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Fünfzehntes Kapitel.

Und wiederum änderte sich das Wetter. Die Wolken verzogen sich und die Sonne kehrte wieder und vergoldete die lächelnde Landschaft. Das Gras schien grüner, die Blumen leuchtender zu sein, und die Vögel sangen lauter und heller. Die See lag wieder da wie ein Stück blauer Seide und der Himmel spannte sich darüber wie blauer Samt. Die Bäume breiteten sehnsüchtig ihre Arme aus, dem neuen Licht, der neuen Wärme und der milderen Luft entgegen.

Gegen Mittag hatte Anthony Susanna an ihrem Lieblingsplätzchen in dem kleinen Fichtenwäldchen am Bach gesucht und gefunden und ging dann an ihrer Seite am Ufer des Baches entlang zum Teich.

Zu Ehren der wiedergekehrten Sonne trug sie ein weißes Kleid aus weicher Seide, und als sie ihr Weg über eine schattenlose, sonnige Wiese führte, öffnete sie einen weißen, mit Rüschen und Falbeln reich besetzten Sonnenschirm.

»Das achte Weltwunder!« rief sie. »Ein Olivenbaum, der Rosen trägt!«

Sie wies auf eine knorrige alte Weide am Teich, deren dürre Äste und graugrüne Blätter sie tatsächlich einem Olivenbaum ähnlich machten. Eine Schlingrose kletterte bis auf ihren Wipfel und überschüttete sie mit roten Rosen.

»Und nun werde ich Ihnen das neunte Weltwunder zeigen, wenn Sie mitkommen wollen,« versprach sie.

Sie führte ihn durch einen langen breiten Weg, der auf beiden Seiten von leuchtenden Hortensien eingefaßt war, die in allen Farben des Regenbogens prangten.

»Das neunte Wunder der Welt geht neben mir,« dachte er, während sie die herrlichen Schattierungen der blühenden Hortensien bewunderte. Der Weg führte auf eine Rosenlaube zu, in der Gartenstühle und ein Tisch standen.

»Wollen wir uns hier ein wenig setzen?« fragte Susanna.

Sie legte ihren Sonnenschirm auf den Tisch, und beide machten es sich unter dem duftigen Rosendach bequem. Auf dem Tisch stand eine chinesische Vase, rot und golden, mit einem Deckel, der Drachenhenkel hatte.

»Gelegenheit ist alles – auf die kommt alles an,« dachte Anthony, »aber wie erkennen, ob eine Gelegenheit die richtige ist – darin liegt die Schwierigkeit! Ob dies wohl meine Gelegenheit ist?«

Er sah sie an, und sein Herz klopfte und hielt ihn zurück.

»Wie herrlich die Rosen duften!« rief Susanna. »Wie sie das wohl machen? Ein Büschel Sonnenstrahlen, ein paar Tautropfen, eine Handvoll brauner Erde und aus den paar Zutaten destillieren sie diesen himmlischen Duft!«

Sie sprach leise, als fürchte sie, belauscht zu werden.

Anthony sah sich um.

Noch vor einem Augenblick war nirgends ein Vogel zu sehen gewesen, obgleich die Luft von Vogelsang erfüllt war. Nun aber tauchten auf dem zur Laube führenden Weg wenigstens zwanzig Vögel auf – drei oder vier Spatzen, ein Pärchen Buchfinken und sonst lauter Grünfinken. Sie lugten alle erwartungsvoll nach der Laube, hüpften auf sie zu, dann wieder zurück und wieder vorwärts und kamen allmählich näher, immer näher.

Susanna nahm mit einer vorsichtigen Bewegung den Deckel mit den Drachenhenkeln von der Vase. Diese war ganz mit Vogelfutter gefüllt.

»Aha, ich verstehe,« sagte Anthony, »Kostgänger! Aber haben Sie auch bedacht, daß es die Arbeitsfähigen zu Bettlern macht, wenn man Almosen an sie austeilt?«

»Bst!« flüsterte sie. »Machen Sie sich unsichtbar und verhalten Sie sich ganz ruhig.«

Dann nahm sie eine Handvoll Körner, beugte sich vorwärts und begann leise, ganz leise zu singen:

» Tui-te, tui-te,
Uccelli, fringuelli,
Passeri, verdonelli,
Venite, venite!
«

Und so wieder und immer wieder.

Die Vögelchen zauderten anfangs, faßten dann Zutrauen und kamen immer näher, bis sich schließlich einige der mutigsten in die Laube wagten … dann war das Eis gebrochen. Sie getrauten sich alle zu kommen; drei flatterten in ihren Schoß und einige auf den Tisch. Sie streute auf den Tisch, in ihren Schoß und zu ihren Füßen Futter aus. Dann nahm sie eine zweite Handvoll Körner und sang sanft, ganz sanft, beinahe wie ein Wiegenlied, mit ausgestreckter Hand:

»Perlino, Perlino,
Perlino, Perlino,
Wo ist mein Piumino?
Perlino, herbei!«

Ein Grünfink flog auf den Tisch, von da auf ihre Kniee, dann auf ihre Schulter und ließ sich schließlich auf ihren Daumen nieder, von wo aus er zu picken anfing.

Sie fuhr in ihren sanften Tönen fort zu summen:

»Dies ist Perlino,
So grün, so grün.
Er ist der beste von allen,
Der lieblichste Sänger von allen.
Die Kunde, die ich gebe,
Muß ich kleiden in Gesang,
Denn spräche ich anders als so,
Würden sie angstvoll entweichen.
Doch ich hoffe, Sie werden bewundern,
Wie schön ich mißachte sowohl Rhythmus als Reim.
Ist dies hier nicht das neunte Wunder der Welt?
Daß diese Vögelchen alle, die wilden,
Nicht der Spatz, der freche, allein,
Auch die Finken, die schüchternen, scheuen,
So zahm konnten werden und so lieb?
Oh, es kostete viel der Zeit und Geduld.
Tagtäglich mußt' ich kommen
Zur nämlichen Stund'
Und sitzen so still und so ruhig
Und leise, ganz leise
In einförmigem Ton
Mußt' ich summen, summen, summen,
Wie ich es tue jetzund.
Weit warf ich die Körner zuerst,
Dann näher, näher, immer näher,
Bis dann zuletzt –
Sie sehen das Ende!«

Ihre Augen lachten, aber sie hütete sich, auch nur die leiseste Bewegung zu machen. Anthony drückte sich in die duftende Rosenwand, stand still wie ein Marmorbild und dachte: »Ach, diese Augen, diese Lippen und diese Hand!«

Sie nahm ihren Gesang wieder auf:

»Perlino, Perlino
Ist der beste von allen.
Und nun, da zu Ende sein Mahl,
Will er uns singen ein Lied.
Manchmal tut er's, manchmal auch nicht.
Tui-te, tui-te, tui-te,
Komm, mein Perlino, tui-te!
Canta, di grazia, canta!«

Und nach einigem weiteren Zureden geschah das Unerhörte: auf Susannas Daumen sitzend begann Perlino Piumino ein Lied zu singen. Er warf das Köpfchen zurück, öffnete seinen Schnabel und ließ seinen hellen, kristallklaren Sang ertönen. Sein kleines Brüstchen bebte vor Eifer und Anstrengung.

»Ist es nicht fast unglaublich?« flüsterte Susanna. »Es ist köstlich, ihn auf der Hand zu fühlen. Sein ganzes Körperchen pocht wie ein Herz.«

Und als sein Lied zu Ende war, da beugte sie sich ganz, ganz vorsichtig zu ihm nieder und hauchte einen Kuß auf sein grünes Köpfchen.

»Und nun fliegt fort, meine Vögelchen – geht wieder euern Geschäften nach,« sagte sie. »Lebt wohl! Auf Wiedersehen morgen!«

Als sie aufstand, flatterte alles in buntem Wirbel um sie her.

»Wollen auch wir weiter gehen?« fragte sie Anthony, als sie die letzten Körner von ihrem Kleid schüttelte. »Wenn wir noch hier bleiben, glauben sie, sie kriegten noch mehr, und für heute haben sie genug.«

Sie machte ihren Sonnenschirm auf und ging mit Anthony wieder durch den Hortensienweg zurück.

»Ich bin sprachlos,« sagte Anthony. »Es kann ja natürlich nicht Wirklichkeit gewesen sein, aber ich würde darauf schwören, daß ich gesehen hätte, wie Ihnen ein Grünfink aus der Hand gefressen, auf Ihrer Hand sitzend ein Liedchen gesungen habe, und daß Sie ihn dann geküßt hätten!«

Susanna lachte leise aber sieghaft unter ihrem weißen Sonnenschirm.

»Ich will mich gemäßigt ausdrücken,« fuhr Anthony fort, »aber das war die vollendetste Schaustellung, die ich je gesehen habe. Ja, wenn es ein Sperling oder eine Taube gewesen wäre, aber ein Grünfink, ausgesucht ein Grünfink –!«

»Es gibt nur wenig Vögel, die man nicht zahm machen kann,« entgegnete Susanna. »Sie müssen nur die Tierchen daran gewöhnen, Sie zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort zu sehen; dann müssen Sie sich sehr ruhig verhalten und nur ganz sachte bewegen, ihnen vorsummen und Futter bringen. Ich habe in Italien viel scheuere Vögel als Buchfinken gezähmt – Vögel wie Goldfinken und Nonnenmeisen, ja sogar eine Golddrossel. Haben Sie einen Vogel erst zahm bekommen, so vergißt er Sie nie. Jahr um Jahr kehrt er von seiner Wanderung an den alten Platz zurück und erkennt Sie wieder und nimmt die Freundschaft wieder auf, bis – bis er endlich einmal nicht wiederkehrt.«

Mittlerweile waren sie in eine schattige Ulmenallee gelangt. Um den Stamm einer alten Ulme lief eine Bank. Susanna setzte sich und Anthony blieb vor ihr stehen.

»Ich hoffe übrigens,« sagte sie mit einem eigentümlichen Lächeln, »daß die Moral meiner kleinen Vorstellung für Sie nicht verloren gegangen ist.«

»Eine Moral? Oh!« sagte er. »Ich habe gedacht, Sie hätten mir das Schöne um des Schönen willen gezeigt.«

»Manchmal enthält auch das Schöne eine Moral. In diesem Falle heißt sie: Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg! Wir müssen wieder an unsre Verschwörung denken. Ich glaube, ich habe den Weg gefunden, den echten Grafen von Sampaolo wieder in seine Rechte einzusetzen.«

Anthony lachte.

»Es gibt zwei Wege,« sagte er, »wie er es machen könnte. Entweder er müßte ein Heer ausrüsten und den König von Italien bekriegen und natürlich auch – eine Kleinigkeit! – besiegen. Der andre wäre, sich ein Wunschhütchen anzuschaffen und sich's zu wünschen. Welchen Weg empfehlen Sie?«

»Nein,« sagte sie; »es gibt noch einen dritten und einfacheren Weg.«

Sie begann mit der Spitze ihres Sonnenschirms Figuren in den Sand zu zeichnen.

»Das ist der Weg der Heirat.«

Sie vollendete einen Kreis und begann einen Stern hineinzuzeichnen.

»Sie müssen nach Sampaolo und Ihre Cousine heiraten. So« – sie hielt ihre Augen auf die Zeichnung gesenkt und sprach langsam und mit der äußersten Unbefangenheit – »kämen Sie in Ihren rechtmäßigen Besitz, und das so lange entzweite Geschlecht, dieses so vornehme uralte Geschlecht würde wieder vereinigt, der eine Zeitlang abgerissene Faden einer alten historischen Entwicklung würde wieder angeknüpft werden.«

Sie arbeitete eifrig an ihrer Zeichnung im Sand.

Anthony stand lachend vor ihr und streckte abwehrend beide Hände aus.

»Verehrteste Frau, was für ein Plan!« rief er.

»Ich gebe zu,« sagte sie, »daß er auf den ersten Blick etwas phantastisch aussieht, aber er verdient doch, ernstlich erwogen zu werden. Sie sind der Erbe eines großen Namens, dem seine Besitzungen entzogen worden sind, und einer großen Tradition, die eine Störung erlitten hat. Der Erbe eines solchen Namens, einer solchen Tradition hat auch große Pflichten und darf nicht tatenlos daneben stehen und sich mit dem beschaulichen Leben eines englischen Landedelmannes zufriedengeben. Er ist der Bannerträger seines Geschlechtes und darf das Banner nicht in einer Schublade verschließen; er muß es im Gegenteil offen vor aller Welt entfalten und zu ihm stehen. Das gäbe dem Adel seine Rechtfertigung, das wäre seine Mission. Ein wahrer Edelmann sollte seinem Adel nicht aus dem Wege gehen und ihn nicht verbergen – er sollte ihn vornehm vor aller Welt tragen. Das ist die Mission des Grafen von Sampaolo – das ist seine Lebensaufgabe. Mir will es scheinen, als werde der gegenwärtige Graf dieser Aufgabe wenig gerecht.«

Sie lächelte ihm flüchtig zu und senkte dann ihre Augen wieder auf die Zeichnung im Sand.

»Das war eine sehr beredte Predigt,« sagte Anthony, »und theoretisch gebe ich auch zu, daß Sie recht haben, praktisch gibt es aber für den Grafen von Sampaolo absolut nichts zu tun.«

»Doch! Er kann nach Vallanza gehen und seine Cousine heiraten,« beharrte sie, »dann werden Name und Vermögen wieder vereinigt und die Tradition wird erneuert.«

Sie hatte einen Ring vom Finger gezogen und spielte zerstreut damit.

Anthony lachte.

»Verdient mein Vorschlag keine andre Antwort als dieses Lachen?« fragte sie.

»Ich würde das Gegenteil tun von Lachen, wenn ich fürchten müßte, Sie wollten, daß ich ihn ernst nähme.«

»Warum sollte ich das nicht wünschen?« gab sie zurück, während sie sich in die Betrachtung ihres Ringes versenkte.

»Die Heirat zwischen Vetter und Base ist von der heiligen Kirche verboten,« wandte er ein.

»Sie ist nur Ihre Cousine im zweiten oder dritten Glied,« entgegnete sie, »und der erste beste Bischof würde Ihnen Dispens erteilen.«

»Und die besagte Dame würde natürlich meine Bewerbung ohne weiteres annehmen!« spottete er.

»Sie müßten natürlich versuchen, sich ihr angenehm zu machen,« gab sie zurück und steckte ihren Ring wieder an den Finger. »Übrigens fiele für sie doch auch der Umstand in die Wagschale, daß sie sich dann mit Fug und Recht Gräfin von Sampaolo nennen könnte.«

»Das kann sie auch so mit dem besten Gewissen von der Welt – sie hat ja ein Patent des Königs.«

»Tombak und Gold! Ein Titel von gestern und ein Titel von Anno 1104! Gehen Sie nach Sampaolo, lernen Sie Ihre Verwandte kennen, verlieben Sie sich in sie – und dann wird das große alte Haus der Valdeschi aufs neue erstehen!«

Ihre Augen blitzten.

Aber Anthony lachte. »Sie geben mir unvereinbare Ratschläge! Wenn ich wirklich der Träger der alten Tradition wäre, so würde ich dieser ja geradezu ins Gesicht schlagen durch eine Heirat mit der Enkelin dessen, der sie zerstört hat.«

»Sie würden einen Familienzwist beilegen,« sagte sie und fing wieder an, mit dem Sonnenschirm im Sand zu zeichnen. »Großmut soll Ihr Teil der Tradition sein. Sie wollen doch nicht die Sünden der Väter an den Kindern heimsuchen? Sie machen doch Ihre Cousine nicht persönlich verantwortlich für das Geschehene?«

Sie sah von der Seite zu ihm auf.

»Persönlich mag meine Cousine die unschuldigste Seele auf der Welt sein. Sie ist in gegebene Verhältnisse hineingeboren und nimmt diese, wie sie sind, aber ich kann diese Verhältnisse, wenn anders ich meiner Tradition treu bleiben will, nicht anerkennen – es wäre die Verneinung der Tradition. Ich muß mich ihnen fügen, aber ich kann sie nicht anerkennen. Meine Cousine ist die verkörperte Antitradition, und wenn Sie sagen: heirate sie, so ist das ungefähr so, als wenn Sie vom Papst verlangen wollten, er solle sich mit dem Gegenpapst verbünden.«

»Doch nicht, denn der Gegenpapst ist Herr seines Willens, und Ihre Cousine ist das nicht. Setzen wir mich für einen Augenblick an ihre Stelle, mich, die einzige Legitimistin in Sampaolo,« sagte sie lächelnd. »Was könnte ich tun? Ich bin im Besitz der gestohlenen Güter. Ich möchte sie, wenn ich könnte, ihrem rechtmäßigen Besitzer zurückgeben. Aber das kann ich nicht, denn ich habe nur die Nutznießung. Ich kann sie nicht verkaufen, nicht verschenken, noch bei meinem Tod testamentarisch über sie verfügen. Nach mir fallen sie dem nächsten Anwärter zu. So bleibt mir, wenn ich sie dem rechtmäßigen Besitzer wieder zustellen will, nichts andres übrig, als ihn zu bewegen, mich zum Weib zu nehmen.«

Wiederum lächelte sie heiter und siegesgewiß wie jemand, der seine Sache gut begründet hat.

»Ach,« rief Anthony ungestüm, »wenn es Sie wären, läge die Sache anders.«

»Für Ihre Cousine gibt es keinen andern Ausweg. Zufällig sind Sie von der Valdeschischen Seite ihr nächster Verwandter und werden also, falls sie nicht heiratet und Kinder bekommt, ihr Erbe sein. Würde sie in ein Kloster gehen und das Gelübde der Ehelosigkeit und Armut ablegen, dann könnte die Nutznießung ihres Vermögens auf ihren mutmaßlichen Erben übertragen werden, dem die Besitzungen nach ihrem Tod ja doch zufallen.«

»Wir wollen der jungen Dame kein so trauriges Schicksal wünschen,« sagte Anthony lachend. »Übrigens wird sie ja auch zu ihrem Glück nicht von solchen Bedenken gequält.«

»Wie können Sie das wissen?«

»Das können wir als erwiesen annehmen! Übrigens haben Sie es ja soeben selbst gesagt.«

»Ich hätte es Ihnen selbst gesagt?« fragte sie erstaunt.

»Sie haben mir erzählt, es sei nur eine einzige Legitimistin in Sampaolo. Würde meine Cousine von Ihren Bedenken gequält, so wäre sie ja die zweite, und können Sie sich auf der ganzen Insel eine unwahrscheinlichere Zweite vorstellen?«

»Man sagt, Königin Anna sei im Grund ihres Herzens Jakobinerin gewesen,« erinnerte ihn Susanna. »Ihre Cousine ist noch jung. Man könnte ihr den Fall vortragen und ihr ins Gewissen reden. Wäre das einmal geweckt, und Sie trügen ihr nicht Ihre Hand an, so bliebe ihr gar nichts andres übrig, als zu verzichten und ins Kloster zu gehen.«

»Hoffen wir also, daß ihr Gewissen behaglich weiter schlafe,« sagte er, »denn sogar um sie vor dem Kloster zu retten, könnte ich sie nicht heiraten.«

Susanna, die gegen den rissigen Stamm ihrer Ulme gelehnt saß, sah die lange schattige Allee hinunter und schien nachzudenken. Hie und da warf die Sonne, wo sie einen Weg durch das Blättergewirr fand, in einem deutlich durch die Dämmerung gleitenden Lichtstrahl goldige Flecken auf den braunen Boden. In ihrem weißen Kleid, mit dem ihre Stirn lose umgebenden Lockengewirr, einer leichten Röte auf ihren Wangen, mit den nachdenklichen Augen – halb nachdenklich und halb lächelnd – sah sie sehr lieblich, sehr anziehend, sehr warm und verheißend weiblich, sehr liebens- und begehrenswert aus, und es ist kein Wunder, daß Anthony, dessen Augen verzehrend auf ihr ruhten, eine heftige Bewegung in seinem Herzen empfand.

»Von der Gelegenheit hängt alles ab! Die Gelegenheit ist da! Jetzt ist sie da!« So schien ihn eine geheime Stimme zu stacheln. Unsichtbare Hände schienen ihn vorwärts zu stoßen. »Ich wage es! Ich setze alles aufs Spiel!«

»Dafür,« fuhr er mit heiserer Stimme und laut pochendem Herzen fort, »habe ich tausend für einen Grund! Der hauptsächlichste ist der, daß ich eine andre liebe.« – Die erste Brücke hatte er hinter sich verbrannt. Seine Augen ruhten fest auf Susanna.

Sie schaute beharrlich die Allee hinab, aber auch ihr Atem ging schwer. Sie wußte ja, daß dies kommen mußte, und hatte geglaubt, der Gelegenheit völlig gewachsen zu sein. Aber sie hatte nicht gedacht, daß es gerade jetzt kommen werde, und so war sie nicht auf ihrer Hut.

»Oh!« sagte sie nach einem Augenblick in einem Tone, der vergeblich versuchte, gleichgültig höflich zu klingen.

»Ja,« sagte er, »und Sie wissen, wen ich liebe.«

Sie wagte nicht zu atmen, sie hatte ihre Kraft, sich zu beherrschen, und ihre Fähigkeit, sich zu verstellen, überschätzt. Sie hatte gewußt, daß dieses kommen mußte; sie hatte sich eingebildet, daß sie ihm leicht und scherzend entgegentreten könnte, daß sie ihm ausweichen und sich nicht verraten würde. Und hier saß sie nun und hielt den Atem an, während ihr Herz zitterte und doch jubelte. Sie biß sich auf die Lippen vor Verdruß; sie schloß die Augen wie in Verzückung und wandte ihr Gesicht der Allee zu vor Angst.

Anthonys Herz klopfte zum Zerspringen. Eine ihn überwältigende Hoffnung riß ihn hin.

»Sie, Sie sind es, die ich liebe!« rief er mit bebender Stimme.

Sie sprach nicht und sah ihn nicht an, aber sie atmete tief, tat einen langen zitternden Atemzug.

Er kniete vor ihr nieder und ergriff ihre Hände – sie entzog sie ihm nicht.

»Ich liebe Sie, ich liebe Sie! Wenden Sie Ihr Antlitz nicht ab von mir! Schauen Sie mich an! Antworten Sie mir! Ich liebe Sie! Wollen Sie mein Weib werden?«

Ihre Hände bebten in den seinen – sie zog sie nicht zurück. Durfte er da nicht hoffen? Er bedeckte diese Hände mit seinen Küssen; sie waren so warm und weich und dufteten so süß, so süß!

Endlich entzog sie sie ihm und lehnte sich zurück. Von Schmerz erfüllt über ihre Schwäche, biß sie sich auf die Lippen. Sie wußte, daß ihr feingesponnener, tief angelegter Plan in Gefahr war, zu scheitern. Aber das Herz in ihr jubelte und war von nie geahnter Freude und Wonne erfüllt. Sie hatte ja gewußt, daß ihr Herz sich freuen würde, wenn die Zeit kommen und er die Worte sprechen würde: »Ich liebe dich!« Aber eine solche Freude, eine solche Seligkeit hatte sie nicht geahnt. So rasch konnte sie ihrer nicht Herr, so rasch konnte sie nicht stark und strenge werden.

»Sehen Sie mich an! Antworten Sie mir! Ich liebe Sie! Wollen Sie die Meine sein?«

Mit gewaltiger Anstrengung überwand sie ihre Schwäche und vermochte es, mit erstickter Stimme zu sagen: »Nein.«

»O sehen Sie mich an! Warum wenden Sie sich ab? Warum sagen Sie nein? Ich liebe Sie! Wollen Sie mein Weib werden? Sagen Sie ja! Sagen Sie ja!«

Aber sie sah ihn nicht an und wiederholte nur: »Nein. Ich kann nicht. Bitten Sie mich nicht darum.«

»Warum können Sie nicht? Ich liebe Sie! Ich bete Sie an! Warum sollte ich Sie nicht darum bitten?«

»Weil ich will, daß Sie Ihre Cousine heiraten.«

Ein schwaches Lächeln glitt über ihre Züge.

»Ist das der einzige Grund?«

»Ist es nicht ein genügender Grund?«

Wieder huschte der Schein eines Lächelns über ihr Gesicht.

»Um des Himmels willen, sehen Sie mich an! Dann lieben Sie mich also nicht? Gar nicht – nicht ein bißchen?«

»Ich wollte Sie nicht merken lassen, daß ich Sie liebe.« Diesen letzten Augenblick der Schwäche konnte sie sich nicht versagen – nachher wollte sie dann ganz gewiß um so fester bleiben.

Und einen Herzschlag lang ruhten ihre Augen ineinander.

Die Zeit stand still, die Welt stand still, Zeit und Welt hörten auf zu sein. Ihre Augen ruhten in den seinen, und es gab nichts mehr für ihn als diese beiden sanften, tiefen, dunklen, leuchtenden Augen. In ihrer Tiefe leuchtete ein Licht, ihre Seele sprach aus ihnen und gab sich seiner Seele hin.

»Dann lieben Sie mich – dann lieben Sie mich also doch!« Es klang fast wie eine Klage, als er es rief. Die Erde schien sich um ihn zu drehen.

Er sprang auf und warf sich neben sie auf die Bank. Wieder faßte er ihre Hände, wieder suchte er ihre Augen festzuhalten.

»Nein, nein!« rief sie, ihre Hände aus seinem Griff befreiend. »Nein, nein, ich liebe Sie nicht!«

»Aber Sie haben es gesagt! Sie haben es gesagt und es mir gezeigt!« Triumphierend, angstvoll, atemlos wartete er auf ihre Antwort.

»Nein, nein, nein! Ich habe es nicht gesagt – ich meinte es nicht!« …

»Doch, Sie meinten es! Ihre Augen …«

Aber als er an den Ausdruck ihrer Augen zurückdachte, versagte ihm die Sprache. Er vermochte nur noch zu stammeln.

»Nein, nein,« wiederholte sie, »ich habe gar nichts gemeint. Bitte, bitte – kommen Sie mir nicht so nahe … Gehen Sie dorthin,« (ihre Hand wies ihm den Ort) »dann wollen wir die Sache – vernünftig besprechen.«

Anthony gehorchte verblüfft und blieb vor ihr stehen.

»Wir müssen verständig sein,« sagte sie, »ich meinte wirklich nichts. Wenn ich Ihnen ergriffen schien, so kam dies wohl nur daher – oh, daß ich so überrascht war, glaube ich.«

Sie bekam wieder Gewalt über sich und sah ihm nun furchtlos ins Gesicht, mit Augen, die taten, als ob sie ganz vergessen hätten, daß sie einmal hingebend geblickt hatten.

»Dem Grafen von Sampaolo,« erklärte sie ihm ruhig, »steht es nicht frei, zu heiraten, wen er will. Er hat eine Sendung zu erfüllen, er muß wieder in den Besitz seines Erbes gelangen. Niemals werde ich ein Hindernis bilden. Er darf niemand anders heiraten als seine Cousine, und niemals, niemals werde ich zwischen ihm und ihr stehen – zwischen ihm und dem, was sein Vorteil und seine Pflicht ist.«

Aber auch Anthony hatte sich nun wieder in der Hand.

»Hören Sie,« erwiderte er energisch, »ich bitte Sie, meine Cousine ein für allemal aus dem Spiel zu lassen. Ich bitte Sie, sich klarzumachen, daß auch, wenn Sie gar nicht vorhanden wären, meine Cousine nie für mich in Betracht kommen könnte. Nichts in der Welt vermöchte mich dazu, mit diesem Zweig meiner Familie in Beziehung zu treten – lassen Sie also diesen Heiratsgedanken aus dem Spiel!« – Eine Handbewegung versetzte seine Cousine endgültig ins Pfefferland. – »Aber da Sie vorhanden sind, und da ich Sie zufällig liebe, und da ich zufällig entdeckt habe – was ich kaum zu träumen wagte! – daß auch ich Ihnen nicht ganz gleichgültig bin, so erlaube ich mir, Ihnen mitzuteilen, daß ich beabsichtige, Sie zu heiraten. Sie! Sie! Sie! Sie herrliches, anbetungswürdiges Weib, Sie!«

Susanna wandte hastig ihre Augen wieder der Allee zu.

»Ich habe also die Ehre, Ihnen unsre Verlobung kund und zu wissen zu tun,« sagte Anthony mit fröhlicher Vermessenheit.

Sie konnte ein leises Lachen nicht unterdrücken. Dann stand sie auf.

»Man wird mich zu Hause erwarten,« sagte sie und schlug die Richtung dorthin ein.

»Ich harre noch immer Ihres Glückwunsches,« bemerkte er, neben ihr her gehend.

Sie lachte wieder leise. Keines sprach mehr ein Wort, bis er ihr die Haustür öffnete.

»Nun?« fragte er da.

»Kommen Sie nach dem Frühstück wieder,« sagte sie. »Kommen Sie um drei Uhr – und dann will ich Ihnen etwas sagen.«


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