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Draußen in der großen Welt herrschten schlimme Zeiten. Krieg, Seuchen, Not. Der große Krieg tobte schon seit zwölf Jahren. König Gustav Adolf von Schweden landete mit einer großen Armee in Pommern und war im siegreichen Vordringen. Das Blatt hatte sich gewendet. Eine Niederlage nach der anderen mußten die katholischen Heere über sich ergehen lassen. Und als wollte der erzürnte Himmel die Menschheit für diesen vielen Hader strafen, brach die Pest in ihrer ganzen entsetzlichen Grausamkeit aus. Als die ersten Nachrichten von geheimnisvollen Todesfällen kamen, setzten die einzelnen Städte Ausschüsse ein, die die Ursache jener sonderbaren Todesfälle ergründen sollten. Die Kommissionen meldeten, daß von einer Epidemie keine Rede sein könne. Die Todesfälle aber nahmen immer mehr überhand. Mailand wurde der Schauplatz eines fürchterlichen Massensterbens. Die Einwohner wagten sich nicht mehr in ihren Häusern aufzuhalten, sondern kampierten auf den Straßen. Die mutigeren von ihnen ergriffen Strohbündel, zündeten sie an und rieben mit diesen flammenden Bündeln die Mauern ab. Man glaubte, daß dies der Seuche Einhalt gebieten könne. Die Menschheit ergriff ein wahnsinniges Entsetzen. Im Volke liefen Gerüchte um, die Pest würde von ausländischen Meuchelmördern verbreitet. Die besäßen irgendein geheimnisvolles schwarzes Pulver, und wen sie damit bestreuten, der bekäme sogleich die Pest. Es genüge sogar, mit diesem Pulver die Mauern der Häuser zu bestreuen, und schon kämen alle Einwohner um. Eines Tages verbreitete sich die Nachricht, daß ein solcher »Untore«, wie man diese geheimnisvollen Giftmischer nannte, die Mauern des Domes mit dem Pulver bestreut hätte. In der Stadt entstand Tumult. Die Behörden setzten eine hohe Belohnung auf die Köpfe der Giftmischer aus. Und weil sich die Einwohner um die hygienischen Verordnungen der Behörden nicht kümmerten, ließ man die Toten, die an der Pest starben, öffentlich zur Schau stellen, damit die Bevölkerung durch den Anblick der ekelerregenden blauen Ausschläge zur Vernunft kommen sollte. Außerdem ordnete man große kirchliche Prozessionen an. Ganz Mailand sollte um Erlösung flehen. Unübersehbare Menschenmassen drängten sich unter der Führung der Geistlichen zusammen, viele der Teilnehmer trugen schon den Keim der Krankheit in sich und wankten hinter dem Glassarg des Heiligen Karl einher.
Alles das konnte man nur aus geschmuggelten Briefen erfahren oder durch mündliche Nachrichten: wenn jemand aus der Quarantäne einem anderen etwas über die Straße zurief. Im übrigen hatte eine rücksichtslose Kontrolle Toskana bisher vor der Pest bewahrt. Ferdinand, der jugendliche Herrscher, verhielt sich außerordentlich klug und weitsichtig. Er ließ Gesundheitsinstitute errichten, räumte diesen Instituten unbeschränkte Rechte ein, und er selbst beriet sich von früh bis abends mit seinen Fachleuten. Er erließ eine Verordnung nach der anderen. Die Straßen wurden unnachsichtig kontrolliert, Zusammenrottungen waren strengstens verboten. Die ersten Verhaltungsmaßregeln beim Auftreten der Krankheit wurden ausgetrommelt. Rücksichtslos wurden die Kranken abgesondert, sogar von ihren Familienangehörigen. Die Klöster waren verpflichtet, den Genesenden Unterkunft zu bieten. Die Insassen der Klöster durften ihre Gebäude nicht verlassen, und Zivilpersonen war es strengstens untersagt, dort Besuche zu machen. Nur Briefe zu wechseln war gestattet. Galilei konnte nicht zu seinen Töchtern, nur Celestes Briefe vermochten ihn zu trösten.
Inzwischen wuchs die Erregung von Tag zu Tag und von Stunde zu Stunde. In Florenz sprach jedermann nur von der Pest. Die Einwohner waren mit den Anordnungen ihres Herrschers sehr zufrieden und vertrauten ihm voll und ganz. Ob die Pest eigentlich in der Stadt wütete oder nicht, wußte man nicht einmal genau. Trotzdem war von nichts anderem die Rede als von der Pest. Die unglaublichsten Geschichten gingen um. Angeblich sollten in Mailand die Giftmischer ganz öffentlich gearbeitet haben. Ein Mann aus Mailand hatte gestanden, daß er am Domplatz einer sechsspännigen Kutsche begegnet wäre. Die Kutsche hätte gehalten, und die Insassen hätten ihn gezwungen aufzusitzen. Auf unbekannten Wegen wären sie in ein Schloß gefahren, wo kistenweise Gold aufgehäuft stand. Man hätte ihm zugeredet, so viel davon zu nehmen, wie er wolle. Nur eine kleine Schachtel Gift müsse er dafür in der Stadt ausstreuen. Er hätte sich nicht überreden lassen, worauf er innerhalb weniger Sekunden wieder am Domplatz gestanden hätte, von wo sie abgefahren wären. Solches und ähnliches gab man in Florenz von Mund zu Mund weiter, und das Volk glaubte es auch wortwörtlich. Misstrauisch sah man jeden Fremden an, ob er nicht etwa ein Giftmischer sei.
Galilei ging nicht auf die Straße. Er hatte Angst. Er fürchtete sich vor der Pest. Er verzichtete sogar darauf, seinen Sohn so oft zu sehen wie früher. Und als er es nach langer Zeit doch einmal wagte, nach dem San Giorgio zu gehen, traf er seinen Sohn in ganz verstörter Verfassung an.
»Wißt Ihr, was geschehen ist? Der Papst hat einen energischen Brief an den Großherzog gerichtet, in dem er sich dessen übertriebene Maßnahmen gegen die Pest verbittet und fordert, daß alle Erlasse, die Klöster und geistliche Personen betreffen, sofort widerrufen werden. Heute herrschte im Amt eine Aufregung wie in einem Irrenhaus.«
»Und was hat der Großherzog gemacht?«
»Das fragt Ihr noch? Die Jesuiten sind doch die Herren! Der Großherzog hat heute beschlossen, die Erlasse zu widerrufen. Aber nicht genug: sämtliche Mitglieder des Gesundheitsamtes sind verpflichtet, zum Bischof zu gehen, um Verzeihung zu bitten und Bußübungen abzuhalten. Ich kann das nicht mit ansehen. Bei dem Wohlwollen Eures Papstes wird die Pest bald auch bei uns sein. Sestilia ist wieder in anderen Umständen. Ich denke gar nicht daran, hier die Pest abzuwarten.«
»Was willst du tun?«
»Das weiß ich noch nicht. Aber Euch möchte ich auf alle Fälle ersuchen, nicht unnötig auf der Straße herumzuspazieren. Man tuschelt nämlich bereits, daß die neuen Sterne die Pest verursacht hätten. Das aber weiß jeder, daß Ihr mit den neuen Sternen in Verbindung steht. Und es fehlte gerade noch, daß irgendein Kerl mit aufgeregtem Gemüt Euch überfällt. In Mailand sagt das Volk schon ganz laut, daß die Gelehrten das Pestgift aus Fröschen, Meerschaum und Leichen brauen.«
Stumm hörte sich Galilei die Rede seines Sohnes an. Es erschütterte ihn zutiefst, daß sich die Kirche zu solchen Zeiten mit autoritativen Fragen abgab und gesundheitlichen Vorsichtsmaßnahmen Schwierigkeiten in den Weg legte. Papst Urban war doch ein kluger Mensch, von ihm konnte das unmöglich stammen. Dann neigte er aber doch dazu, daß das Ganze dem Papst zuzutrauen sei, der maßlos stolz und eifersüchtig auf seine Macht war und in allem gleich eine Rebellion gegen die päpstliche Autorität erblickte. Noch mehr ergriff ihn jedoch, daß der Großherzog, der verantwortliche Herrscher des Staates, sich auf den ersten Wink aus Rom schleunigst fügte und um Verzeihung zu bitten bereit war. Aber auch darüber brauchte man sich nicht zu wundern. Fernando wurde seit seiner frühesten Jugend so erzogen. Und endlich schlug es dem Faß doch den Boden uns, daß er in den Straßen von Florenz persönliche Unannehmlichkeiten haben sollte. Gab es denn auch nur einen so Wahnsinnigen, der ihm so Grauenhaftes zumutete wie Verbreitung der Pest? Dann tat er aber auch dies mit einem Achselzucken ab: alle hatten sie den Kopf verloren, waren gereizt und unberechenbar. Die Welt war verrückt geworden. Er küßte den kleinen Galileo und ging nach Hause. Kurze Zeit darauf bekam er einen Brief von seinem Sohn, und zwar nicht aus Florenz. Nencio hatte sich Urlaub verschafft und war nach Monte-Murlo übergesiedelt, einem kleinen Dorf in der Nachbarschaft. Dort hatte er sich eingesperrt und ließ niemanden in seine Nähe. Er hütete sich und seine Familie vor der Pest. Galilei war allein. Auch er rührte sich nicht aus dem Haus. Wochenlang sprach er mit niemandem. Mit der Außenwelt verkehrte er nur durch Briefe. Und unter vielen anderen erhielt er zwei Schreiben, die ihn erschütterten.
Der eine Brief kam aus München, aber Michelagnolo hatte ihn nicht geschrieben. Der Brief berichtete, daß Michelagnolo im Sterben liege. Kurz vor seinem Tode bat er den Briefschreiber, einen Italiener, seinem Bruder Galileo zu schreiben: der Sterbende bäte inbrünstig seinen Bruder um Verzeihung für alles, was er gegen ihn gesündigt habe, und empfehle seinem Schutze Frau und Kinder. Die Adresse aber hatte der Briefschreiber anzugeben vergessen, so daß sich Galilei nicht nach dem Schicksal der Hinterbliebenen erkundigen konnte.
Der andere Brief kam von Castelli aus Rom. »Aus Gründen, die er einem Brief nicht anvertrauen könne«, riet er dem Meister, auf die römische Ausgabe seines großen Werkes zu verzichten und es in Florenz drucken zu lassen. Diese geheimnisvollen Gründe waren Galilei schon von anderer Seite bekannt geworden. Mit dem Tode des Herzogs Cesi war die Akademie der »Luchse« zerfallen. Es war keiner mehr da, der sie zusammengehalten und geleitet hätte. Und auch Geld war nicht da, um die Kosten des Druckes zu decken. Die miteinander in Streit geratenen Mitglieder spalteten sich in zwei Gruppen, und die noch vor kurzem so angesehene und einflußreiche Institution war mit einem Male keine Stütze mehr für Galilei. Er hatte keine Akademie mehr, deren Einfluß ihm in der römischen wissenschaftlichen Welt hätte nützen können. Damit mußte er sich also abfinden. Er beschloß, das Buch in Florenz herauszugeben, sobald er die Druckerlaubnis erhalten habe. Aber das Imprimatur war noch immer nicht da. Einen Brief nach dem anderen schickte er ab: an Riccardi, an Visconti, an den Gesandten, an Frau Katharina, aber mehr als höfliche Ausreden erhielt er in keinem Falle. Nächtelang schlief er jetzt nicht mehr. Ununterbrochen grübelte er über die päpstliche Zensur und sein Buch nach. Hätte man die Drucklegung nicht gestatten wollen, so wäre doch inzwischen reichlich Gelegenheit gewesen, ihm dies mitzuteilen. Warum machte man auch jetzt noch Versprechungen, warum verlangte man immer von neuem einen ganz geringen Aufschub und noch ein wenig Geduld, und warum schickte man die Erlaubnis nicht? Riccardi hätte seit seinem Aufenthalt in Rom Zeit genug gehabt, das Buch Wort für Wort dreimal hintereinander durchzulesen.
Die abergläubische und blinde Furcht vor unheildrohenden Mächten fiel abermals über ihn her, und als ob ihm eine unsichtbare Faust einen Hieb versetzt hätte, traf ihn die neueste Nachricht aus Rom. Pater Scheiner, der Jesuitengelehrte aus Ingolstadt, der seit Jahren nichts mehr von sich hatte hören lassen, trat wieder mit den Sonnenflecken vor die Öffentlichkeit. Vor vielen, vielen Jahren hatten sie ihre wissenschaftliche Debatte doch bereits beendet. Damals vermittelte der Bürgermeister von Augsburg ihre Briefe. Der Wettstreit, wer zuerst die Sonnenflecke entdeckt hätte, ging in außerordentlich anständiger Weise vor sich, beide Wettbewerber sprachen stets im Tone gegenseitiger Freundschaft und größter Achtung voneinander. Und jetzt, nach so vielen Jahren, trat Pater Scheiner mit einem Buche vor die Weltöffentlichkeit, das den Titel » Rosa Ursina« trug. Dieses Buch war roh und unbeherrscht. In einem verletzenden Ton forderte er den Ruhm der Entdeckung der Sonnenflecke für sich und drängte Galilei hoheitsvoll zurück. Von diesem Buch hatte noch niemand etwas gewußt, als er sich in Rom aufhielt. Es mußte also später entstanden sein, hatte in auffallend kurzer Zeit die Druckerlaubnis erhalten und war auch schon erschienen.
Was war das? Hatte eine geheimnisvolle Hand sein Manuskript zurückgehalten, damit dieses Buch eher erscheinen konnte? Konnte es möglich sein, daß Riccardi, der liebe und gute Pater Ungeheuer, der Verwandte von Frau Katharina, so scheinheilig war und seine Hand einer Handlung bot, die sich gegen ihn richtete? Das erschien ihm ganz unmöglich. Warum kam aber das Imprimatur immer noch nicht? Und wer waren jene, die ihn in den Prozeß Morandis hineinziehen wollten? Und wer hatte an der Universität zu Pisa veranlaßt, daß er seines Gehaltes verlustig gehen sollte? Aber zu gleicher Zeit hatte ihn doch der Papst umarmt, ihm Geld geschenkt, ihm zugeredet und seine Zuneigung beteuert … Der alte Gelehrte saß zu Hause, hielt seinen heißen Kopf zwischen seinen beiden Händen und verging fast vor Grübeln.
Dann kam abermals Nachricht aus Rom. Castelli hatte mit Riccardi gesprochen. Pater Ungeheuer hatte mit unschuldigster Miene erwidert: er verstünde das Ganze nicht. Sie hätten doch abgemacht, daß Galilei wieder nach Rom zurückkehren würde, sobald die unerträgliche Hitze nachgelassen habe. Er warte nur immer darauf. Wenn Galilei aber nicht käme, dann sei es natürlich etwas anderes. Er möge also das Manuskript schicken, denn er, Riccardi, benötige noch ein zweites Exemplar, und dann wolle er nochmals, und zwar zum letzten Male, das Ganze mit dem Vorwort zugleich überprüfen. Gereizt antwortete Galilei, er habe nur noch ein einziges Exemplar und daran arbeite er zur Zeit. Er müsse das Manuskript noch an einigen Stellen ergänzen und noch durch eine Antwort an Pater Scheiner erweitern. Ein so großes Paket ließen auch die Kontrollkommissionen wegen der Pestepidemie gar nicht durch. Nach langer Zeit antwortete Riccardi, er möge dann das Vorwort schicken, und alles würde in Ordnung kommen.
Die Pest brach tatsächlich auch in Florenz aus. Nencio behielt recht. Zu Hunderten starben die Menschen täglich. Galilei rührte sich nicht aus seinem Hause. Auch seine Wirtschafterin ließ er nicht auf die Straße. Das Nötigste ließen sie sich in einem Korb durch das Fenster reichen und hielten alles über eine Schwefelflamme. Da wurden natürlich die Lebensmittel ungenießbar. Aus der Nachbarschaft hinüber und herüber gerufene Mitteilungen erzählten, daß in der Stadt Menschen herumzögen, die laut und anhaltend läuteten. Alle Menschen, die die Pest hinraffte, wurden von Amtsdienern fortgeschafft, die auf ihrem Wege stark läuteten, damit man ihnen noch beizeiten aus dem Wege gehen konnte. Jeden Tag vernahm man den Namen einer bekannten Person, die nunmehr ins Jenseits verzogen war.
Galilei schrieb das Vorwort, und zwar auf Grund jener Besprechung, die er seinerzeit mit dem Pater Ungeheuer gehabt hatte. Jeden Satz kaute er mit hämischer Freude durch: »Ich will Euch mit meinem Vorwort helfen!« dachte er grimmig.
»Vor einigen Jahren erließ man in Rom ein begrüßenswertes Dekret, das sich gegen die gefährlichen Irrlehren der Gegenwart richtete und die pythagoräische Anschauung, daß die Erde sich bewege, im rechten Augenblick zurückwies. Es fehlte nicht an völlig grundlosen Behauptungen, jener Beschluß beruhe nicht auf einer sachverständigen Prüfung, sondern sei durch Parteileidenschaft, der keine genügenden Kenntnisse zur Seite stünden, hervorgerufen. Es wurden Klagen laut, daß mit den Ergebnissen der astronomischen Wissenschaft völlig unbekannte Ratgeber nicht berufen seien, durch ein plötzliches Verbot den forschenden Geistern die Flügel zu beschneiden. Es war unmöglich für mich, beim Anhören derartiger leichtfertiger Beschwerden stillzuschweigen. Mit jenem so weisen Dekret wohlvertraut, entschloß ich mich daher, vor dem Tribunal der Welt als Zeuge für die Wahrheit aufzutreten. Ich befand mich damals in Rom. Die höchsten geistlichen Würdenträger geruhten nicht nur mich anzuhören, sondern spendeten mir auch Beifall. Und so wurde auch jenes Dekret nicht veröffentlicht, ohne daß man mich vorher in Kenntnis gesetzt hätte, Nun will ich in dieser meiner mühevollen Arbeit beweisen, daß man in Italien und vor allem in Rom über diesen Gegenstand nicht weniger weiß, als die Wissenschaft des Auslandes darüber erforscht hat. Ich will durch Zusammenstellung aller meiner eigenen Untersuchungen über das kopernikanische System dartun, daß die römische Zensur über all das schon vorher genau Bescheid wußte, daß also dieser Himmelsstrich nicht nur die Quelle der Dogmen für unser Seelenheil ist, sondern daß auch die scharfsinnigen Entdeckungen zur Vergnügung des Geistes von ihm ausgehen.
Daher habe ich im Laufe der Unterredung den Standpunkt des Kopernikus eingenommen, gehe aber von seinem System, wie es dem Mathematiker geziemt, als von einer Hypothese aus, und suche mit den verschiedensten Mitteln den Beweis zu erbringen, daß dieses System zwar an sich der Lehre von der Unbewegtheit der Erde keineswegs überlegen ist, daß aber die von den Peripatetikern angeführten Gegengründe nicht stichhaltig sind und es nicht widerlegen können.«
Er versetzte den Peripatetikern noch einige Hiebe, dann erläuterte er die Einteilung des Buches. Das war das Vorwort. Er hatte angestrengt gearbeitet, bis diese wenigen ausgeklügelten Sätze beisammen waren. Dann schickte er das Vorwort an Riccardi: das Imprimatur müsse nun wohl alsbald eintreffen, und wenn Riccardi nochmals eine letzte allgemeine Durchsicht für notwendig halte, so möge er hierzu doch jemanden in Florenz bestimmen. Aber wiederum war die Vermittlung von Frau Katharina notwendig, um zum Ziele zu gelangen. So kam endlich die Einwilligung Riccardis, daß die letzte Prüfung in Florenz vorgenommen werde. Er habe zwar ursprünglich Pater Clementi damit beauftragen wollen, habe jedoch auch nichts dagegen, wenn der Autor eine andere Person vorzöge. Das verursachte einen neuerlichen Briefwechsel. Pater Clementi stand im Rufe eines eingefleischten Peripatetikers, und mit dem wollte Galilei nicht gerne zu tun haben. Er schlug deshalb Pater Jacinto Stephani vor, welcher ordentlicher Rat der Inquisition in Florenz war und ein gebildeter, gutmütiger Mensch. Riccardi ging auf den Vorschlag ein. Galilei wagte sich also in die Stadt und nahm sein dickes Aktenbündel mit. Auf der Straße begegnete er kaum einem Menschen. Hier war alles umgekehrt wie in Mailand: die gesamte Einwohnerschaft hatte sich in ihrer Furcht hinter Schloß und Riegel verkrochen. Bei Pater Stephani mußte er sehr lange läuten, ehe endlich jemand ans Tor kam. Zuerst verleugnete der Mann an der Tür seinen Herrn. Erst nach langen Verhandlungen durfte der Gast eintreten. Der Geistliche war bereits unterrichtet, man hatte ihm aus Rom schon Bescheid gegeben. Er nahm das umfangreiche Manuskriptbündel entgegen und versicherte, die Prüfung schleunigst vorzunehmen. Sogar einen Teil seines Schlafes versprach er zu opfern.
Von hier aus ging Galilei zum Drucker. Er kam gerade am Bargello vorüber, als Glockengebimmel an sein Ohr schlug. Besinnungslos rannte er unter ein Tor, und in seiner Angst hätte er am liebsten Mund und Nase zugehalten und seine bloße Hand verborgen. Die wenigen Passanten auf der Straße flüchteten ebenso ängstlich wie er. Aber seine Neugierde war nicht weniger stark. Er lugte vorsichtig aus dem Tore des Bargello hervor. Da kam schon der traurige Zug. Ein Begleiter in einem roten Hemd ging voran und schüttelte dauernd die Glocke. Hinter ihm trug man auf roh gezimmerten Brettern drei Leichen mit Sacktuch zugedeckt. Dann war der trostlose Zug vorüber. Aber Galilei wagte noch nicht, aus dem Tor herauszutreten. Er fürchtete, daß auch die Luft von den Leichen verpestet sein könnte. Der aufreizende Klang der Glocke wollte ihm nicht wieder aus den Ohren. Erst nach langer Zeit hatte er sich so weit beruhigt, daß er sich weiter zu gehen getraute. Bei jedem Schritt schwor er sich, nie wieder aus dem Hause zu treten; künftighin wolle er alles durch Briefe erledigen.
Der Drucker hieß Landini und war ein alter Bekannter. Mit großer Freude begrüßten sie einander; denn wenn sich zu dieser Zeit zwei Bekannte trafen, waren sie besonders glücklich, daß keiner von beiden inzwischen gestorben war. Sie besprachen den Satz, die Ausstattung und die Auflagenziffer. Den Preis des fünfzig Bogen starken Werkes vermochte Landini nicht sofort zu nennen, er versprach, die Berechnung brieflich mitzuteilen und mit dem Satz sofort zu beginnen, wenn er das Manuskript in Händen habe, denn in der Zeit der Epidemie hätte er begreiflicherweise keinerlei sonstige Arbeit. Dann machte sich Galilei auf den Heimweg durch die ausgestorbenen Straßen; überall verschlossene Fenster, aber keine Menschenseele. Auf der Brücke sah er sich um und blickte die beiden Ufer entlang. Florenz war starr, düster und stumm, von weither vermeinte er wieder den furchtbaren Ton der Glocke zu hören. Erschrocken setzte er seinen Weg fort.
Wochenlang rührte er sich nun wieder nicht vom Fleck. Aus einem Brief erfuhr er, daß inzwischen sein zweites Enkelkind geboren war, eine gesundes, dickes Knäblein, das man Carlo getauft hatte. Und ein zweiter Brief meldete, daß Pater Stephani mit der Prüfung fertig sei. Seine schriftlich geäußerte Meinung war, man solle den Autor bitten, sein Buch möglichst bald erscheinen zu lassen, nicht aber ihm immer neue Schwierigkeiten in den Weg legen.
Das große Manuskriptbündel wanderte also zu Landini, der gleich mit dem Satz begann; denn die Druckerlaubnis mußte ja jeden Tag eintreffen. Aber sie blieb aus. Galilei schrieb einen Brandbrief nach Rom und bat um Rücksendung des Vorwortes. Er bekam keine Antwort. Tage und Wochen vergingen, noch immer war die Antwort nicht da. Da wandte er sich in einer Denkschrift an den Kanzler, beschrieb den langen Leidensweg seines Manuskriptes und bat, daß der Großherzog vermittelnd eingreifen möge. Seiner Bitte wurde stattgegeben. Die Regierung schrieb offiziell an Niccolini nach Rom, er möge im Namen des Großherzogs Pater Riccardi besuchen und die Angelegenheit beschleunigen. Dies geschah auch. Niccolini meldete, daß die Angelegenheit nun wohl in Ordnung kommen würde, Riccardi werde das Imprimatur erteilen, müsse jedoch noch eine Erklärung dazu abgeben, um sich zu decken. Für die Abfassung dieser Erklärung bäte er um einige wenige Tage. Zehn Tage darauf war Riccardis Antwort da, aber ohne die Druckerlaubnis. Er hätte diese zwar versprochen, schrieb er, aber doch nur unter der Bedingung, daß Galilei nach Rom käme, damit sie dort nochmals mit Ciampoli zusammen das ganze Werk überprüfen könnten. Pater Stephani wäre nicht in der Lage, die Denkweise des Papstes zu beurteilen, und seiner Aufmerksamkeit könne daher leicht etwas entgehen, woraus später Unannehmlichkeiten entstehen könnten. Wenn aber nunmehr das Vorwort nach Rom gesandt würde, würde die Angelegenheit sich ohne Schwierigkeiten abwickeln lasten.
Galilei raufte sich die Haare vor Zorn. Das Vorwort lag doch schon seit Monaten auf dem Schreibtisch von Riccardi! Zuzutrauen war es ihm ja, daß er es entweder noch gar nicht eingesehen oder verlegt hatte. Abermals schrieb er einen langen Brief an den Kanzler. Er bat, der Großherzog möge ihm in Anwesenheit des Pater Stephani und des Ober-Inquisitors von Florenz eine Audienz gewähren. Bei diesem Empfang würde Seine Hoheit sich über alle Einzelheiten genau unterrichten können und dann sicherlich in der Lage sein, energisch einzugreifen. Diesen Brief sandte er auch ab, aber schon am nächsten Tage, nachdem er die Sache überschlafen hatte, sah er ein, daß er töricht gehandelt hatte. Der Großherzog Fernando würde wohl schwerlich in eine Inquisitionsfrage persönlich eingreifen. Er müßte doch gewärtig sein, sich wiederum entschuldigen zu müssen, weil er sich mit einer kirchlichen Angelegenheit befaßt habe. Und in der Tat lehnte die Negierung die harmlose Bitte glatt ab. Der Großherzog wünsche keine derartige Audienz, aber Niccolini würde neuerdings in Rom entsprechende Schritte unternehmen.
Niccolini war wirklich unermüdlich tätig. Er erreichte schließlich, daß Riccardi die Entscheidung aus der Hand gab und sie einem anderen übertrug. Jetzt sah man erst, daß dies von Anfang an sein Ziel gewesen war. Er erklärte sich nämlich damit einverstanden, die Entscheidung über das Imprimatur dem Pater Clemente Egidio, Haupt-Inquisitor in Florenz, zu überlassen. Das war schon ein großer Erfolg. Pater Egidio versprach, mit der Lektüre so schnell wie möglich fertig zu werden. Er stand auch zu seinem Wort, und nachdem er aus Rom die Weisung erhalten hatte, daß die kopernikanische Lehre in dem Buch nur als ganz betonte Hypothese zum Ausdruck kommen dürfe, und dies der Form nach auch der Fall war, erhob er keinerlei Einwände mehr. Er fand zwar, daß das Buch ein nicht mißzuverstehendes Bekenntnis zu Kopernikus sei, aber das zu beurteilen war ja nicht seine Sache. Ihm war aus Rom lediglich befohlen worden, darauf zu achten, daß die Auseinandersetzungen nur als Vermutungen behandelt würden. Er hätte das Imprimatur deshalb auch ohne zu zögern erteilt, allein das Vorwort fehlte noch; denn Riccardi hatte es noch nicht wieder zurückgeschickt. In der Druckerei Landini waren die ersten Bogen bereits ausgedruckt, doch das Vorwort und die Erlaubnis der Zensur standen immer noch aus. Galilei schrieb an Riccardi, erhielt aber keine Antwort. Er schrieb nochmals, wieder ohne Erfolg. Da wandte er sich mit einem wutschnaubenden Brief an Niccolini. Der ging sofort in die Wohnung des Ungeheuers und erklärte, solange nicht zu weichen, als bis er die korrigierten Bogen des Vorwortes mitnehmen könnte. Nach langem Hin und Her erhielt er sie endlich. Das Vorwort wurde nach Florenz geschickt, der Haupt-Inquisitor genehmigte es, sandte es an den Verfasser, und er wagte sich abermals in die Stadt. Diesmal traf er noch viel mehr Trabanten mit roten Hemden, die bimmelnd durch die Straßen zogen, denn die Zahl der Toten war inzwischen auf Tausende angewachsen. Schauernd flüchtete er immer wieder unter ein Tor, hinter eine Säule, in eine Mauernische, bis er endlich keuchend in der Druckerei anlangte. Dort mußte für das Vorwort ein neuer Bogen genommen werden, denn gut die Hälfte des Werkes war bereits gedruckt. Außerdem besaß die kleine Druckerei nicht genügend Buchstaben von einer Type, so daß das Vorwort obendrein in einer anderen Schriftart gesetzt werden mußte.
Aber schließlich wurde das Werk doch fertig. Und auf dem ersten Blatt prangte die offizielle Zustimmung der kirchlichen Zensurbehörde.
Zwei Jahre waren vergangen, seit sein kleiner Enkel geboren war und er sein Manuskript beendet hatte. Riccardi sagte seinerzeit, die Erlaubnis käme in »einigen Tagen«. Anderthalb Jahre waren daraus geworden. Diese achtzehn Monate hatten Galileis Kräfte gebrochen. Er war ein Greis. Als er das große Werk seines Lebens beendete, war er sechsundsechzig Jahre alt, hatte aber ausgesehen wie ein Fünfzigjähriger. Heute aber, wo er mit dem ersten Exemplar seines neuen Buches an seinem achtundsechzigsten Geburtstage im Vorzimmer des Großherzogs, dem dieses Werk gewidmet war, wartete, hätte ihn jeder auf achtzig Jahre geschätzt.
Die Audienz währte zwei Minuten. Der Großherzog Fernando hielt höflich und huldvoll die Hand zum Kuß hin, sprach seine Genugtuung über die Widmung aus und »nahm« das Buch »an«, was so viel bedeutete, daß er die Druckkosten tragen wolle. Dann gab er seiner Betrübnis über die Pestepidemie und die Siege Gustav Adolfs Ausdruck und entließ seinen Hofgelehrten in Gnaden. Der aber bat die Hofleute draußen, man möge ihm eine Sänfte zur Verfügung stellen, seine Füße wären zittrig, sein Bruch bereite ihm große Beschwerden, und er hätte obendrein eine derartige Angst vor der Pest, daß er jede Sekunde in Träten ausbrechen könnte. Die Kavaliere nickten mitleidig und ließen die Sänfte kommen. Mit Ächzen und Stöhnen stieg der Greis die Treppen hinab. Mit einer Hand hielt er sich an der Wand und bei jeder Stufe legte er eine kleine Pause ein. Er hatte das Gefühl, tödlich erschöpft zu sein.
Am Schloßportal blieb er abermals stehen, um zu verschnaufen. Gerade fuhr eine Galakutsche vor, von vier Schimmeln mit prächtigem Zaumzeug gezogen. Ein hoher Geistlicher stieg aus. Er bemerkte den unter dem Tor nach Atem ringenden Greis und rief:
»Aber das ist doch der große Galilei! Erkennen mich denn Euer Gnaden nicht wieder? Ich bin Ascanio Piccolomini, der Bischof von Siena.«
»Natürlich erkenne ich Euch wieder, Monsignore. Aber meine Augen sind sehr schwach geworden. Ja, ja, auch meine Augen sind alt.«
Sie kamen ins Gespräch. Schon seit langem kannten sie sich, und Galilei stand auf recht gutem Fuße mit den Mitgliedern der weltberühmten Familie. Ascanio hatte er jahrelang nicht mehr gesehen. Der junge Bischof, fast noch im Jünglingsalter, hörte mit großer Anteilnahme die Klagen des gebrochenen Greises an.
»Ihr müßtet Euch einmal richtig ausruhen, Euer Gnaden. Solltet Ihr jemals die Absicht haben, mich, ganz gleich wann, in Siena zu besuchen, so werde ich stets überglücklich sein. Dort wird Euch immer ein gutes Bett und ein gedeckter Tisch erwarten. Und wirkliche Ruhe.«
»Ich danke aufrichtig«, seufzte Galilei, »auf mich wartet aber nur noch eine Ruhe. Die letzte. Das größte Werk meines Lebens ist erschienen. Ich habe meine Sendung erfüllt.«
Als er aber in der Sänfte saß, erwachte in ihm ein leidenschaftlicher Widerspruch gegen die Worte, die er selbst soeben gesprochen hatte. Nein, nein! Nur noch nicht sterben! Noch leben! Noch sehr lange leben!