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Susanna saß unter einer mächtigen Eiche im Moos. Sie lehnte sich weit zurück, so daß sie durch das labyrinthartige Durcheinander der von gebrochenen Sonnenstrahlen durchschossenen, in allen Schattierungen von Grün schimmernden Blätter und Zweige kleine Fleckchen blauen Himmels sehen konnte. Der Baum erweckte die Vorstellung von einem unendlich großen Raum und schien eine Welt für sich zu sein; er war voll Leben und bevölkert wie eine Stadt. Vögel flogen ab und zu, hüpften von Zweig zu Zweig und bezwitscherten eifrig ihre ihnen wichtig erscheinenden Angelegenheiten; an der rauhen Rinde des Stammes kletterten, wie von panischer Angst befallen, Eichhörnchen flüchtig empor und schielten ängstlich nach den eingebildeten Verfolgern aus. Andre Vögel, dem Auge nicht erreichbar, ließen aus höheren Regionen ihre Rufe und ihre Lieder ertönen. Spinnen hingen in ihren losen Netzen so regungslos, daß man sie für tot halten mußte, aber sobald sich eine Mücke heranwagte, sprangen sie geschmeidig zu und faßten ihr Opfer. Manchmal brach ein Zweig oder ließ sich eine Raupe an einem langen seidenen Faden von oben herab. Und die Luft unter der Eiche war kräftig und von dem herrlichen Duft des Baumes erfüllt.
Von dem Zauber all dieses geheimen Lebens gefesselt, lehnte Susanna am Stamm des Baumes. »Solche Bäume haben wir in Italien nicht,« dachte sie träumerisch vor sich hin. »Bäume und Tiere treten einem dort nie so nahe als hier; man wird nie so vertraut mit ihnen; die Natur ist nicht so entgegenkommend und gütig.« Nun erinnerte sie sich dunkel, irgendwo gelesen zu haben, daß Genüsse wie der, dem sie sich jetzt hingab, heidnisch und ganz unchristlich seien, und ihre Seele empörte sich dagegen und sie dachte: »Nein! Denn man hätte ja gar keine Freude daran, wenn man nicht wüßte, daß Gott im Himmel ist und auf der Erde alles wohlgetan!«
Und nun wurde ihre Träumerei jäh unterbrochen.
»Er ist angekommen! Ich habe ihn gesehen – was man so sehen heißt – mit meinen eigenen Augen. Er ist zwei Yard lang, eine sehr stattliche, vornehm aussehende, wohlgebildete und anziehende Erscheinung.«
Also sprach Miß Sandus erregt mit ihrer angenehmen, frischen alten Stimme; Miß Sandus, eine kleine, alte Dame in Schwarz. Sie war zierlich, hatte ein feingeschnittenes Profil und eine niedliche Gestalt. Sie trug ein schwarzes Straßenkleid, das kurz genug war, ein Paar kleiner, hochspanniger, aber derber brauner Schuhe zu zeigen. Miß Sandus war, wie sie versicherte, vierundsiebzig Jahre alt, und in der Tat war ihr Vater als Seekadett mit Nelson bei Trafalgar gewesen und hatte als Leutnant zur See an Bord des »Bellerophon« dessen historische Fahrt nach Sankt Helena mitgemacht. Trotz alledem sah sie aber mit ihren lebhaften Augen, ihren festen, glatten Wangen, der frischen Gesichtsfarbe und der aufrechten, rüstigen Haltung aus wie eine gut erhaltene Sechzigerin, und in ihrem üppigen lichtbraunen Haar war kaum ein Silberfaden zu entdecken. Eilig kam sie über das Gras getrippelt und schwang einen Spazierstock mit silberner Krücke in der Hand.
»Er ist angekommen! Ich habe ihn gesehen!«
So tönte ihre Stimme in Susannas Träumerei hinein und schreckte sie auf. Das junge Mädchen trug heute ein weißes Musselinkleid mit lilafarbenen Blumen überstreut; da sie keinen Hut auf hatte, konnte man ihr schönes schwarzes Haar bewundern, das, tief in die Stirn hineingewachsen, in üppigen, natürlichen Wellen rückwärts strebte und in reicher Fülle über den Rücken hinabfiel. Als sie so regungslos dastand und das Näherkommen von Miß Sandus erwartete, war ihr Antlitz erblaßt und ihre weitgeöffneten Augen starrten der Nahenden beinahe angstvoll entgegen.
»Ach, liebes Kind, habe ich dich erschreckt? Das tut mir sehr leid,« sagte Miß Sandus, als sie zu ihr trat. »Ja, Don Antonio ist angekommen! Ich habe ihn gesehen, als er auf der Station ausstieg – ich bin nämlich im Ort gewesen und habe bei Smith ein Buch bestellt. Und ein solches Gepäck! Koffer und Reisetaschen, Reisetaschen und Koffer – ich konnte sie schließlich gar nicht mehr zählen! Uno alles in gutem braunem Leder – so hübsch und so männlich und gediegen. Auch er selbst sieht hübsch und männlich aus: groß, echt männlich angezogen, mit schönen Augen und schöner brauner Gesichtsfarbe und mit einer Nase, liebes Kind, mit einer Nase wie Julius Cäsar. Nun, am Sonntag wirst du ihn ja bei deinem papistischen Gottesdienst sehen, falls er nicht vorher seinen Besuch macht, wozu er sich, meiner Ansicht nach, verpflichtet fühlen wird.«
»O, liebe Feenpate,« hauchte Susanna mühsam, »hier fühle!«
Sie nahm Miß Sandus' Hand und legte sie sich aufs Herz.
»Fühle, wie es schlägt!«
»Ach, mein Gott!« rief Miß Sandus.