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Wehe über die zweifelhafte Pracht eines englischen Juni! Über Nacht hatte sich das Wetter geändert. Der Montag war grau und kalt, und ihm folgte eine graue und kalte Woche voll Regen und Wind. Schwarze Wolken hingen tief herab und jagten über die weißen Kämme der aufgebrachten See; der Sturm riß die Blätter von den Bäumen und wirbelte sie über die aufgeweichten Wege. Adrian war mehr als irgend jemand sonst verdrießlich und klagte und jammerte den lieben, langen Tag.
»Oh, ich gesteh's ganz offen – ich bin ein Freund von schönem Wetter,« sagte er, als er verzweiflungsvoll am Fenster seines Arbeitszimmers stand, dessen Hauptmöbel übrigens ein großer Flügel war. »Gebt mir Sonnenschein und Pfirsiche, und ich bin lustig und guter Dinge, aber diese Sorte Wetter bricht mir das Herz. Ich könnte sitzen und weinen; ich könnte mich hinlegen und sterben; ich könnte aufstehen und dir den Hals umdrehen! Ich bin wie mit Holzessig und Vitriol geladen!«
Er rannte im Zimmer auf und ab, blieb dann am Klavier stehen und fuhr ungeduldig über die Tasten.
Dann ging's wieder los: »Wenn nur jemand den einfältigen Finken die Schnäbel stopfen wollte, damit das dumme Singen ein Ende hätte! Sag doch Wickersmith, er solle Regenschirm und Flinte nehmen und sie totschießen! Und erst der Wind! Heute nacht hat er durch meinen Kamin gefegt, daß ich mich zu Tod gefürchtet habe. Mich so zu erschrecken! Mich, einen Musiker! Den harmlosesten Menschen der Welt, der keinem Geschöpf etwas zuleide tut, aber die Mäuse in seines Vaters Scheune umzubringen pflegte. Ich frage dich als Mann von Welt auf Ehre und Gewissen: ›Ist das zartfühlend? Ist das anständig?‹ Trip, trip, trip! Ha, wenn der Regen wüßte, wie ich ihn verachte!« Er schnitt ihm ein Gesicht und schüttelte die Faust. »Glaubst du, daß das Wetter eine Ahnung davon hat, wie widerwärtig es ist? Wir wissen alle so gut, wie widerwärtig andre sein können, aber nur wenige sind sich klar darüber, was sie selbst in dieser Beziehung zu leisten vermögen. Glaubst du, daß das Wetter es weiß und es absichtlich tut?«
Anthony aber wußte sich schadlos zu halten. Er war fast täglich mit Susanna zusammen. Dienstags war sie mit Miß Sandus bei ihm zu Tisch gewesen, Mittwochs er mit Adrian bei ihr zum Gabelfrühstück und Donnerstags hatten sie zur Teestunde ihren Verdauungsbesuch bei den Damen gemacht. Am Freitag benützten Susanna und er eine mehrstündige Pause, die der Regen nachmittags machte, zu einem Spaziergang auf den Klippen. In unabsehbarer Weite dehnte sich das graue Meer mit seinen Legionen schaumgekrönter Wellenkämme zu ihren Füßen.
»Wie einen hier das Gefühl der Unendlichkeit des Meeres überkommt,« bemerkte Susanna; »es scheint, als sei der Horizont Millionen Meilen fern.«
»Das ist er auch,« sagte Anthony wie einer, der es genau weiß. »Aber da wir uns doch eben in runden Summen ausdrücken, möchte ich auch gleich bemerken, daß es eine Million Jahre her ist, daß ich nicht mehr das Vergnügen gehabt habe, ein Wort mit Ihnen zu reden!«
Susannas Augen weiteten sich verwundert.
»Eine Million Jahre! Ist das wahr?«
»Das steht bombenfest!« erwiderte er.
»Eine Million Jahre! Wie wunderbar!« flüsterte sie in höchst erstauntem Ton.
»Die Wahrheit ist oft wunderbar,« sagte er.
»Wohl – aber in diesem Falle erscheint sie mir ganz besonders wunderbar, weil wir uns erstens erst seit einer Woche kennen, und zweitens, weil ich unter dem Eindruck stehe, als hätten Sie gestern, vorgestern und vorvorgestern ein Wort mit mir gesprochen.«
»Ich bitte um Vergebung,« sagte er, »aber das heiße ich nicht ›ein Wort mit Ihnen sprechen‹, wenn wir wie diese Tage her immer von Fremden umgeben sind.«
»Von Fremden?« fragte Susanna verwundert.
»Ja doch – dieser Willes und Ihre entzückende Freundin, Miß Sandus.«
Susanna lachte.
»Wir können doch unsre Privatangelegenheiten nicht vor ihnen erörtern,« wandte Anthony ein, »und darauf brenne ich schmerzlich.«
»Haben wir denn Privatangelegenheiten?« fragte Susanna überrascht.
»Natürlich,« sagte er, »die hat jedermann, und ich habe Sie zu diesem Spaziergang veranlaßt, damit wir die unsern besprechen könnten. Erweckt die Sorte von englischem Wetter, von der Sie eben einen Geschmack bekommen haben, nicht den Wunsch in Ihnen, Sie hätten Italien nie verlassen?«
»O,« bemerkte sie, »in Italien regnet es auch manchmal.«
»Wirklich?« fragte er, indem er die Augen weit aufriß. »Aber niemals – ganz gewiß niemals – auf Sampaolo.«
»Doch, auch auf Sampaolo,« rief sie lachend. »Und wie der Wind dort bläst! Der hier ist gar nichts daneben. Ich glaube, Sie haben hier in England keine Winde, die so heftig sind wie unsre Temporali.«
Anthony nickte befriedigt.
»Bitte, fahren Sie fort,« bat er. »Ich habe mich danach gesehnt, mehr von Sampaolo zu hören.«
»Oh?« sagte Susanna zweifelnd. »Ich fürchtete, Sie neulich in unverantwortlichster Weise mit Sampaolo gelangweilt zu haben!«
»Jedes Wort, das Sie sprachen, erregte mein lebhaftestes Interesse. Sie waren im Begriff, mir zu erzählen, wie es kam, daß Sampaolo sich in eine Insel der Verdammten verwandelte, als wir von einer Lerche unterbrochen wurden.«
»Das würde eine furchtbar lange Geschichte werden,« warnte Susanna kopfschüttelnd.
»Ich schwärme für furchtbar lange Geschichten,« erklärte er. »Und haben wir denn nicht die ganze Zukunft vor uns?«
»Sampaolo wurde zur Insel der Verdammten, weil ihre Bewohner vor etwa fünfzig Jahren von der Schwärmerei für das vereinigte Italien angesteckt wurden. Sie machten Revolution, verjagten ihren rechtmäßigen Herrscher, gaben ihre Selbständigkeit auf und vereinigten sich mit dem sogenannten Königreich Italien.«
»Das ist aber keine furchtbar lange Geschichte, und ich glaube, Sie haben eine Menge Einzelheiten unterschlagen, was ich sehr unfreundlich finde.«
»Es ist nicht unfreundlich gemeint.«
»Und Sampaolo? Bitte, fahren Sie fort,« drängte er. »Es war also früher unabhängig? Bitte, erzählen Sie mir alles!«
»Mehr als siebenhundert Jahre ist Sampaolo unabhängig gewesen. Die Grafen von Sampaolo waren regierende Grafen und empfingen die Insel vom Papst, dem sie tributpflichtig waren, als Lehen. Sie übten die Gerichtsbarkeit aus und waren oberste Lehensherren, tiranni, wie sie im mittelalterlichen Italien genannt wurden. Sie schlugen ihre eigenen Münzen, führten ihre eigene Flagge und hatten ihre eigene kleine Armee. Obgleich manche vornehme Sampaolesen in Rom den Titel Fürst oder Herzog führten, so rangierten sie in Sampaolo doch nur als Barone und waren Untertanen des Grafen.«
Ihre Stimme klang begeistert bei diesen Worten.
Nach einer kleinen Pause fuhr sie fort: »Noch heute zeigt man Ihnen im Palazzo Rosso den Thronsaal mit dem scharlachroten Thron, dessen Baldachin von einer goldenen Krone zusammengehalten wird. Aber die Grafen von Sampaolo waren brave Männer und weise Regenten, und mehr als siebenhundert Jahre war die Insel glücklich, reich und frei. Oft versuchten die Türken sowohl als die Venezianer und auch der eine oder der andre Papst, sie zu nehmen, aber die Sampaolesen waren tapfere Kämpen und verstanden zu halten, was ihr eigen war.«
Wiederum schwieg sie einen Augenblick.
»Dann aber,« erzählte sie weiter, »wurde das einige Italien gepredigt und die dummen, dummen Sampaolesen machten im Jahr 1850 eine Revolution, unterwarfen sich dem Zepter Viktor Emanuels, und seither sind sie in einem wahrhaft trostlosen Zustand, dank der unerschwinglichen Steuern, der militärischen Aushebung, der bestechlichen Beamtenschaft und der Camorra. Aber – pazienza! Das Königreich Italien wird auch nicht ewig dauern.«
»Das wollen wir zu Gott hoffen,« sagte Anthony beistimmend.
Dann forschte er weiter.
»Und was wurde aus den Grafen, nachdem sie von ihrem Scharlachthron gestürzt worden waren?«
»Damit bringen Sie mich auf ein schmachvolles Kapitel unsrer Geschichte,« sagte Susanna ernst.
»An der Spitze der Revolution stand der nächste Blutsverwandte des damaligen regierenden Grafen. Der jetzige rechtmäßige Graf von Sampaolo lebt in der Verbannung. Sein Titel und sein Vermögen sind im Besitz von jemand, der keinen Schatten von Recht, von moralischem Recht darauf hat, so wenig – als zum Beispiel ich.«
»Ach,« bemerkte Anthony philosophisch, »ein niedliches, politisches Miniaturbild: Orleans und Bourbon, Hannover und Stuart, ein Graf in Besitz und ein Graf über dem Wasser – ein Usurpator und ein Prätendent.«
»Genau so! Nur daß in diesem Fall der besitzende Graf eine Gräfin ist, weil die Linie des Usurpators im Mannesstamm ausgestorben ist. O, die Geschichte von Sampaolo ist lebhaft genug gewesen. In irgend einer englischen Zeitschrift wurde sie einmal ein Mosaik von Melodrama und komischer Oper genannt. Wenn Sie wollen, kann man ihr Ende so nennen, aber sie begann voll Romantik und Ritterlichkeit.«
»Brechen Sie nicht so jäh ab,« bat Anthony, »erzählen Sie mir die ganze Geschichte Sampaolos von Anfang an!«
»Das kann ich mit den Worten Ihres englischen Geschichtsforschers Alban Butler,« sagte sie lächelnd.
Sie sann einen Augenblick nach, als ob sie die Zuverlässigkeit ihres Gedächtnisses prüfen wolle, und begann dann lächelnd herzusagen: »›Im Jahre 1102 oder 1103,‹ sagt er in seiner Lebensbeschreibung von San Guido Valdeschi della Spina, ›als der Heilige vom heiligen Land, wohin er als Kreuzfahrer gezogen war, zurückkehrte, litt er Schiffbruch an der Küste der Insel Ilaria im Adriatischen Meer. Er war tief betrübt über den Seelenzustand der Bevölkerung der Insel, die nur einen ganz dunklen Begriff von den Heilswahrheiten der heiligen Kirche hatte und noch voll heidnischem Aberglauben steckte. Während des Kreuzzuges hatte sich San Guido nicht nur durch seine große Tapferkeit, sondern auch durch seine musterhafte Frömmigkeit ausgezeichnet. Den Beinamen della Spina hatte man ihm zugelegt, weil er am Griff seines Schwertes einen spitzen Dorn hatte anbringen lassen, der sich in seine Hand bohrte, wenn er sich des Schwertes bediente. Dieser Dorn sollte ihn daran erinnern, daß ein Kreuzfahrer nicht aus menschlichem Haß und aus kriegerischem Ehrgeiz fechten dürfe, sondern nur aus christlichem Eifer und in christlicher Demut. Als er nun nach seinem Schiffbruch und vielen andern Fährlichkeiten nach Rom zurückkehrte, wo seine ehrwürdige Mutter und Weib und Kind seiner harrten, wurde er, der einem alten römischen Patriziergeschlecht entsprossen war, von Papst Pascal II. mit vielen Gunstbezeigungen empfangen und ob seiner Taten und seines christlichen Lebenswandels höchlich belobt. Und als der heilige Vater ihm anbot, er solle sich zum Lohn eine Gnade erbitten, ersuchte er diesen, er möchte ihn nach der Insel Ilaria zurücksenden und ihm einen Bischof und hinlänglich Priester mitgeben, auf daß den armen, unglücklichen Eingeborenen das Licht des wahren Glaubens leuchten möge. Der Papst ernannte ihn zum Grafen und zum Statthalter der Insel, deren heidnischen Namen er in Sankt Paul umwandelte. Außerdem verlieh er dem neuen Grafen als Zeichen der obersten Gewalt ein prächtiges Schwert, an dessen Griff ein goldener Dorn angebracht war. Diese heilige Reliquie hängt noch heute zur Verehrung der Gläubigen unter dem Namen Spina d'Oro, goldener Dorn, in der Kathedrale von Vallanza, wo die Nachkommen San Guidos als Stellvertreter des heiligen Vaters herrschen.‹ – So spricht der ehrwürdige Alban Butler,« schloß sie mit leisem Lachen.
»Ich staune Ihr fabelhaftes Gedächtnis voll Bewunderung an. Alban Butler so Wort für Wort zitieren zu können, ist geradezu wunderbar.«
»In meiner Jugend ließen mich meine Erzieherinnen viel von Butler auswendig lernen, und als geborene Ilarierin interessierte mich San Guidos Leben natürlich ganz besonders. Er wurde übrigens durch den englischen Papst Adrian den Vierten heilig gesprochen, weshalb die Valdeschi immer eine große Vorliebe für England gehabt haben. Sie haben auch oft Engländerinnen – natürlich katholische – geheiratet, und so war auch, als das Mosaik-Ende kam, eine Engländerin Gräfin von Sampaolo.«
»Ach ja, das Ende, das Mosaik-Ende müssen Sie mir nun auch noch erzählen.«
»Das Ende war ein schmachvoller, von einem Nachkommen San Guidos gegen einen andern, seinen nächsten Verwandten, den rechtmäßigen Grafen verübter Verrat. Meinetwegen können Sie es Melodrama und komische Oper zugleich nennen. Es ist die alte Geschichte vom schurkischen Onkel.«
»Wirklich?« fragte Anthony.
Sie dachte einen Augenblick nach, dann erzählte sie weiter: »Als anno 1850 Graf Antonio der Siebzehnte starb, hinterließ er eine Witwe, eine Engländerin, und einen Jungen von zwölf Jahren, der seinem Vater als Guido der Elfte in der Regierung nachfolgen sollte. Aber Graf Antonio hatte einen jüngeren Bruder, der ebenfalls Guido hieß, und der durch geheime Umtriebe unter dem Volk die Herrschaft an sich zu reißen suchte und mit dem König von Sardinien um den Preis handelte, den er erhalten sollte, wenn er die Sampaolesen dazu vermöchte, ihre Unabhängigkeit aufzugeben. Nun also,« fuhr sie mit einiger Anstrengung fort, »als sein Bruder auf dem Sterbebett lag, nahm er die Gelegenheit wahr und hetzte das Volk auf: Jetzt ist es Zeit für euch, euch zu erheben. Wenn nach meines Bruders Tod sein Sohn sein Nachfolger wird, werden wir eine Regentschaft haben, und der Regent wird ein Ausländer und dazu noch ein Weib sein; jetzt ist es an der Zeit, diesen Despotismus für immer zu brechen, die Herrschaft des Palastes abzuschütteln und uns der großen Bewegung zur Vereinigung Italiens anzuschließen. Auf zum Palast! Laßt uns die Engländerin mit ihrem Sohne ergreifen und verbrennen! Laßt uns die Trikolore aufziehen und uns für Italiener und für Untertanen des Königs erklären. Auf zum Palast! – Ein großer Pöbelhaufe drang in den Palast, wo die arme Dame« – Susannas Stimme bebte ein wenig – »an der Bahre ihres Gatten kniete und betete. Mit dem Ruf › Fuori l'Italia lo straniero!‹ – fort aus Italien mit dem Fremden – wurde sie mit ihrem Kind ergriffen und auf ein Schiff geschleppt, das im Begriff war, nach Triest in See zu gehen.« –
Sie schwieg eine Weile, dann fuhr sie fort: »Darauf wurde eine Volksabstimmung inszeniert, und die Insel wurde feierlich zur Provinz des Vereinigten Königreichs erklärt.«
Sie schwieg wieder eine Weile. »Und der schurkische Onkel,« fuhr sie wieder fort, »erhielt den ausbedungenen Lohn aus Turin. Zuerst wurde er zum lebenslänglichen Präfekten von Sampaolo ernannt, dann wurden der junge Graf und seine Mutter aufgefordert, dem König den Huldigungseid zu schwören, und, als sie zu diesem Zweck nicht erschienen, weil sie bei Verwandten der Gräfin in England Zuflucht gesucht hatten, für ›bürgerlich tot‹ erklärt und alle ihre Güter dem nächsten Erben, Guido selbst, zugesprochen. Darauf wurde Guido durch königlichen Erlaß zum Grafen von Sampaolo ernannt, denn die Machtbefugnisse des Papstes waren in den Territorien des Königs für ›null und nichtig‹ erklärt worden. Es ist die Großtochter Guidos, die jetzt Herrin von Sampaolo ist.«
Sie beendete ihre Erzählung mit einer Handbewegung, als wolle sie etwas von sich schieben.
Anthony wartete einen Augenblick, ehe er sprach. »Und der kleine Graf?« fragte er dann.
»Der kleine Graf,« sagte Susann«, »das heißt dessen Mutter als Vormünderin, versuchte wohl, seinen Onkel auf Herausgabe seines Vermögens zu verklagen, aber da sie beide ›bürgerlich tot‹ waren, wurden die Kläger ungehört abgewiesen.«
»Und dann –?« fragte Anthony wieder.
»Dann blieb der kleine Graf dauernd in England, wuchs zu einem großen Grafen heran, heiratete eine Engländerin, bekam einen Sohn und starb. Der Bruder seiner Mutter hatte ihn adoptiert, und da er ihn überlebte, nach ihm seinen Sohn, der heute noch seinen Namen führt. Ich kann es,« fügte sie nachdenklich hinzu, »nicht gutheißen, daß er seinen mehr als siebenhundert Jahre alten Grafentitel hat fallen lassen.«
»Vermutlich hat er ihn, als Engländer in England lebend, als Last empfunden – besonders wenn er nicht reich war,« bemerkte Anthony. »Übrigens läßt ein Mann einen Titel nicht fallen – er steckt ihn nur in die Tasche und kann ihn jeden Tag wieder hervorziehen. Erinnern Sie sich vielleicht zufällig, welchen Namen er angenommen hat?«
»Natürlich erinnere ich mich,« erwiderte Susanna. »Wie Sie bemerkt haben werden, nehme ich lebhaften Anteil an der Geschichte von Sampaolo – wie könnte ich da einen so wichtigen Umstand vergessen? Er führt den Namen Craford.«
Aber Anthony gab nicht das geringste Zeichen von Erregung.
»Craford?« wiederholte er. »Wirklich? Übrigens ein guter Name, ein guter alter, sächsischer Name.«
»Ja,« sagte Susanna zustimmend, »aber nicht so gut wie der Name Antonio Guido Maria Valdeschi della Spina, Conte di Sampaolo.«
»Jedenfalls nicht eben so lang.«
»Auch nicht so klangvoll.«
»Wie ich schon eben andeutete, kann ein solcher Titel, wenn er nicht durch ein entsprechendes Vermögen gestützt wird, in dem alltäglichen England sehr lästig werden.« Dann fügte er mit etwas traurigem Lächeln hinzu: »Also haben Sie schon von Anfang an alles gewußt, und meine Verstellung ist vergeblich gewesen?«
»Nicht vergeblich,« tröstete sie ihn, »sie hat mir viel Spaß gemacht.«
»Sie haben mich – entschuldigen Sie den Ausdruck! – hübsch hineingelegt,« gestand er mit etwas erzwungenem Lachen zu.
»Ja,« sagte sie, und sie lachte auch.
Einige Minuten gingen sie schweigend weiter, der Wind peitschte ihre Gesichter, er riß an Susannas Locken, er roch nach der See und den Regenwolken und konnte doch nicht den nährenden freundlichen Duft der feuchten Erde, noch die Süßigkeit des Klees und des wilden Thymians wegblasen. Rings um sie zogen Strandschwalben ihre Kreise. In großen Pferchen weideten Schafe im nassen Grase. Tief unten dehnte sich das graue Wasser gegen den verschwommenen Horizont, wo es mit dem grauen Himmel zusammenzufließen schien. Aber die beiden jungen Leute achteten, ganz mit ihren Gedanken und Gefühlen beschäftigt, nicht auf das, was sie umgab. Sie schritten einige Minuten schweigend vorwärts, bis sie plötzlich bei einer Wendung der Klippen unten am Fuß der Felsen ein kleines Städtchen vor sich liegen sahen, wo es wie eine qualmende rote Insel aus dem Grün der Rowlandmarschen auftauchte.
»Blye,« sagte Anthony hinabschauend.
»Ja,« sagte sie. »Ich hatte keine Ahnung, daß wir so weit gekommen sind.«
»Ich fürchte, wir sind zu weit gegangen und Sie haben sich sehr ermüdet.«
»Ermüdet! Wie kann man denn in einer solchen Luft müde werden!« protestierte Susanna, und in der Tat, die Röte ihrer Wangen, ihre hellen Augen und ihr energischer Gang machte seine Besorgnis überflüssig. – »Aber umkehren müssen wir doch, denn sonst verpassen wir die Teestunde.«
So drehten sie denn um und Anthony sagte: »Das ist ein merkwürdiger Zufall, daß Sie von Sampaolo geradeswegs nach Craford kommen mußten.«
»Es war ganz einfach,« erklärte sie. »Ich wollte den Sommer in England verleben und suchte ein Landhaus zu mieten. Der Londoner Agent erwähnte unter vielen andern auch das neue Schloß von Craford; Miß Sandus und ich sahen es uns an – es gefiel uns, und wir mieteten es. Der Gedanke, die Mieterin meines verbannten Herrschers zu werden, reizte meinen Sinn für Romantik und Humor. Und dann,« sagte sie lachend, »war auch jedes Zögern ausgeschlossen, als wir erst Ihren köstlichen Herrn Willes kennen lernten, der uns das Anwesen zeigte und uns dann in seinem Musikzimmer – er nennt es, glaube ich, Arbeitszimmer – selbstkomponierte Lieder vorsang und mir sogar erlaubte, ihn zu begleiten.«
Anthony lachte laut.
»Ich sehe meinen Adrian vor mir,« sagte er dann.
»Euer Erlaucht sind der rechtmäßige Graf von Sampaolo,« sagte Susanna, »Antonio, von Gottes Gnaden und der Huld des heiligen Stuhles Graf von Sampaolo, der vierunddreißigste Graf und der achtzehnte dieses Namens, und ich bin dero sehr getreue Untertanin. Wir wollen ein Komplott schmieden zu Ihrer Wiedereinsetzung.«
»Meine Wiedereinsetzung ist ein längst überwundener Standpunkt, aber auch wenn es nicht der Fall wäre, würde ich sie mir, glaube ich, gar nicht wünschen.«
»Wie!« rief sie. »Wäre es nicht lustig, auf dem scharlachenen Thron zu sitzen und zu regieren?«
»Nicht so lustig, wie ein unabhängiger Landedelmann zu sein.«
»Sie dürfen die Sache nicht von einem so selbstsüchtigen Standpunkt aus auffassen. Denken Sie an Sampaolo unter der alten Herrschaft – die ›Insel der Seligen‹.«
»Ernsthaft gesprochen: glauben Sie, daß in Sampaolo auch nur der leiseste Wunsch nach einer Wiederkehr der alten Zeiten lebendig ist?«
»Nicht der mindeste – und das ist das traurigste an der Sache,« gestand Susanna. »Gleichwohl herrscht große Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen Stand der Dinge, und die Verhältnisse sind auch geradezu trostlos. Glauben Sie mir, es sieht dort schlimmer aus, als ich es zu schildern vermöchte. Aber eines schönen Tages muß doch das Königreich Italien in die Brüche gehen, und darauf müssen wir unsre Hoffnung gründen. Aber nun rate ich Ihnen selbst, zu tun, was ich vorhin tadelte: sehen Sie sich die Sache von einem selbstsüchtigen Standpunkt aus an! Denken Sie an Ihre Ländereien, Ihr Haus, Ihre Paläste, das Castel San Guido, Isola Nobile, denken Sie an Ihre Gemälde, Ihre Juwelen, an die Tausende kostbarer Erbstücke, die von Rechts wegen Ihnen gehören! Denken Sie nur an Ihre Unmasse Geld! Wie können Sie den Gedanken ertragen, daß all dies, Ihr ganzes Erbe, das Erbe von beinahe achthundert Jahren, in der Hand einer Fremden liegt? Ich könnte es nicht ertragen.«
»Das muß eben ertragen werden, und jeden Groll darüber erstickt das fatalistische Wort: es muß sein.«
»Es wäre besser, den Zorn zu nähren und energisch zu sagen: ›Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg‹,« entgegnete Susanna.
»Ich könnte nicht behaupten, daß ich den Weg sehr deutlich sähe.«
»Nein, aber wir müssen ihn eben finden. Das soll das nächste Ziel unsrer Verschwörung sein.«
Wieder schritten sie schweigend vorwärts, und Anthony dachte: »Wenn sie nur eine Ahnung davon hätte, wie wenig meines Herzens Sehnen auf die Güter und Paläste von Sampaolo gerichtet ist, und wie viel näher mir das Ziel meiner Wünsche steht! Wenn ich nur wüßte, was sie antworten würde, wenn ich es ihr sagte.«
Und bei diesem Gedanken bebte sein Herz in Furcht und Hoffen.
Und nun fing es plötzlich an, in Strömen zu regnen, als müsse der Himmel nachholen, was er in den letzten Stunden versäumt hatte. Anthony machte seinen Regenschirm auf. Um sie zu beschützen, mußte er ganz dicht neben ihr gehen, so dicht, daß sich ihre Arme manchmal berührten. Beide waren triefend naß, als sie im neuen Schloß anlangten, aber sie machten sich nicht viel daraus.
Miß Sandus, die ihnen in der Halle entgegenkam, bestand darauf, daß Susanna sich umkleide, aber zu Anthony sagte sie: »In einer Minute ist der Tee da,« und führte ihn in das große längliche, in dunkelm Rot und Gold prangende Wohnzimmer mit seinen schweren Möbeln, den schweren roten Damastvorhängen, dem schweren, vergoldeten Schnitzwerk und den schweren Bronzen und Gemälden.
Naß wie er war, folgte er seiner Führerin und setzte sich ihr gegenüber vor das riesige rote Marmorkamin, worin ein gutes Holzfeuer brannte, das an diesem echt englischen Sommertag keineswegs unwillkommen war.