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Dreizehntes Kapitel

Endlich an einem Dezembertage kam der erlösende Brief. Marchese Niccolini teilte ihm glückselig mit, daß er eine völlige Freilassung zwar nicht erreichen konnte, der Papst ihm aber die sofortige Übersiedlung nach Arcetri gestatte. Seine Villa dürfe er nicht verlassen, nur seine Töchter dürfe er im Kloster besuchen. Freunde und Verwandte dürfe er auch empfangen, aber nur wenige auf einmal, um nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, daß er eine wissenschaftliche Sitzung abhalte.

Mit Begeisterung packte Galilei seine Sachen zusammen. Der Bischof schärfte ihm bis zur letzten Minute ein, fleißig zu arbeiten. Seine Gedanken waren aber jetzt nicht bei der Wissenschaft, sondern nur bei seinem Heim und seiner Familie. Im Winter hatte er die große Reise angetreten, und jetzt war es wieder Winter, da er zur Heimreise rüstete. Elf Monate hatte der Bußgang gedauert. Er fand in seiner Villa, in seinem Schmuckkästchen, alles genau so, wie er es verlassen hatte. Auf dem Hofe lehnte der Besen noch immer in derselben Ecke, aus Porzias Küchenreich schwelte derselbe Speisengeruch und das treue Maultier kaute in dem warmen Stall ebenso friedlich wie früher. Eilends schloß er seine Schubladen auf und überzeugte sich, daß noch alle seine Schriften vorhanden waren, dann ging er ins Kloster hinüber. Celeste hatte ihn schon erwartet. Sie standen fest umschlungen da, als ob sie ein einziges Lebewesen wären. Auch Angela umarmte ihren Vater mit gebührender Freude, dann aber war sie plötzlich verschwunden. Sie blieben zu zweit, die beiden, die umeinander schwärmten, jeder der Mond des anderen im blauen Himmel der Liebe.

»Was ist mit dir geschehen?« fragte der Vater, als er nach der Umarmung seine Tochter von sich schob, um sie zu betrachten.

»Wieso, mein Herr Vater? Sehe ich nicht wohl aus?«

»Du bist doch nur noch halb! Warst du krank?«

»Ja, ich habe allerlei durchgemacht. Doch reden wir jetzt nicht davon, auf mich kommt es am allerwenigsten an. Von Euch müssen wir reden. Aber ich werde allein sprechen, damit Ihr Euch nicht ermüdet. Mein Gott, wo soll ich nur beginnen? Ich hätte tausenderlei Dinge zu erzählen. Vincenzo Landucci mit seinen sechs Gulden im Monat, Nencios … Hauskauf. Aber wartet einmal, ich habe hier meine Zettel, wo ich mir alles aufgeschrieben habe …«

Und sie redete, redete unaufhörlich und ohne Pause. Sie saßen nebeneinander in dem Sprechsaal mit der weißgetünchten Wand, und ihre Hände lagen ineinander. Galilei hörte nur mit halbem Ohr auf den langen Bericht. Er beobachtete seine Tochter. Und mit verkrampftem Herzen mußte er feststellen, daß Celeste erschreckend schlecht aussah. Ihr bleiches, faltiges Gesichtchen war das einer Fünfzigjährigen. Und doch war sie erst dreiunddreißig Jahre alt. Ihr kleiner Kopf verlor sich unter der weißen Haube wie ein zusammengeschrumpfter Pilz und in ihrer rauhen Kutte sah sie aus, als ob sie gar keinen Körper mehr hätte.

Von dem Prozeß, von dem Urteil, von allen damit zusammenhängenden Dingen sagte sie keinen Ton. Sie ließ nicht einmal zu, daß ihr Vater darüber redete.

»Das erzählt Ihr mir ein anderes Mal, wenn Ihr Euch ordentlich erholt habt. Jetzt regen Euch diese Dinge noch viel zu sehr auf. Reden wir lieber von den Weinstöcken. Wißt Ihr denn, was ich mir ausgedacht habe? Ich ließ mir von Porzia ein Fernrohr kommen und beobachtete damit, ob Giuseppe jeden Rebstock auch richtig behandelte. Man kann gerade bis dahin sehen. Ich könnte sogar die Reben abzählen mit Eurer Erfindung. Ist das ein herrliches Gefühl, zu wissen, welch großer Mann mein Vater ist –«

Galilei hielt schweigend die Hand seiner Tochter in der seinen und schämte sich vor sich selbst: wie hatte er nur eine Minute lang denken können, daß sich dieses ganz von Liebe erfüllte Geschöpf auch nur um einen Zoll von ihm abwenden würde! Als der Abend hereinbrach und er gehen mußte, verabschiedete er sich mit einem »Auf Wiedersehen bis morgen«, aber am Tor schlich er zurück und verlangte die Oberin zu sprechen.

»Hochwürden, was ist denn mit meiner Tochter? Sie ist in einem einzigen Jahre um zehn Jahre gealtert. Ist sie etwa krank?«

»Ich kann es Euch nicht sagen, Messer Galilei. Sie hat wohl sehr viel gearbeitet; auch in der Krankenpflege ging sie stets mit gutem Beispiel voran. Die Zeit dazu stahl sie sich von ihrem Schlaf ab. Es ist ein besonderes Wunder Gottes, daß sie nicht die Pest bekommen hat. Die arme Suor Katharina ist nämlich daran gestorben, die von Suor Celeste gepflegt worden war. Nächtelang wachte sie an ihrem Krankenlager. Ich bin aber trotz allem der Meinung, daß alles das nicht so sehr an ihr gezehrt hat wie die Sorge um Euch.«

»Wie hat sie diese Zeit ertragen?«

»Sie betete und hoffte. Wir haben sie alle bewundert. Als ob sie schon hier auf Erden ein Engel geworden wäre. Ich selbst habe manchmal das Gefühl gehabt, daß ihr Gesicht im Dunkeln leuchtet, als sei es von einem Glorienschein umgeben. Messer Galileo, wenn jemand auf dieser Welt wirklich heilig ist, so ist es Eure Tochter.«

»Und hat sie meinetwegen nie geklagt? Hat sie nie gesagt, daß sie sich fürchtet?«

»Nie. Eher hat sie uns noch ermutigt, wenn wir uns um Euch sorgten. Diese kleine, schwache Frau ist mit ihrem Glauben einer solchen Kraft fähig, daß sie Berge versetzen könnte. Ich hoffe nur, daß sie sich nunmehr auch körperlich etwas erholt, nachdem Ihr wieder gesund heimgekehrt seid. Jetzt ist auch weniger zu tun, und von der Pest kann man auch allmählich sagen, daß sie vorbei ist. In jedem Übel steckt etwas Gutes: Ihr habt wenigstens die gefährlichsten Zeiten weit weg von dieser Seuche verbracht.«

»Ich, ja, aber sie nicht. Mir läuft noch jetzt die Kälte über den Rücken, wenn ich daran denke, daß Celeste hätte die Pest bekommen können. Und was ist mit meiner Tochter Angela?«

Die Oberin hob die Schultern.

»Sie ist wie immer. Sie zieht sich zurück und nimmt an der Unterhaltung keinen Anteil. In den heiligen Exerzitien ist sie ziemlich nachlässig, ich muß sie öfters ermahnen. Sie ist manchmal recht streitsüchtig und dann läuft das ganze Kloster zusammen. Wenn sie sich aber ausgetobt hat, ist sie für eine Weile wieder ganz gut zu leiden. Auch sie war oft kränklich, aber ihre Natur ist viel widerstandsfähiger. Beruhigt Euch also, Messer Galilei, jetzt wird alles gut werden.«

Er beruhigte sich auch und ging heim. Zu Hause hatte man schon seine Sachen ausgepackt. Glückselig ordnete er die in Siena gemachten Aufzeichnungen zwischen die alten ein und stellte fest, daß die Arbeit sehr schön vonstatten ging. Das Werk der »neuen Wissenschaften« wurde ein schönes, großes Buch. Er beschloß, die Form des »Dialoges« beizubehalten. Die Gesprächsteilnehmer hatten ja am Ende des ersten Buches auch vereinbart, wieder zusammenzukommen. In den Stunden des Entsetzens vor der heiligen Inquisition war ihm der Gedanke gekommen, dieses Buch fortzusetzen und in der Fortsetzung Kopernikus zu verleugnen. Dieses furchtbare Versprechen war durch seinen Schwur in der Kirche Sopra Minerva gegenstandslos geworden. Sagredo, Salviati und Simplicio sollten also abermals zusammenkommen, diesmal jedoch nicht über Astronomie reden, sondern den Grundstein zu einer völlig neuen physikalischen Weltanschauung legen. Es stand auch schon fest, daß sich die drei Personen im Arsenal von Venedig treffen würden. Dort gab es so viele Maschinen, Kräne, Hebel und allerlei andere technische Dinge, daß er im Zusammenhang damit alles Mögliche zur Sprache bringen konnte. Das Buch sollte so geschrieben sein, daß es der Geschichte der Naturwissenschaften eine ganz neue Zeit eröffnete. Und vielleicht war es ihm beschieden, damit eine Scharte auszuwetzen in seinem wissenschaftlichen Ansehen, das in den Augen aller Gelehrten der Welt Schaden erlitten hatte. Dieses Bewußtsein, die friedliche und vertraute Stille seines Heimes und die Nähe seiner Töchter, das alles zusammen heilte seine Wunden gleich einer schnell wirkenden Arznei. Jetzt fehlte nur noch, daß er nach Florenz in die Stadt dürfte. Er mußte zum Arzt wegen der zahlreichen Leiden seines Greisenalters und hatte außerdem eine ganze Reihe Familienangelegenheiten zu erledigen, derentwegen er hier und dort vorsprechen wollte. Er zerbrach sich gerade darüber den Kopf, mit welcher Begründung er diese neuerliche Vergünstigung vom Papst erbitten könnte, als sein kleiner Diener Gepe, vor Aufregung fast erstickend, zu ihm ins Zimmer stürzte:

»Der Großherzog ist da!«

In der Tat, Seine erhabene Hoheit der Großherzog Fernando II., Herrscher von Toskana, überraschte den greisen Hofgelehrten in Begleitung seines Kanzlers Cioli, eines Adjutanten und des Hofkaplans. Während des Prozesses hatte der Großherzog für seinen weltberühmten Untertan kein einziges Wort beim Papst eingelegt; vielleicht war es jetzt sein Gewissen, das ihn veranlaßte, Galilei aufzusuchen. Untertänigst bat Galilei die erlauchte Gesellschaft, Platz zu nehmen. Ganz benommen trippelte er um sie herum und konnte seine Dankbarkeit für die große Ehre nicht genügend bezeugen. Fernando weilte schon das zweite Mal unter seinem Dach. Als er ihn das erste Mal, nach dem Tode des unvergeßlichen Cosimo, besuchte, war er zehn Jahre alt. Jetzt zählte er einundzwanzig. Ein junger Mann mit leiser Stimme, unbeholfenen Bewegungen und einem den Eindruck der Ängstlichkeit erweckenden Benehmen. Wenn ihn jemand ansprach, fuhr er zusammen, und wenn er selbst etwas sagte, blickte er sofort Cioli und den Geistlichen an, in ihren Mienen Zustimmung oder Tadel suchend.

Der Besuch währte nur wenige Minuten. Der Großherzog erkundigte sich nach dem Wohlbefinden seines Hofgelehrten und versicherte ihn seiner unveränderten Zuneigung. Wichtig sei einzig und allein, daß der Verurteilte sich stets als ein treuer und reumütiger Sohn der Kirche zeige. Schließlich fragte er ihn, ob er ihm eine Gunst erweisen könnte.

»Eure Hoheit, ich hätte eine große Bitte. Ich bitte Eure Hoheit, doch dahin zu wirken, daß mir gestattet wird, in die Stadt zu gehen. Ein Arzt kommt während der Wintermonate nicht zu Fuß hierher, und die Kosten für einen Wagen zu bezahlen, bin ich nicht in der Lage. Wenn Eure Hoheit dem Kardinal Barberini schreiben würden, der bei seinem Onkel, Seiner Heiligkeit, großen Einfluß hat, so würden Eure Hoheit mir eine große Wohltat erweisen.«

»Wir wollen es versuchen«, erwiderte der Großherzog und warf Cioli einen Seitenblick zu, »Wir würden es außerordentlich bedauern, wenn ein so bevorzugter Günstling von Uns an den Feierlichkeiten Unserer bevorstehenden Vermählung nicht teilnehmen könnte.«

Damit reichte der Herzog ihm die Hand zum Kuß und erhob sich. Der Greis gab seinen Gästen das Geleite und benutzte die Gelegenheit, mit einigen Worten noch um Gnade für seinen Sohn zu bitten. Dann fuhren die zwei Galakutschen inmitten der Gaffer von Arcetri wieder ab. Der erlauchte Bräutigam und sein Gefolge entschwanden an der Biegung Giullanis dem Blick. Seine Hoheit war schon seit geraumer Zeit Bräutigam: er hatte sich mit der Herzogin von Urbino verlobt, Vittoria delle Rovere, die jetzt vierzehn Jahre alt war. Seinerzeit hatte man ihm das ganze Urbino als Mitgift zugesagt, inzwischen hatte aber der Papst das gesamte Gebiet mit Beschlag belegt. Der Herzogin Vittoria blieb nur eine sehr bescheidene Mitgift.

Von da an lebte der greise Gelehrte in der stillen Hoffnung, in absehbarer Zeit wieder in die Stadt gehen zu können. Das wäre schon deswegen wichtig gewesen, da sein Neffe ihn tatsächlich wegen einer Monatsrente von sechs Goldgulden verklagt hatte und er bisher nicht imstande gewesen war, vor Gericht zu erscheinen. Immer wieder schickte er Bekannte in seiner Vertretung und besprach die Angelegenheit nur mit Celeste.

Es lag ihm aber besonders daran, Celeste zu entlasten, auch in ihren gemeinsamen Gesprächen, wie es nur möglich war. Sie machte eine merkwürdige Wandlung durch, seit ihr Vater zurückgekommen war. Man hätte denken sollen, daß die Freude ihre körperliche Kraft heben würde, aber gerade das Gegenteil war der Fall: sie wurde zusehends immer weniger und verfiel. Es war, als ob sie sich im vergangenen Jahr nur mit überirdischer Kraft hätte aufrecht halten können und jetzt, wo die Sorge um ihren Vater aufgehört hatte, ihre seelische Spannkraft einen Rückschlag bekommen hätte. Celeste war nicht eigentlich krank, aber sie nahm zusehends ab, als ob das Feuer ihrer Augen das Öl ihres Lebenslichtes verzehrte. Denn von der Nonne waren beinahe nur noch ihre schönen großen, weiten, unergründlichen Augen übrig. Das Gehen fiel ihr unendlich schwer. Sie mußte den ganzen Tag das Bett hüten und erhob sich erst, wenn die Zeit des väterlichen Besuches herannahte. Ihre Sprache sank zum Flüstern herab und ihre wie Pergament zusammengeschrumpften Finger konnten nur ganz leise und behutsam die Hand des Vaters drücken. Jede Woche einmal lasen sie laut die Psalmen miteinander, und zwischen den Strophen mußten sie immer wieder eine Pause einlegen, weil Celeste der Atem ausging.

Aber der Vater hörte nicht auf zu hoffen. Celeste war doch erst dreiunddreißig Jahre alt und hatte kein organisches Leiden. Nach einem Jahr seelischer Spannung war der Rückfall durchaus verständlich. Sie würde sich allmählich wieder sammeln und langsam genesen. Man mußte nur darauf achten, daß sie in dem verwelkten Zustande, in dem sie sich befand, von keiner Krankheit heimgesucht wurde; denn dieses Herbstblatt hätte schon der leiseste Hauch vom Baume wehen können.

Der Vater übernahm die Rolle, sie zu unterhalten. Eine Neuigkeit fand sich jeden Tag, die er ihr erzählen konnte. Auch solche gab es natürlich, die er für richtiger hielt, zu verschweigen. So die Nachricht, daß das Gericht im Prozeß des jungen Landucci dem Anwesenden recht gegeben und den Abwesenden verurteilt hatte. Oder die Botschaft, die man ihm persönlich aus Siena übermittelte, weil es nicht ratsam gewesen wäre, sie einem Briefe anzuvertrauen: jemand, ein Namenloser, habe den Bischof Ascanio Piccolomini beim Santo Offizio angezeigt. Der Anzeige nach sollte der Bischof während der Anwesenheit Galileis in der Stadt offen behauptet haben, man habe den Gelehrten zu Unrecht verurteilt. Sein Name würde ewig leben, da könne die heilige Inquisition machen, was sie wolle. Obwohl es vor einem Inquisitionsverfahren strengstens untersagt war, davon zu sprechen, teilte ihm der Bischof den Vorfall mit und bat seinen alten Freund gleichzeitig, sich nicht zu beunruhigen, ihm könne nichts geschehen.

So etwas erzählte er Celeste also nicht, dafür fand er aber hundert andere Kleinigkeiten. Celeste hörte ihm still mit sanfter Heiterkeit zu und nahm immer mehr und mehr ab. So ging es drei Monate lang. Und eines Tages, Ende März, konnte Galileo mit seiner Tochter nicht mehr reden. Celeste fühlte sich so schlecht, daß sie ihre Zelle nicht mehr verlassen konnte. Der Vater erschrak, aber Angela beruhigte ihn: es sei nichts Besonderes, eine einfache Magenverstimmung. Er wollte Celeste unter allen Umständen sehen, aber er durfte nicht. Die Klausur konnte er nicht übertreten, außer dem Arzt und dem Geistlichen hatte da kein Mann Zutritt.

Am anderen Tage erhielt er die Nachricht, daß er keinen Grund habe, sich zu ängstigen, der Zustand der Kranken sei unverändert; morgen würde er sie sogar schon wieder sehen können. Aber auch am vierten Tage wurde ihm die gleiche Auskunft zuteil. Da hielt er es nicht länger aus. Er flehte die Oberin an, man möge ihn zu seiner Tochter lassen.

»Macht mir das Herz nicht schwer, Euer Gnaden, Ihr wißt doch, daß es unmöglich ist. Wenn die kirchlichen Behörden im Hinblick auf diesen Ausnahmefall die Erlaubnis erteilen würden, hätte ich ja nichts dagegen.«

»Aber mir ist es doch untersagt, in die Stadt zu gehen, versteht mich doch! Und wie soll ich das brieflich erledigen? Jede Minute treibt mich zum Wahnsinn. Ich bitte Euch bei den sieben Wunden Christi, laßt mich zu meiner Tochter. Denkt, ich sei ein Arzt.«

»Also gut, wenn sich der Zustand Suor Celestes bis morgen nicht gebessert hat, will ich eine Ausnahme machen.«

Am anderen Tage wurde er wirklich eingelassen. Die Oberin hatte jede Nonne in ihre Zelle befohlen. Galileo trat bei seiner Tochter ein. Er war zum ersten Male in ihrer Zelle. Das ärmlichste, kahlste Zimmer, das man sich vorstellen konnte, eng, wie ein Verließ. Über dem Bett hing ein Kruzifix, darunter das Bildnis des Vaters, ein Kupferstich, der einst seiner Streitschrift über die Sonnenflecken beigegeben war. Unter diesen zwei Bildern, die sie in ihrem irdischen Dasein am meisten liebte, lag Celeste. Sie hatte die weiße Haube abgelegt. Ihr Kopf schien überraschend klein auf dem grobleinigen Kissen. Die Umrisse ihrer Figur, die die Decke nur ahnen ließ, wiesen die Zeichnung eines unwahrscheinlich mageren Kinderkörpers auf. Angela saß neben dem Bett auf einem Stuhl. Jetzt aber überließ sie ihren Platz dem Vater, um die Gelegenheit zu benutzen und ein wenig zu schlafen; denn sie hatte die ganze Nacht bei der Kranken gewacht.

Galilei setzte sich nicht auf den Stuhl, er kniete neben dem Bett nieder und umarmte zärtlich die erschreckend mageren Schultern seiner Tochter.

»Meine teure Kleine, meine Einzige … sei wieder gesund … ich bange mich fürchterlich um dich … Was fehlt dir denn?«

Mit schwacher Bewegung legte Celeste ihre Hand auf den Kopf ihres Vaters. Sie hatte kaum die Kraft, ihn zu streicheln.

»Die Ruhr«, flüsterte sie leise, fast gleichgültig, »ich bin in Gottes Hand.«

Dann schloß sie die Augen wieder und sprach nicht mehr. Man konnte nicht wissen, ob sie noch wach war oder ohne Besinnung. Nach langer Pause lächelte sie.

»Was ist, mein Herz?« fragte der Vater.

»Ich habe geträumt. Ich habe die Mutter im Traume gesehen. Sie war so schön wie einst in Padua. Und hat mich sehr lieb gehabt.«

Dann, nach einer kleinen Pause, fragte sie mit geschlossenen Augen:

»Mein Herr Vater, was lehrt denn Aristoteles von Gott?«

»Aber mein Engel, dir ist doch jetzt nicht wohl … ermüdet dich denn so etwas nicht?«

»Nein, nein, sagt es mir nur, ich kann aufpassen.«

»Er lehrt, daß Gott ohne Materie sei, also die Welt nicht auf physikalischem Wege bewegt, sondern auf eine geistige Art. Daß er in jedem Lebewesen Sehnsucht und Liebe erweckt. Und wenn wir ihn lieben, dann vermögen wir in uns das wiederzufinden, was gut, vollkommen und ewig ist.«

»Wie schön ist das! Aristoteles war ein Christ. Zürnt ihm doch nicht so sehr.«

»Ja, mein Liebling, ich verspreche dir, daß ich ihm gegenüber geduldiger sein werde.«

Dann wieder tiefe Stille. Und nach einer langen Pause flüsterte die Kranke kaum hörbar:

»Mein Herr Vater … ich habe Euch unsagbar lieb …«

Und dann schwieg sie wieder.

Kurze Zeit darauf trat die Oberin mit dem Arzt in die Zelle. Galilei erhob sich, sie grüßten einander mit stummem Kopfnicken. Der Arzt gab ihm einen Wink, sich zu entfernen; er wollte die Kranke untersuchen. Galilei wartete draußen auf dem Gang, selbst einer Ohnmacht nahe. Nach einer ganzen Weile kam der Arzt erst wieder.

»Sie hat die Besinnung verloren, es ist besser, wenn wir sie jetzt in Ruhe lassen. Auch für Euer Gnaden ist es Zeit, nach Hause zu gehen. Die Oberin möchte Euch dazu nicht ermahnen.«

»Ja, ich gehe gleich«, sagte er folgsam, »ich will sie nur noch einmal sehen.«

Er trat an das Bett. Er neigte sich über die Kranke und küßte sie auf die Stirn. Sie rührte sich nicht. Galileo wandte sich an die Oberin.

»Wollte sie nicht beichten?«

»Doch, sie hat schon gebeichtet und kommuniziert … schon nachmittags … und …«

»Ich weiß. Sie hat die Sterbesakramente empfangen«, sagte er ruhig. »Ich will jetzt … ich werde jetzt …«

Er blieb stecken, er vergaß, was er sagen wollte. Sanft schob ihn die Oberin aus der Zelle. Auf dem Gang nahm ihn der Arzt beim Arm und zog ihn mit fort. Sie sprachen kein Wort. Vor dem Kloster wartete auf den Arzt ein zweirädriger Karren mit einem Maulesel.

»Ist keine Hoffnung, Doktor?«

»Leider keine. Sie wird kaum nochmals die Besinnung erlangen. Den Morgen wird sie nicht mehr erleben. Ich fühle aus ganzem Herzen mit Euch, Messer Galilei.«

Er antwortete nicht. Der Karren ratterte über den Weg, Galilei trat zu Fuß den Heimweg an. Es dämmerte. Als er durch die Pforte trat, lief ihm Porzia entgegen.

»Ein Geistlicher erwartet Euch. Er sitzt schon seit anderthalb Stunden hier.«

»Was für ein Geistlicher?«

»Ich weiß es nicht. Er behauptet, von der heiligen Inquisition zu kommen. Die Schubladen sind geschlossen. Giuseppe ließ ihn Platz nehmen.«

»Es ist gut. Ihr, Porzia, geht jetzt hinüber in das Kloster. Suor Celeste ist sehr krank. Wartet dort und bringt mir sogleich Nachricht, wenn sich irgend etwas ereignen sollte.«

Porzia schrie auf und lief zurück, um sich ein Tuch zu holen; dann rannte sie in das Kloster …

Galilei trat in das Haus. Dort erwartete ihn der Geistliche. Als Galilei eintrat, erhob er sich.

» Laudetur. Mein Name ist Padre Fanano, ich komme vom Santo Offizio.«

»Gott zum Gruße, womit kann ich Euch dienlich sein?«

»Ich habe Euch einen Befehl zu übergeben. Dieser Befehl lautet wortwörtlich: Ihr möget das Santo Offizio nicht mit neuen Bitten behelligen, sonst könnte die heilige Inquisition die Geduld verlieren. Wenn Ihr nicht Ruhe geben könnt, begebt Ihr Euch in die Gefahr, wieder eingekerkert zu werden. Seid so gut, diese Erklärung zu unterzeichnen, als Zeichen dafür, daß Ihr von diesem Befehl Kenntnis genommen habt.«

Gehorsam setzte Galilei seinen Namen auf das Schriftstück.

»Ich bitte, dem Herrn Großinquisitor in Rom zu melden, daß nunmehr nur noch ein Arzt in der Lage ist, meinen Bruch zu verbinden. Deshalb habe ich gewagt …«

»Das ist kein Grund«, unterbrach ihn der Geistliche, »die Stadt ist nahe genug, Arzt und Arznei können leicht hierher geschafft werden. Laudetur.«

» In Aeternum.«

Der Geistliche, Padre Fanano, war gegangen.

Der Greis zuckte nur mit den Achseln. Jetzt kümmerte ihn gar nichts mehr. Er wartete. Der Diener brachte das Abendessen, er schickte ihn wieder hinaus. Er setzte sich an das Fenster, von wo aus er das Kloster am besten sehen konnte. Unentwegt blickte er zu den erleuchteten Fenstern hinüber. Er konnte sich ausrechnen, welches Fenster es war. So wartete er bis morgens um drei Uhr. Dann hörte er die Türe schlagen und das verzweifelte Schluchzen der heimkehrenden Porzia. Celeste war gestorben.


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