozesses, – doch die Vorstellung, daß er die Schwelle dieses Hauses nicht überschreiten dürfte, steigerte seine Nervosität oftmals bis zur Tobsucht. Wie gerne hätte er mit Papst Urban gesprochen: er möge ihn als Gefangenen belassen, aber als Kerker seine Villa in Florenz bestimmen. Er schrieb deswegen an den Gesandten und an den Hof von Florenz. Auch Piccolomini war bemüht, zu vermitteln. Einmal richtete er die Frage nach Rom, ob er, da er eine kleine Reise aufs Land zu machen habe, Galilei mitnehmen dürfe. Aber auf jede Anfrage, auf jede Bitte, kam aus Rom immer wieder die gleiche Antwort: nein! Der Gefangene möge sich zufrieden geben. Es sei noch viel zu früh, um Erleichterung zu bitten.
Und es war, als ob das Schicksal es so eingerichtet hätte, daß sein Heimweh immer wieder von neuer Unruhe angestachelt werden sollte, als ob böse Geister die Schwierigkeiten zu Hause während seiner Abwesenheit auftürmten, um ihm das Leben unerträglich zu machen.
Er bekam sehr schlechte Nachrichten über den Gesundheitszustand Celestes. Sie war immer sehr zart und anfällig gewesen, mehr krank als gesund. Dazu noch monatelang die quälende Angst, man könnte ihren Vater hinrichten. Und obendrein waren im Kloster San Matteo wegen der Epidemie Kranke untergebracht. Zur Zeit pflegte man acht kranke Frauen im Kloster. Es war nicht sicher, daß sie die Pest hatten, aber es stand auch nicht fest, ob es nicht doch die Pest war. In jedem Briefe von zu Hause suchte der Greis mißtrauisch zwischen den Zeilen, was man ihm etwa aus Mitleid verschwiegen haben könnte. Hundertmal am Tage kam ihm der Gedanke, seine Töchter könnten der Pest anheimgefallen sein. Vielleicht waren sie schon krank und wußten nur noch nichts davon?
Ein Mitglied der Familie hatte die Pest schon hingerafft. Die auffallend schöne Frau seines Neffen, des jungen Landucci, Anna Diociaiuti, war an der Pest gestorben. Zwei kleine Kinder blieben zurück, und auch geldliche Schwierigkeiten. Galilei hatte seinerzeit schriftlich bestätigt, daß er der Frau seines Neffen einen monatlichen Zuschuß von sechs Goldgulden gewähre. Jetzt trat der junge Witwer auf und forderte dieses Geld auch für die Zukunft. Celeste hatte den Betrag zunächst auf eigene Verantwortung weitergezahlt, Landucci aber mitgeteilt, daß er keinen Anspruch mehr auf dieses Geld besitze. Er gab sich aber nicht zufrieden und behauptete, seine Kinder hätten ein Recht auf weitere Unterstützung. Und es war anzunehmen, daß er sich nicht schämen würde, seinen Onkel zu verklagen.
Dann kam die peinlichste Nachricht: Nencio hatte sich in seinem Amt nicht gut geführt. Ein Disziplinarverfahren nach dem anderen wurde gegen ihn eröffnet. Sein Schwager Geri, der selbst Regierungsbeamter war, schrieb einen aufgeregten Brief nach Siena: man müsse unbedingt etwas unternehmen; denn sein Vorgesetzter mache kein Hehl daraus, daß er den Sohn Galileis einfach entlassen werde. Der Kanzler Cioli habe bereits höchstpersönlich eingreifen müssen, um ihn zu retten. Dieser Zustand könne aber nur noch von kurzer Dauer sein, und dann würde Nencio seiner Stellung doch verlustig gehen. Der Sohn selbst nahm die Gefahr nicht ernst. Er wußte seinen Vater hinter sich und kümmerte sich um nichts weiter. Seine Gedanken waren ganz woanders. Er hatte an dem Nachbarhaus an der Costa San Giorgio Gefallen gefunden und war bemüht, es mit Unterstützung seines Vaters zu erwerben. Monatelang hatte er an seinen Vater nicht geschrieben, auf einmal wandte er sich wieder an ihn. Er bat um hundertfünfzig Goldgulden, um die erste Rate bezahlen zu können. Anscheinend hatte er auch Celeste umschmeichelt; denn auch diese gute Seele bat den Vater, der Bitte Gehör zu schenken. Der Vater aber ging im Piccolomini-Palast auf und ab und war verzweifelt. Was sollte werden, wenn sein Sohn seine Stellung verlor? Erst vor kurzem, in den schrecklichen Tagen nach dem Inquisitionsprozeß, hatte er Schulden für ihn bezahlt, rund zweihundertfünfzig Goldgulden. Und der Junge, der auf dem Lande seinen Amtspflichten nachzugehen hätte, treibt sich in dem pestverseuchten Florenz herum, um seinen Besitz noch um ein Haus zu vergrößern …
Er konnte gar nichts anderes tun, als immer neue Bittbriefe zu schreiben, man möge beim Papst zu erreichen suchen, daß er seine Gefangenschaft in Florenz verbringen dürfe. Dem Papst war es aber gar nicht darum zu tun, dem Gefangenen seine Lage zu erleichtern, sondern nur um die endgültige Erledigung der kopernikanischen Lehre.
Guiducci, einer seiner treuen Freunde und Schüler in Florenz, schrieb ihm, daß eines Tages der Vikar bei ihm erschienen sei und ihn im Namen des Großinquisitors von Florenz zu einer Beratung eingeladen habe. Wovon die Rede sein würde, habe er zuvor nicht verraten wollen. Er sei also hingegangen. Zu seiner Überraschung habe er eine große Gesellschaft von Inquisitoren, Prälaten, Mönchen und Leuten, die in Florenz als Freunde Galileis galten, vorgefunden. Der Großinquisitor habe den geladenen Gästen mitgeteilt, daß er, zufolge Befehls des heiligen Offizio zu Rom, das im Prozeß Galilei gefällte Urteil und die Erklärung, in der Galilei seine Lebensarbeit abgeschworen habe, vorlesen werde. Nachdem dies geschehen sei, habe er die Sitzung geschlossen. Er, Guiducci, habe sich erkundigt, warum man ihn denn zu dieser Vorlesung geladen hätte. Der Großinquisitor habe erwidert, er habe gemäß dem Befehle aus Rom so viele Gelehrte, als nur möglich einladen sollen.
Galilei zeigte diesen Brief dem Bischof. Der lächelte gezwungen.
»Habt Ihr denn nicht gewußt, daß das folgen würde? In der ganzen christlichen Welt, in jeder Stadt, wo die Inquisition oder ein Bischof vorhanden ist, wird das so gehandhabt. Auch in Amerika und Japan. Was Weltberühmtheit anbelangt, könnt Ihr Euch also nicht beklagen.«
»Natürlich. Erst neulich hat es stattgefunden. Ich wollte Euch damit nur nicht unnötig aufregen. Ich selbst habe die Verordnung erhalten und kann Euch deshalb verraten, was in dem Begleitschreiben stand: es sei dafür Sorge zu tragen, daß der Inhalt dieses Urteils und die Abschwörung jedem Gelehrten auf dieser Welt bekannt werde, damit jene zu sehen vermögen, daß es geraten sei, sich in dieser Frage in acht zu nehmen.«
Galilei stieg das Blut in den Kopf. Daß seine Schande zu einer Weltschande erwachsen würde, hatte er nicht vermutet. Vergebens suchte er in den Jahrhunderten der Weltgeschichte ein Seitenstück zu dieser Schande. Er suchte sich zu vergegenwärtigen, wo überall sein Schwur verlesen worden sei. Den Satz, in dem er sagt: »mit aufrichtigem Herzen und ungeheucheltem Glauben verdamme und schwöre ich es ab, so wahr mir Gott helfe«, hörten in Venedig Herr Micanzio und alle seine alten Bekannten, die Geistlichen und Senatoren. In Padua hörten ihn die Professoren des Bo, in Bologna seine vielen gelehrten Freunde, unter ihnen Cavalieri. In Pisa freuten sich der Graf D'Elzi und seine neidischen Kollegen. Und wie mochte sich Pater Scheiner gefreut haben, als der Widerruf in Ingolstadt bekanntgegeben wurde! Was mochten die Schüler des armen Kepler in Prag dazu gesagt haben? Wie hatte sich wohl der katholische Geistliche, aber starke Kopernikaner Gassendi in Frankreich vernehmen lassen? Und all die tausend und aber tausend Schüler aus seiner jahrzehntelangen Professorentätigkeit, die heute über die ganze Erde verstreut waren, von Torricelli bis zu dem Grafen Noailles?
Die Wunde, die schon halb verheilt war, brach wieder auf. Er konnte an nichts anderes denken als an diese Schmach! Mit danteschen Maßen wägte er sie ab. Das Schicksal hatte ihn zu unglaublichen und unverhofften Ehren kommen lassen: aus der gesamten Menschheit hatte es ihn erwählt, daß er als erster neue Sterne entdeckte, physikalische Gesetze von epochemachender Bedeutung, um die Jahrtausende gerungen, als erster klar formulierte. Und vom Zenit des Ruhmes durch diesen schändlichen Verrat mit einem Male auf den Nadir hinabzustürzen, wo sein Name neben dem Namen eines Ephialtes stehen würde! Aber was alle Gelehrten der Welt, ja selbst die Geschichte dazu sagen würde, schien ihm ganz nebensächlich im Vergleich zu dem, was Celeste sagen würde, wenn sie es erführe. Bis jetzt wußte sie nur, daß man ihn verurteilt hatte. Aber welche Erschütterung, welche Ernüchterung mußte ihre Seele ergreifen, wenn sie von diesem lästerlichen Schwur ihres angebeteten Vaters, ihres Idols, das gleich nach Gott kam, hörte?
Der Bischof gab sich die größte Mühe, seine Seelenqualen zu lindern. Sie waren schon so weit, daß sie sich ziemlich frei über die kopernikanische Frage unterhielten. Der Bischof bat ihn sogar, er möge ihm diese verdammte Lehre erklären, da er neugierig sei, sie kennenzulernen. Galilei zögerte. Dann, nachdem er vorsichtig vorausgeschickt hatte, nicht an das zu glauben, was er erklären wolle, daß er die Lehre sogar unter Eid verleugnet habe, gab er eine ausführliche Darstellung der kopernikanischen Weltauffassung und der Hauptargumente, auf die sie sich stützte.
»Das klingt recht überzeugend«, sagte der Bischof ruhig, »mir scheint, daß man Euch ungerecht verurteilt hat.«
»Monsignore!« stammelte Galilei. »Habt Ihr denn keine Angst vor dem Papst?«
»Nein«, erwiderte der Bischof gleichgültig, »mir könnte er gar nichts anhaben. Es ist nicht ratsam, das Geschlecht derer von Piccolomini anzutasten, das weiß er sehr gut. Ich sitze hier in Siena ziemlich sicher. Siena gehört uns, uns, den Piccolomini! Wenn mir irgend etwas geschähe, bräche hier eine Rebellion aus. Siena ist eine Welt für sich, das hättet Ihr eigentlich schon bemerken müssen. Wir sind hier nicht in Florenz. Diese Stadt hier ist toskanischer denn Florenz. Und ich habe als alter Etrusker allen Grund dazu, für Unseren Herrn nicht zu schwärmen.«
»Aber warum, Monsignore?«
»Das fragt Ihr noch? Ich hielt Euch für einen begeisterten Patrioten. Habt Ihr noch nie darüber nachgedacht, was mit Urbino geschehen war …?«
»Ich habe wohl etwas davon gehört, aber ich verstehe nichts von Politik.«
»Ich um so mehr. Der Herzog von Urbino war gestorben, und Urbino war nach göttlichen und irdischen Gesetzen unser. Es gehörte zu Toskana. Da kam Papst Urban und legte seine Hand darauf. Er erklärte einfach, daß Urbino dem Kirchenstaate zufalle. Wißt Ihr überhaupt, welch ungeheures Gebiet, wieviel Burgen wir verloren haben? Man mag gar nicht darüber reden. Und was sagte man in Florenz dazu? Verzweifelt rief man nach Cioli, was da zu tun wäre. Cioli aber, der Kanzler, fügte sich andächtig dem Wunsche der Kirche. Und seine Hoheit der Großherzog Fernando, den seine Erzieher lehrten, die Augen stets nach Rom zu richten, schluckte die Kränkung herunter und schwieg. Ein Glück, daß Seine Heiligkeit nicht noch Siena verlangt hat, man hätte es ihm auch noch hingegeben. Allerdings wäre das nicht ganz so einfach gewesen. Die Politik ist eine große Kunst. Mein Vetter Ottavio, den Ihr so gut kennt, schlägt sich jetzt auf der Seite der Kaiserlichen im großen Kriege. Er schreibt mir sehr oft. Ich stehe auch mit vielen anderen Personen in ausgedehntem Briefwechsel und so erfahre ich mancherlei. Es ist eine böse Zeit, in der wir leben, das kann ich Euch versichern. Ich beneide Euch, daß Ihr Euch so ganz in Eure Wissenschaft vertiefen könnt.«
»Ich habe in der Wissenschaft nichts mehr zu sagen. Ich habe das Spiel verloren.«
»Ach, redet doch keinen Unsinn, – natürlich habt Ihr noch sehr viel zu sagen! Ihr bildet Euch doch wohl nicht im Ernst ein, daß auch nur einer an diesen Widerruf glaubt?«
»Aber Monsignore, ich habe geschworen! Mit der Hand auf der Bibel habe ich geschworen!«
»Natürlich. Jedermann weiß, daß Ihr zwischen dem Scheiterhaufen und diesem Schwur zu wählen hattet. Es wäre natürlich erhabener gewesen, als Märtyrer zu sterben. Aber es ist doch durchaus zu verstehen, wenn jemand nicht willens ist, lebendigen Leibes gebraten zu werden. Das ist ein erzwungener Schwur, tröstet Euch! Nicht wahr, Ihr habt auch einen Eid darauf abgelegt, daß Ihr, wenn Ihr irgendwo einen Kopernikaner findet, diesen sofort anzeigen werdet?«
»Ja, das habe ich beschworen.«
»Und glaubt Ihr denn, daß irgend jemand ernsthaft daran denkt? Bildet Ihr Euch wirklich ein, daß Unser Herr dies selbst glaubt? Seht Ihr! Beruhigt Euch also, besänftigt Euer Gewissen und arbeitet so, daß Ihr der Inquisition nicht in die Quere kommt. Ihr könnt bei mir bleiben, solange Ihr wollt. Ich weiß, wie sehr Ihr Euch nach Hause sehnt, aber bedenkt auch einmal, daß Ihr jetzt ebenso gut im Kerker darben könntet, in der Engelsburg oder in irgendeinem Verließ der Sopra Minerva. Bei mir ist es doch immer noch bequemer und unterhaltender obendrein. Dabei fällt mir ein: wir werden morgen einen interessanten Gast haben. Einen französischen Dichter. Er heißt Saint-Amant. Er kommt aus Rom und hat ein Empfehlungsschreiben an mich. Nun, den werden wir schon aushorchen. Jetzt schlaft gut und macht Euch keine unnützen Gedanken.«
Der französische Dichter war angekommen. Er war eine stolze, strenge Erscheinung, ungefähr vierzig Jahre alt, und machte nicht im geringsten den Eindruck eines Dichters. Er gehörte zur Begleitung des beim Heiligen Stuhl beglaubigten Gesandten Créqui de Blancheflor, und da der Kardinal Richelieu den Gesandten nach Venedig versetzt hatte, fuhr Saint-Amant ihm voraus. So kam er nach Siena. Er begrüßte Galilei mit großer Freude und äußerte seine Genugtuung, den weltberühmten Mann kennenlernen zu dürfen. Aus Höflichkeit antwortete Galilei lateinisch, aber Saint-Amant lächelte und sprach weiter italienisch.
»Der lateinischen Sprache bin ich kaum mächtig, mein Herr Gelehrter, ich war ein sehr schlechter Schüler. Ich habe lieber die modernen Sprachen erlernt; ein Soldat, wie ich, kann das besser gebrauchen.«
»Soldat? Seid Ihr denn kein Dichter?«
»Beides. Ich war Konstabler in der französischen Artillerie. So bin ich zu dem Gesandten gekommen, der Gardekommandeur ist. Und nebenher schreibe ich auch Gedichte, aber leider nur in französischer Sprache. Euch würden sie sicher sehr gut gefallen, weil ich in ihnen heftig über Aristoteles herziehe. Seinetwegen kann man ja doch keine anständige Dichtung verfassen! Es ist geradezu schrecklich, wie der auf den Seelen lastet!«
»Bei Euch auch«, sagte Galilei mit glücklicher Verwunderung, »auch bei Euch?«
Und gleich gewann er den Soldatendichter lieb. Der erwies sich auch sonst als recht unterhaltsamer Mensch. Er konnte tadellos Laute spielen und ließ sich nach dem Abendessen gar nicht erst lange bitten. Auch Marsili kam zu Gast, und sie musizierten eine ganze Weile zusammen. Aber der Franzose war auch im großen Krieg und in der ganzen europäischen Diplomatie sehr bewandert. In ihm steckte eine abenteuerliche, fast zynische Verwegenheit. Er war als Protestant geboren, wurde aber dann persönlichen Vorteilen zuliebe Katholik. Den großen Krieg beurteilte er dementsprechend. Er meinte, es sei längst kein Glaubenskrieg mehr. Frankreich verfolge zwar die Hugenotten im eigenen Lande, draußen an der Front aber hätte es sich mit den Protestanten verbündet. Auf der katholisch-kaiserlichen Seite hingegen kämpften auch protestantische Fürsten. Dem Papst reichten also auch ketzerische Kämpfer die Hand, das katholische Frankreich hingegen kämpfe gegen den Papst. Was vor fünfzehn Jahren unter der Fahne des Glaubens zu Felde gezogen wäre, sei nun in einen unentwirrbaren Knäuel von hunderterlei verschiedenen Interessen verfilzt.
»Wie mag es wohl in München aussehen?« fragte Galilei.
»Augenblicklich bin ich nicht unterrichtet. Aber auch diese Stadt hat viel gelitten.«
»Und was habt Ihr von meinem Vetter gehört?« erkundigte sich der Bischof.
»Ein bedeutender Mann! Er wird erreichen, was Wallenstein anstrebte: er wird Reichsfürst. Wallenstein ist ein erledigter Mann. Sein Nachfolger wird Ottavio Piccolomini oder Gallas.«
»Was sagen Euer Gnaden dazu?« wandte sich der Bischof an Galilei, »erinnert Ihr Euch noch an den kleinen Ottavio? Dort lauschte er heimlich, als Ihr Euch mit meinem Onkel über die Bahn der Kanonenkugel unterhieltet.«
»Ja. Inzwischen habe ich die physikalische Lösung des Fluges der Kanonenkugel entdeckt. Die Kugel beschreibt eine Parabel. Das hat nach mir, und doch völlig unabhängig von mir, einer meiner Schüler auch berechnet, Cavalieri in Bologna.«
Saint-Amant wurde mit einem Male sehr lebhaft. Er war doch schließlich Konstabler der Artillerie. Ein langes fachmännisches Gespräch kam in Gang. Sie berührten auch die Befestigungslehre, und der Franzose lauschte Galilei wie einem Orakel. Er nannte ihn ein Genie und lobte ihn überschwenglich.
»Seht Ihr«, meinte der Bischof, »Ihr zählt doch noch als Gelehrter! Ein jeder achtet Euch.«
»Ein jeder? Ich möchte wissen, was meine Tochter von mir denkt.«
Kurze Zeit darauf kam im bischöflichen Palais ein viel weniger vornehmer Gast an, der aber dem Gefangenen noch viel mehr Freude bereitete: Gepe war es, der kleine Diener. Celeste hatte irgendwie in Erfahrung gebracht, daß der Wagen eines Bekannten nach Siena fuhr, und hatte nicht geruht, bis sie erreicht hatte, daß der Wagen Gepe mitnahm. Der junge Strolch aus Florenz stand eines Tages unerwartet vor seinem Herrn, der ihn seit acht Monaten nicht gesehen hatte. Sie fielen einander in die Arme, wie vom Blitz getroffen. Galilei küßte den Burschen ab. Gepe hatte einen Brief mitgebracht, eine Torte, die Celeste zubereitet hatte, Wein aus der Heimat und ein Bündel Nachrichten – von dem Maulesel, von dem kleinen Kirschbaum, von dem eisernen Haken des Ziehbrunnens, von Marderschaden im Hühnerstall und von unzähligen Begebenheiten in der Heimatstadt.
»Sind Geistliche in meinem Hause in Florenz gewesen?«
»Nein, warum sollten sie denn dagewesen sein, mein Herr?«
»Kein einziges Mal?«
»Kein einziges Mal.«
»In meinen Schriftstücken hat auch niemand herumgestöbert?«
»Aber wieso denn nur? Nicht einmal Messer Rondinelli kann dazu. Den Schlüssel zur Schublade haben doch nur Euer Gnaden und Suor Celeste.«
»Und was erzählt man sich denn bei euch von mir?«
»Daß Euer Gnaden gar zu gerne nach Hause kommen würden, daß aber die Geistlichen Euer Gnaden daran hindern. Etwas anderes erzählt man sich nicht.«
Gepe war drei Tage lang Gast des Schlosses Piccolomini und genoß eine Verpflegung und Behandlung, wie er sich das niemals erträumt hätte. Der Bischof schenkte ihm einen Sonntagsstaat. In der Küche hatte er so viel gefressen, daß man allgemein der Meinung war, er würde krank werden. Und als er seinem Herrn nichts mehr über dessen Töchter, die Wirtschafterin, über Giuseppe, den Diener, vom Hofe und vom Garten berichten konnte, machte er sich wieder auf den Weg nach Florenz. Galilei sah ihm nach, bis sich hinter ihm das Tor schloß und beneidete ihn mit wehmütigem Herzen.
Bald kam auch ein Brief von Suor Celeste, in dem der Vater unter anderem das folgende lesen konnte:
»Ich möchte nicht, daß Ihr an mir zweifelt und des Glaubens wäret, ich hörte auch nur für eine Sekunde auf, Euch aus ganzer Seele dem lieben Herrgott zu empfehlen; denn das liegt mir sehr, sehr am Herzen, und Euer körperliches und seelisches Wohlergehen bereitet mir viel Sorge. Um Euch einen Beweis dafür zu geben, will ich Euch erzählen, daß ich mir das über Euch gefällte Urteil verschaffte und auch die Erlaubnis, es zu lesen. Das hat mir zwar sehr weh getan, doch bin ich wiederum glücklich, daß ich es lesen konnte, weil ich dadurch eine Gelegenheit fand, Euch, wenn auch nur in geringem Maße, nützlich zu sein: überlaßt mir die Pflicht, wöchentlich einmal die Psalmen zu beten! Ich habe damit schon begonnen, und es bereitet mir große Freude. Einmal, weil ich glaube, daß ein demütiges und gehorsames Gebet Erhörung finden wird, und zweitens, weil ich Euch diese Last von den Schultern nehmen kann. Könnte ich das auch in anderen Dingen! Ich würde mich auch in einer viel engeren Zelle als der meinen hier wohl fühlen, wenn Ihr frei werden könntet.«
Diesen Brief drückte Galilei lange an seine Wangen und schob ihn unter sein Kissen, wenn er sich zur Ruhe legte. Seit seiner Verurteilung hatte er die Psalmen nicht ein einziges Mal gebetet. Das war ihm vollkommen aus dem Gedächtnis entschwunden, denn er wollte ja an dieses Urteil so wenig wie nur möglich denken. Aber er hatte auch geschworen, diese Pflicht zu erfüllen. Und jene, die keine Pflichten auf sich genommen und keinen Schwur abgelegt hatten, waren soviel reiner und besser als er! Für wen solch ein Mädchenherz Fürsprache bei dem Allmächtigen einlegte, dem konnte der liebe Gott nicht zürnen.