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Vierzehntes Kapitel.

Adrian war offenbar in Erregung. Sein Haar war zerzaust, sein rosiges Gesicht zeigte ein tieferes Rot, seine Lippen waren geöffnet, seine Brust hob und senkte sich.

Er zögerte an der Schwelle, er streckte seine Hände in die Höhe, er rollte die Augen, er nickte. Es war offenbar, daß etwas passiert war.

»O meine Lieben! Meine Lieben!« keuchte er.

Seine Lieben wurden aufmerksam, neugierig, erwartungsvoll. Aber da er schweigend dastand und nur eindringliche, bedeutungsvolle Blicke von dem einen zum andern gehen ließ, und dann die Wände und die Decke anschaute, warf sich Anthony zum Sprecher für die Gesellschaft auf und fragte: »Nun? Was ist los?«

»O meine Lieben!« wiederholte Adrian und kam ein paar Schritte weiter ins Zimmer herein, seine Hände immer noch in der Luft.

»Was ist geschehen?« beschwor ihn Susanne atemlos.

»O meine lieben Liebsten!« keuchte er.

Er sank auf einen Stuhl.

»Ich muß eine Tasse Tee haben, ehe ich sprechen kann. Vielleicht wird mich eine Tasse Tee wieder zu mir bringen.«

Susanna goß ihm hastig eine Tasse Tee ein.

»Hilfreicher Engel!« lautete seine Anerkennung. – Er versuchte seinen Tee. – »Aber o – wie unfreundlich – Sie haben den Zucker vergessen!« Und hilflos blickte er auf den Teetisch.

Anthony brachte ihm die Zuckerschale.

»Sind das Zwiebäcke?« fragte Adrian, indem er eine Schüssel auf dem Kuchengestell ins Auge faßte.

»Es sind Aniskuchen,« sagte Fräulein Sandus, indem sie ihm das Kuchengestell zuschob. »Aber Sie lassen uns auf glühenden Kohlen.«

»Es ist mir herzlich leid. Ich kann mich nicht beherrschen. Ich muß einen Kuchen essen. Vielleicht kann ich Ihnen dann alles sagen.«

Er aß seinen Kuchen – mit allen Zeichen des Genusses – er schlürfte seinen Tee. Seine Zuhörer warteten. Endlich tat er einen langen, tiefen Seufzer.

»Ich habe eine Erfahrung gehabt, ich habe eine Lebenserfahrung gemacht,« sagte er.

»Wirklich –?« sagten sie.

»Ich konnte keinen Augenblick verlieren – ich mußte laufen – um es Ihnen zu erzählen. Ich fühlte, daß es mich verzehren würde, wenn ich es Ihnen nicht mitteilen könnte.«

Ihre Gesichter drückten Spannung aus.

»Kann ich noch eine Tasse haben?« fragte er Susanna.

Dieses Mal stand er jedoch auf und ging an den Tisch. »Die Welt ist so sonderbar,« sagte er.

»Nun! Wir warten auf deine Lebenserfahrung,« sagte Anthony.

»Du mußt mich nicht treiben – du mußt mich nicht plagen,« rief Adrian. »Ich bin in einem sehr hochgespannten Zustand. Du mußt mir meine eigene Art lassen.«

»Ich glaube, das leichtfertige Geschöpf hat alles vergessen,« sagte Anthony.

»Leichtfertiges Geschöpf!« Adrian hob seine Augen zu ihm auf, die düsteren Vorwurf ausdrückten. Dann wandte er sich zu den Damen: »Das zeigt, wie er mich verkennt. Bloß weil ich eine witzige Mutter hatte – bloß weil ich nicht ein dummer phlegmatischer Ochse von einem John Bull bin – bloß weil ich feinfühlig und eindrucksfähig bin, nennt er mich leichtfertig. Aber, nicht wahr, Sie wissen es besser. Sie mit Ihrem feinen weiblichen Instinkte und Auffassungsvermögen, Sie wissen, daß ich wahrlich so beständig und ernsthaft bin, wie die Pyramiden von Ägypten. Sogar meine Scherze haben einen moralischen Zweck – und was ich durch sie lehre, habe ich durch Kummer gelernt. Leichtfertig!« Er warf dem Beleidiger wieder einen schwarzen Blick zu und hielt seine Tasse hin, um sie zum dritten Male füllen zu lassen.

»Gesegnet sei der Mann, der den Tee erfunden hat,« murmelte er andächtig. »Besonders am Freitag,« fuhr er fort, indem er sich an Susanna wandte, »ist er da nicht ein Geschenk? Ich weiß nicht, wie man ohne ihn über den Freitag wegkommen könnte. Ihr armen, lieben, glücklichen Protestanten,« – er richtete seine Bemerkung an Fräulein Sandus – »habt keine Ahnung, wie oft der Freitag da ist. Ich glaube, es gibt sieben Freitage in der Woche.«

Susanna lachte leise; in dem wundervollen, frischen, enganliegenden blaugrauen Gewand, mit seinen Krausen, Spitzen und Stickereien saß sie in der Ecke eines langen, roten Damastsofas neben dem hübsch gedeckten Teetisch. Anthony, der nahe bei ihr stand, sah auf sie hinab und war sich bewußt, daß er im Grund seines Herzens sehr befriedigt und sehr sehnsüchtig war.

Wie prachtvoll sie ist! Gab es noch einmal solches Haar in der Welt? Solche Augen? Solche Lippen? Wer hatte noch so ein Gewand? Und dann dieser schwache, zarteste Duft, eine Erinnerung an Veilchen! – Derartige Gedanken etwa mochten ihm durch den Kopf schwirren.

»Aber Ihre Lebenserfahrung? Ihre Lebenserfahrung?« Fräulein Sandus bestand darauf.

»Er hat sie rein vergessen,« versicherte ihr Anthony.

»Sie vergessen? Unsinn!« warf ihm Adrian mit Verachtung vor. »Aber Sie sind alle so vorschnell. Man muß doch seine Gedanken sammeln. Es gibt fünfzig mögliche Arten, eine Geschichte zu erzählen – man muß die effektvollste aussuchen. Und dann, wenn Sie erst so weit sind, hat das Leben so viele Erfahrungen und so viele verschiedene Arten von Erfahrungen. Das Leben ist für den Menschen mit offenen Augen eine Reihenfolge von vielfarbigen Überraschungen. Ich konnte niemals und werde niemals verstehen können, wie es möglich ist, daß es Leute gibt, die es langweilig finden. – Was würden Sie dazu sagen,« – er sah nach dem Flügel hinüber – »wenn ich Ihnen ein kleines Lied vorsänge?«

»Sie sind unnachahmlich, aber Sie können einen zur Verzweiflung bringen.« Fräulein Sandus gab ihn mit einem resignierten Kopfschütteln auf.

»Bitte, singen Sie uns ein kleines Lied,« bat Susanna.

Er wandte sich tänzelnd zu dem Instrument. Aber mitten auf dem Weg blieb er wieder stehen.

»Ernst oder heiter? Heilig oder profan?« fragte er über die Schulter weg.

»Irgend etwas – was Sie wollen,« antwortete Susanna.

»Ich will Ihnen ein kleines ›Ave Maria‹ singen,« entschied er, worauf er, anstatt zu beginnen, seinen Rücken halb gegen den Flügel drehte, halb seine Zuhörer ins Auge faßte.

»Wenn ein Musiker ein ›Ave Maria‹ komponiert,« belehrte er sie, »so ist das, was er anstreben sollte, dasselbe, was die feinen alten Meister während des fünfzehnten Jahrhunderts in Italien anstreben, wenn sie eine ›Verkündigung‹ malten. Er sollte darzustellen versuchen, was man gehört haben würde, wenn man dabei gewesen wäre, gerade so wie die Maler darzustellen versuchten, was man gesehen haben würde. Nun, und was war das? Was würde man gehört haben? Was hörte unsre heilige Jungfrau selbst? Sehen Sie! Es war Frühling und es war Abend. Und sie saß in ihrem Garten. Und Gott sandte seinen Engel, der ihr die hohe Botschaft verkündigen sollte. Aber sie sollte sich nicht fürchten. Sie, die dem lieben Gott so teuer war, das kleine, fünfzehnjährige Mägdlein, voll Erstaunen, Schüchternheit und Unschuld, sie durfte nicht erschreckt werden. Sie saß in ihrem Garten zwischen ihren Lilien. Vögel sangen rings um sie her, ein Lüftchen säuselte leise in den Palmen, ganz nahe plätscherte eine Quelle; vom Dorfe her hörte man das Geräusch vieler Stimmen. Alle die munteren, vertrauten Laute der Natur und des Lebens tönten in der Luft. Sie saß dort, dachte ihre unschuldigen Gedanken, träumte ihre heiligen Träume mit offenen Augen. Und wie im Traume sah sie einen Engel auf sich zukommen und vor ihr knieen. Aber sie fürchtete sich nicht – denn es war wie ein wacher Traum –, und des Engels Antlitz war so schön und so lieblich und so verehrungsvoll, sie konnte keine Furcht haben, auch wenn es wirklich so gewesen wäre. Er kniete vor ihr und seine Lippen bewegten sich, aber wie im Traum, ohne einen Laut. Alle die vertraute Musik der Außenwelt ging weiter – das Singen der Vögel, das Säuseln des Windes, das Murmeln der Quelle, das Geräusch des Dorfes. Alles ging weiter – es war keine Pause, kein Schweigen, keine Veränderung – nichts, was sie erschreckte, nur war es, als ob alles in einen einzigen Ton zusammenklänge. Alle die Töne von Erde und Himmel und Weltall vereinigten sich in diesem Augenblick, als der Engel vor ihr kniete, zu einem einzigen Gesang: Heil, heil der gnadenreichen Maria!«

Als Adrian geendigt hatte, stand er eine Minute lang schweigend da, und niemand sagte etwas. Dann kehrte er ans Kamin zurück und sank wieder in seinen Stuhl.

»Was für ein schöner, was für ein göttlich schöner Einfall,« sagte endlich Susanna mit tiefem Gefühl.

»Wundervoll!« stimmte das protestantische Fräulein Sandus nachdrücklich zu.

»Halt, wahrer Dichter, der du bist, ich kenne dich. Laß mich versuchen, dir einen Namen zu verleihen!« rief Anthony lachend.

»Chrysostomus, er sollte Chrysostomus heißen,« sagte Fräulein Sandus.

»Die Welt ist ein Garten von schönen Einfällen,« war Adrians bescheidene Antwort, indem er diese Verherrlichung entgegennahm, »man muß sie nur pflücken. Aber jetzt« – er stand auf – »muß ich mich nach Hause trollen. Gehst du mit mir?« fragte er Anthony.

»Was?« rief Fräulein Sandus protestierend; »Sie gehen fort, ohne uns Ihre Lebenserfahrung erzählt zu haben? Die Erfahrung, wegen der Sie so rennen mußten, um sie uns mitzuteilen!«

»Und ohne uns Ihr Lied zu singen?« sagte Susanna.

Adrian rang die Hände. »O Sie Grausame!« klagte er. »Wie können Sie so ungerecht sein? Ich habe Ihnen doch meine Lebenserfahrung erzählt. Und was das Lied betrifft –«

»Er kann immer aufhören zu singen, wenn er einen Meister reden hört,« schob Anthony ein.

»Was mein Lied betrifft,« sagte Adrian, ohne den Einwurf zu beachten, »so muß ich nach Hause und versuchen, es aufzuschreiben.«


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