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Elftes Kapitel

Am anderen Morgen wachte er frühzeitig auf. Er hielt es vor Ungeduld nicht mehr aus und kleidete sich an, da er den Diener nicht wecken wollte. Er trottete hin und her, machte bald dies, bald jenes und wartete. Es war schon später Vormittag, als endlich jemand kam, ihn abzuholen – und zwar kein Geringerer als Firenzuola selbst. Er übergab ihm ein Schriftstück. Draußen dröhnten die Glocken.

»Werft einmal einen Blick hinein, ob Ihr es fließend lesen könnt. Lest einige Zeilen laut vor.«

Galilei hielt den Bogen Papier erst näher, dann weiter von seinem Gesicht entfernt und versuchte, wie er mit seinen schwachen Augen die Buchstaben besser entziffern könne.

 

»Ich, Galileo Galilei, Sohn des verstorbenen Vincenzo Galilei aus Florenz, siebzig Jahre alt, persönlich vor Gericht gestellt und kniend vor Euren Eminenzen …«

 

»Es ist gut«, unterbrach ihn Firenzuola, »lest es schnell durch; denn nach der Urteilsverkündung habt Ihr es kniend laut vorzulesen. Damit Ihr dann nicht stottert und im Text steckenbleibt. Ihr könnt es auch unterwegs noch studieren. Jetzt sind wir soweit. Ich gehe voraus.«

Firenzuola eilte fort. Den Angeklagten nahmen zwei Dominikanermönche in ihre Mitte, beide trugen brennende Kerzen in der Hand. So geleiteten Mönche auf den alten Bildern Savonarola zum Scheiterhaufen … Er las das Schriftstück durch, in dem nichts Überraschendes stand: es war eine feierliche Verleugnung seiner Lehren. In langen, schlaflosen Nächten hatte er schon so viel darum gelitten, daß er die Erklärung jetzt beinahe gleichgültig las. Viel mehr beschäftigte ihn die Frage, wie das Urteil ausfallen würde.

Zu seiner größten Überraschung führte man ihn in die Kirche. In den geschnitzten Holzbänken rechts und links vom Altar saßen heute nicht die Dominikanermönche, die sonst hier ihre Andacht zu verrichten pflegten. Vielmehr saßen in der ersten Reihe auf der einen Seite Kardinäle im vollen Ornat, ohne Zweifel die Mitglieder des Kardinal-Kollegiums der Inquisition, die auf Grund der Gerichtsprotokolle das Urteil zu fällen hatten. Auch die Richter saßen dort, alle drei in einer Gruppe für sich. In den weiteren Reihen, eng nebeneinandergedrängt, geistliche Würdenträger und Mönche. Karmeliter, Jesuiten, Dominikaner, Minoriten, Franziskaner, Theatiner und viele andere in schwarzen, braunen und weißen Kutten. Die beiden Dominikaner führten ihn zu einem Tisch. Auf diesem Tisch lag zwischen zwei brennenden Kerzen eine Bibel und davor stand das Kruzifix. Als er vor seinem Platz stehenblieb, erhob sich Firenzuola und bat laut in lateinischer Sprache das Kardinal-Kollegium um die Erlaubnis, das im Prozeß des Galileo Galilei gefällte Urteil verlesen zu lassen. Die Kardinäle nickten der Reihe nach. Firenzuola griff nach einem Aktenbündel und reichte es dem Kardinal Ginetti, dem jüngsten unter ihnen. Der begann zu lesen:

 

»Wir, Caspar Borgia, Kardinal vom Titel des heiligen Kreuzes in Jerusalem,
Bruder Felix Centino, Kardinal vom Titel des heiligen Anastas,
Bruder Guido Bentivoglio, Kardinal vom Titel der heiligen Maria vom Volke,
Bruder Desiderio Scaglia, Kardinal vom Titel des heiligen Carl,
Bruder Antonio Barberini, Kardinal des heiligen Onuphrius,
Bruder Laudivio Zacchia, Kardinal vom Titel des heiligen Peter,
Bruder Berlingero Gessi, Kardinal vom Titel des heiligen Augustin,
Bruder Fabricio Verospio, Kardinal vom heiligen Laurenz,
Bruder Francesco Barberini, Kardinal vom heiligen Laurenz in Damaskus
und Mario Ginetti, Diacon,
Kardinäle der heiligen römischen Kirche durch Gottes Barmherzigkeit in der ganzen Christenheit als Inquisitoren gegen Ketzerei vom heiligen Apostolischen Stuhle eigens ernannt, verkünden das folgende:«

 

Galilei sah die Kardinäle an. Alle waren ihm bekannt, mit den meisten hatte er persönlich verkehrt. Die Kardinäle wiederum sahen ihn an. Aus den hintersten Reihen hörte man Flüstern. Man machte Bemerkungen über ihn.

 

»Da du, Galilei«, fuhr Ginetti fort, »Sohn des Vincenzo Galilei aus Florenz, siebzig Jahre alt, im Jahre sechzehnhundertfünfzehn bei diesem heiligen Offizium angezeigt wurdest …«

 

Man hatte ihn angezeigt? Also doch! Seine damaligen Seelenqualen und der gräßliche Alpdruck waren also nicht ohne Grund gewesen!

 

»… daß du die falsche, von vielen verbreitete Lehre als eine wahre festhältst nämlich, die Sonne sei im Zentrum der Welt und unbeweglich, und die Erde drehe sich tagtäglich um ihre eigene Achse, ferner: daß du einige Schüler hast, die du in dieser Lehre unterrichtest; ferner, daß du mit einigen Mathematikern Deutschlands über dieselbe eine Korrespondenz unterhältst; ferner, daß du einige Briefe erscheinen ließest mit dem Titel: ›Über die Sonnenflecken‹, in welchen du diese Lehre als wahr erklärtest; und da du auf die Einwürfe, die dir zu wiederholten Malen aus der Heiligen Schrift gemacht wurden, durch Erklärung der Heiligen Schrift nach deinem Sinn antwortetest; und da eine Kopie eines in Briefform verfaßten Schriftstückes vorgelegt ward, welches sich als von dir an einen deiner ehemaligen Schüler geschrieben erwies, und du darin, im Anschluß an die Hypothese des Kopernikus, einige Sätze gegen den wahren Sinn und die Autorität der Heiligen Schrift aussprichst:

Wollte infolgedessen das heilige Tribunal gegen die Unzuträglichkeiten und Nachteile, welche daraus entspringen und zum Schaden des heiligen Glaubens überhandnehmen, Fürsorge treffen, und so wurde im Auftrage Unseres Herrn und Ihrer Eminenzen der Herren Kardinäle dieses höchsten und allgemeinen Inquisitionsgerichtes von den Qualifikations-Theologen die Behauptung von dem Stillstehen der Sonne und der Bewegung der Erde folgendermaßen begutachtet: Der Satz, die Sonne sei im Zentrum der Welt und ohne örtliche Bewegung, ist absurd, philosophisch falsch und formell ketzerisch, weil er ausdrücklich der Heiligen Schrift widerspricht.

Der Satz, die Erde sei nicht das Zentrum der Welt und nicht unbeweglich, sondern bewege sich, und zwar auch in täglicher Umdrehung, ist ebenfalls absurd und philosophisch wie theologisch falsch und zumindest den Glaubenslehren widersprechend.

Da es uns indessen gefiel, mit Milde gegen dich zu verfahren, so wurde in der am fünfundzwanzigsten Februar sechzehnhundertsechzehn in Gegenwart Unseres Herrn abgehaltenen Kongregationssitzung beschlossen: seine Eminenz, der Herr Kardinal Bellarmin, sollte dir auftragen, die erwähnte falsche Lehre ganz aufzugeben. Im Weigerungsfalle sollte dir vom Kommissar des heiligen Offizio der strickte Befehl erteilt werden, diese Lehre aufzugeben, weder andere darin zu unterrichten, noch dieselbe zu verteidigen oder zu erörtern, und, falls du dich auch bei diesem Befehle nicht beruhigen würdest, solltest du durch Kerkerhaft bestraft werden.«

 

Das Protokoll ist falsch, dachte Galilei, seine Erinnerungen blitzschnell vor sich ablaufen lassend, das Protokoll ist falsch! Er hatte sich doch mit Bellarmin sogleich verständigt, der Kommissar des Santo Offizio hatte doch gar nichts mehr zu besprechen gehabt! Das Protokoll ist falsch! Wer mag es gefälscht haben? Wer hat wohl dem Papst die Freude bereitet, und das »ursprüngliche« Protokoll gefunden? Er versuchte, sich zusammenzureißen, denn er mußte auf die Verlesung achten.

 

»… In Ausführung dieses Beschlusses wurde dir tags darauf im Palast seiner Eminenz, des genannten Kardinal Bellarmin, nachdem du von ihm sanft ermahnt worden warst, von dem damals fungierenden Herrn Kommissar des heiligen Offizio in Gegenwart eines Notars und vor Zeugen der Befehl erteilt, daß du von der erwähnten falschen Meinung gänzlich abstehen mögest, und daß es dir in Zukunft nicht erlaubt sei, sie festzuhalten, zu verteidigen oder in irgendeiner Weise zu lehren, weder mündlich noch schriftlich. Als du Gehorsam versprochen hattest, wurdest du entlassen.

Und damit eine so verderbliche Lehre gänzlich ausgerottet werde und nicht weiter zum großen Schaden der katholischen Wahrheit um sich greife, erschien von der heiligen Index-Kongregation ein Dekret, durch welches jene Bücher verboten wurden, die von der obigen Lehre handeln, und sie selbst ward für falsch und der heiligen und göttlichen Schrift als völlig widersprechend erklärt. Als dann im vorigen Jahre in Florenz ein Buch erschien, dessen Aufschrift zeigte, daß du der Verfasser desselben seiest, da nämlich der Titel lautete: › Dialogo di Galileo delle due massimi Sistemi del Mondo, Tolomaico e Copernicano‹ und da zugleich die heilige Kongregation erfahren hatte, daß durch die Veröffentlichung obigen Buches die falsche Lehre von der Bewegung der Erde und dem Stillstehen der Sonne täglich mehr Boden gewinne: so wurde dieses Buch sorgfältig geprüft und in demselben eine offenkundige Übertretung obigen dir erteilten Befehls gefunden, weil du in diesem Buch die erwähnte, schon verdammte und in deiner Gegenwart als solche ausdrücklich bezeichnete Lehre verteidigt hast, wenngleich du in diesem Buche dich bemühst, durch verschiedene Wendungen zu überzeugen, sie sei von dir als unentschieden und ausdrücklich nur als wahrscheinlich zugelassen, was gleichfalls ein grober Irrtum ist, da eine Lehre auf keine Weise wahrscheinlich sein kann, die bereits als der Heiligen Schrift widersprechend befunden ward.«

 

Er hätte am liebsten dazwischen gerufen: »Bellarmin hatte an dieser Wahrscheinlichkeit nichts auszusetzen! Auch Papst Urban hatte an dieser Hypothese nichts auszusetzen!« Aber der Greis, der vor dem kleinen Tisch mit den brennenden Kerzen und dem Kruzifix stand, rief nichts dazwischen. Er senkte seinen Kopf tief auf die Brust und hörte schweigend zu.

 

»… Deshalb wurdest du auf unseren Befehl vor dieses heilige Offizium gerufen, wo du bei deiner Vernehmung unter Eid bekanntest, das Buch sei von dir geschrieben und in den Druck gegeben worden. Ferner bekanntest du, daß du etwa vor zehn oder zwölf Jahren, nachdem dir der obige Befehl erteilt worden war, das genannte Buch zu schreiben angefangen habest; ferner, daß du um die Erlaubnis nachgesucht, dasselbe zu veröffentlichen, ohne denjenigen, die dir dazu die Ermächtigung gaben, anzuzeigen, daß dir befohlen worden sei, diese Lehre weder festzuhalten, noch zu verteidigen, noch in irgendeiner Weise zu lehren.

Du bekanntest gleichfalls, das genannte Buch sei an vielen Stellen so verfaßt, daß der Leser sich die Meinung bilden könne: die für die falsche Lehre vorgebrachten Argumente seien so vorgetragen, daß sie vermöge ihrer Beweiskraft den Verstand eher umstricken könnten als leicht zu widerlegen seien; zu deiner Entschuldigung bringst du vor, du seiest dadurch in einen deiner wahren Ansicht angeblich ganz fern liegenden Irrtum verfallen, weil du das Buch in Gesprächsform abgefaßt habest und verleitet worden seist durch das natürliche Wohlgefallen, das jeder an seinen eigenen scharfsinnigen Formulierungen habe, und die Lust, sich geistreicher als die meisten Menschen zu zeigen, indem man auch für die falschen Sätze spitzfindige und blendende Wahrscheinlichkeitsgründe zu finden wisse, Nachdem dir ein angemessener Termin zur Abfassung deiner Verteidigungsschrift ausgesetzt worden war, brachtest du ein handschriftliches Zeugnis seiner Eminenz, des Herrn Kardinal Bellarmin vor, das du, wie du sagtest, dir verschafft hattest, um dich gegen die Verleumdung deiner Feinde zu verteidigen, welche behaupteten, du habest abgeschworen und seiest von dem heiligen Offizium mit einer Strafe belegt worden. In diesem Zeugnis wird nun gesagt, daß du weder abgeschworen habest, noch bestraft, sondern nur von der Erklärung in Kenntnis gesetzt worden seiest, die von Unserem Herrn abgegeben und von der Kongregation des Index veröffentlicht wurde, des Inhalts, daß die Lehre von der Bewegung der Erde und dem Stillstand der Sonne der Heiligen Schrift zuwiderlaufe und deswegen nicht verteidigt und nicht festgehalten werden dürfe. Da hier nun somit keine Erwähnung zweier Bestimmungen des Befehls geschieht, nämlich ›zu lehren‹ und ›auf irgendeine Weise‹, so müsse man annehmen, sagst du, daß sie im Verlaufe von vierzehn oder sechzehn Jahren deinem Gedächtnis entfallen seien, und du deswegen diesen Befehl verschwiegen habest, als du um die Druckerlaubnis für dein Buch einkamest. Das alles wurde von dir nicht vorgebracht, um deinen Irrtum zu entschuldigen, sondern damit er eitlem Ehrgeiz und nicht bösem Willen zugeschrieben werde. Aber gerade dieses Zeugnis, welches du zu deiner Verteidigung beibrachtest, hat deine Sache noch verschlimmert, insofern darin gesagt wird, die vorerwähnte Meinung sei der Heiligen Schrift zuwider, und du es dennoch wagtest, dieselbe zu erörtern, sie zu verteidigen und als wahrscheinlich darzustellen. Dabei spricht die von dir mit allerlei Künsten und Listen herausgelockte Erlaubnis keineswegs zu deinen Gunsten, da du den dir erteilten Befehl verschwiegst.

Weil es uns aber schien, daß du in betreff deiner Intention nicht die volle Wahrheit gesagt habest, erachteten wir es für nötig, zur strengen Untersuchung gegen dich zu schreiten, in welcher du katholisch geantwortet hast. Deshalb sind wir nach Betrachtung und reiflicher Erwägung dieser deiner Sache, sowie deiner oben angeführten Bekenntnisse und Entschuldigungen und alles dessen, was nach dem Rechtswege zu untersuchen und zu erwägen kam, zu folgendem, endgültigem Urteil gelangt: …«

 

In den Bänken entstand Bewegung. Galilei seufzte tief auf, und Ginetti fuhr fort:

 

»… Unter Anrufung des allerheiligsten Namens Unseres Herrn Jesu Christi und seiner glorreichen Mutter und unbefleckten Jungfrau Maria behaupten, verkünden, urteilen und erklären wir durch diese unsere definitive Sentenz, die wir, zu Gerichte sitzend …«

 

Jetzt kam das Urteil noch immer nicht, sondern eine Aufzählung der Juristen und ihrer Titel. Und zwar mit allen Einzelheiten … Galilei zitterte am ganzen Körper. Wann würde er endlich erfahren, was seiner harrte?

»… daß du dich bei diesem heiligen Offizium der Ketzerei sehr verdächtig gemacht habest; das heißt, daß du eine Lehre geglaubt und daran festgehalten hast …«

 

Jetzt kam eine lange Erklärung über die kopernikanische Lehre. Sätze, die wohl schon zum zehnten Male wiederholt wurden. Und noch immer nicht das Urteil … Aber jetzt … endlich!

 

»… daß du infolgedessen in alle Zensuren und Strafen verfallen bist, welche durch die heiligen Gesetze und andere allgemeine und besondere Konstitutionen gegen derartig Fehlende bestimmt und über sie verhängt sind. Von diesen wollen wir dich freisprechen, sobald du mit aufrichtigem Herzen und nicht erheucheltem Glauben abschwörst, verfluchest und verwünschest die obengenannten Irrtümer und Ketzereien und jeden anderen Irrtum, welcher der katholischen und apostolischen Kirche zuwiderläuft, nach der Formel, wie sie dir von uns vorgelegt werden wird.

Damit aber dieser dein schwerer und verderblicher Irrtum und Ungehorsam nicht ganz ungestraft bleibe, und du in Zukunft vorsichtiger seiest, auch anderen zum Beispiel dienest, daß sie sich vor dergleichen Vergehen hüten, so bestimmen wir, daß das Buch ›Dialoge von Galileo Galilei‹ durch eine öffentliche Verordnung verboten werde; dich aber verurteilen wir zu förmlicher Kerkerhaft bei diesem heiligen Offizium für eine nach unserem Ermessen zu bestimmende Zeitdauer und legen dir als heilsame Buße auf, in den drei folgenden Jahren wöchentlich einmal die sieben Bußpsalmen zu sprechen, wobei wir uns vorbehalten, die genannten Strafen und Bußen zu ermäßigen, umzuändern, ganz oder teilweise aufzuheben …«

 

Er verspürte ein Taumeln. Sein Herz klopfte unmäßig. Der Kerker der Inquisition … auf unbestimmte Zeit … das ist das Ende! Das ist der Tod. Damit hatte er nicht gerechnet. Aber er hatte keine Zeit, nicht einmal zum Erschrecken. Firenzuola ergriff das Wort:

»Galileo Galilei, habt Ihr das Urteil vernommen?«

»Ich habe es vernommen.«

»Seid Ihr bereit, Eure Irrtümer in der von den Eminenzen vorgeschriebenen Form abzuschwören?«

»Ich bin bereit.«

»Dann legt Eure linke Hand auf die Heilige Schrift und sprecht laut und vernehmlich den Text. Kniet nieder.«

Galilei legte seine Hand auf die Bibel. Schwerfällig sank er in die Knie. Er wollte schon anfangen zu lesen, aber ein dichter Nebel überzog seine Augen. Er mußte warten. Schließlich begann er zu lesen.

 

»Ich, Galileo Galilei, Sohn des weiland Vincenzo Galilei aus Florenz, siebzig Jahre alt, persönlich vor Gericht gestellt und kniend vor Eueren Eminenzen, den hochwürdigsten Herren Kardinälen, Generalinquisitoren gegen die Ketzerei in der ganzen christlichen Welt, die heiligen Evangelien vor Augen habend und sie mit den Händen berührend: ich schwöre, daß ich immer geglaubt habe, gegenwärtig glaube und mit dem Beistand Gottes in Zukunft alles glauben werde, was die heilige katholische apostolische römische Kirche für wahr hält, predigt und lehrt. Da mir aber das heilige Offizium den rechtskräftigen Befehl erteilt hatte, ich müsse jene falsche Meinung vollständig aufgeben, laut welcher die Sonne das Zentrum der Welt und unbeweglich, die Erde aber nicht das Zentrum sei und sich bewege, dürfe die genannte falsche Lehre weder festhalten, noch verteidigen oder in irgendeiner Weise schriftlich oder mündlich lehren; und da ich, nachdem mir bedeutet worden war, die genannte Lehre stehe mit der Heiligen Schrift in Widerspruch, ein Buch geschrieben habe und drucken lassen, in welchem ich diese schon verdammte Lehre erörtere und Gründe von großem Gewichte zu ihren Gunsten vorbringe, ohne irgendeine abschließende Lösung hinzuzufügen: so bin ich demnach als der Ketzerei schwer verdächtig erachtet worden, das heißt: festgehalten und geglaubt zu haben, daß die Sonne das Zentrum der Welt und unbeweglich, und die Erde nicht das Zentrum sei und sich bewege.

Da ich nun Eueren Eminenzen und jedem katholischen Christen diesen starken, mit Recht gegen mich gefaßten Verdacht benehmen möchte, so schwöre ich ab, verwünsche und verfluche mit aufrichtigem Herzen und nicht erheucheltem Glauben die genannten Irrtümer und Ketzereien, sowie überhaupt jeden anderen Irrtum und jedes der genannten heiligen Kirche feindliche Sektierertum; auch schwöre ich fürderhin, weder mündlich noch schriftlich, etwas zu sagen oder zu behaupten, wodurch ein ähnlicher Verdacht gegen mich entstehen könnte; vielmehr, wenn ich einen Ketzer oder der Ketzerei Verdächtigen antreffen sollte, werde ich ihn diesem heiligen Offizium oder dem Inquisitor und dem Bischof meines jeweiligen Wohnortes anzeigen. Außerdem schwöre und verspreche ich, alle Bußen peinlich zu erfüllen, welche mir dieses heilige Gericht auferlegt hat und noch auferlegen wird. Sollte es geschehen, daß ich irgendeinem dieser meiner Versprechen, Proteste und Eidschwüre, was Gott verhüten möge, zuwiderhandle, so unterwerfe ich mich allen Bußen und Strafen, welche durch die heiligen Gesetze und andere allgemeine und besondere Konstitutionen gegen derartige Übeltäter verhängt sind; so wahr mir Gott helfe und die heiligen Evangelien, die ich mit meinen Händen berühre …«

 

Firenzuola gab ihm einen Wink, er könne sich erheben. Die beiden Dominikanermönche mit den brennenden Kerzen in der Hand traten wieder zu ihm. Er konnte die vom langen Knien erlahmten Beine kaum bewegen. Durch eine Seitentür der Kirche geleitete man ihn zurück in den Konvent, aber nicht in den unbekannten, gefürchteten Kerker, sondern in seine Wohnräume. Diesmal schloß man die Tür hinter ihm ab. Auf unbestimmte Zeit. Höchstwahrscheinlich bis zum Tode. Celeste, Angela, Nencio, seine Kinder, und die beiden Enkelkinder gab es nicht mehr für ihn auf der Welt.

Er legte sich auf das Bett und begann leise zu weinen. Dann immer mehr und heftiger, bis er endlich laut schluchzte.

»Deswegen also hast du alles verraten«, stöhnte er, nach Atem ringend, »dafür? Du Elender, du Elender, du Nichtswürdiger …«

Mit der Faust schlug er sich gegen die Stirn. Am liebsten hätte er vor sich selbst ausgespien. Er höhnte und schmähte sich selbst. Plötzlich öffnete sich die Tür. Man brachte ihm zu essen. Aber nicht der Diener der Gesandtschaft, sondern ein Dominikaner. Er schüttelte nur mit dem Kopf, zum Zeichen, daß er nichts haben wolle. Dann war er wieder allein und begann von neuem mit den Selbstvorwürfen. Niemand kam zu ihm, nur abends der Dominikaner, der das unberührte Mittagessen hinausschaffte und dafür das Abendessen hereinbrachte. Er nahm keinen Bissen zu sich. Er entkleidete sich, legte sich zu Bett und weinte die ganze Nacht hindurch. Bedrängt von den Gespenstern der Finsternis, verlor er die Selbstbeherrschung endgültig und war der Tobsucht nahe. Erstickungsanfälle würgten ihn, er ohrfeigte sich, schalt sich charakterlos, einen elenden Lumpen, als ob er seinen maßlosen Zorn an einem fremden Menschen austoben wollte. Während der ganzen Nacht schlief er nicht eine einzige Minute.

Am nächsten Vormittag kam Firenzuola zu ihm und ließ ihn den in der Kirche von ihm unter Eid verlesenen Text unterschreiben. Wortlos setzte er seinen Namen unter die Urkunde. Er weinte unaufhörlich.

»Beruhigt Euch doch und seid froh, daß Ihr noch so davongekommen seid.«

»Ich will nicht froh sein«, brach es wild aus ihm hervor, »so ist mir das Leben nichts wert! Soll man mich doch zur Tortur führen, soll man mich schlagen, quälen, zertreten, ich verdiene ja nichts Besseres! Grauenhaft, grauenhaft …«

Firenzuola konnte seinen Schrecken nicht verbergen. Er dachte, der Kranke würde wahnsinnig. Eine ganze Weile versuchte er, ihn zu besänftigen, aber es gelang ihm nicht. Er bat ihn, sich zu sammeln.

»So hört doch, es ist noch Hoffnung, daß Seine Heiligkeit Euch verzeiht. Bedenkt doch, daß …«

Als er sah, daß er mit dem Rasenden nicht fertig werden konnte, ließ er ihn allein. Kaum hatte der Schlüssel sich im Schloß umgedreht und waren die Schritte auf dem Gang verhallt, da richtete der Gefangene sich auf und schrie durch die leeren Zimmer nach der Tür:

»Seine Heiligkeit kann mir verzeihen, ich mir aber nie! Nie! Nie! …«

Er hörte nicht auf zu schluchzen, und in diesem Schluchzen verströmte sich sein ganzes zertretenes Gewissen. Seit langen, bangen Monaten wurde jetzt zum ersten Male in ihm alles wieder frei, was er zurückgedrängt, mit Gewalt bekämpft hatte. Sechzig Jahre lang hatte er allen Grund gehabt, auf sich stolz zu sein, und jetzt, am Ende seines mühseligen Lebens hatte er die Achtung vor sich selbst verloren! Die Anfälle wurden immer stärker. Er lag starr im Bett, und wenn jemand das Zimmer betrat, wandte er sich nicht einmal um. Ratlos flüsternde Stimmen drangen zu ihm, er kümmerte sich nicht um sie. Er hatte Augenblicke, in denen er glaubte, sterben zu müssen. Die Gewißheit des Kerkers und die furchtbaren Seelenqualen, seine rasenden Gewissensbisse, alles das war mehr, als sein von Krankheit geschwächter, alter Körper aushalten konnte. So litt er und quälte und peinigte sich von Dienstag mittag bis Donnerstag abend. Dann horchte er bei der Stimme Niccolinis auf.

»Messer Galilei, ich bringe Euch eine gute Nachricht. Seine Heiligkeit war gnädig und hat verfügt, daß Ihr in das Gesandtschaftsgebäude kommen dürft.«

Der Gefangene richtete sich auf und wollte in seiner plötzlichen Freude etwas sagen, aber er brachte keinen Ton über die Lippen. Er sank zurück, seine Sinne schwanden.


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