Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Sogar vom Standpunkt eines Landbewohners aus, der ja in den Augen eines Städters immer ein Frühaufsteher ist, war es sehr früh am Morgen, als Anthony am nächsten Tag den schweren altmodischen Türverschluß öffnete, indem er den eisernen Balken, die Riegel und Ketten zurückschob, um ins Freie zu gelangen. Die große Uhr in der Halle, deren Ticktack allein die tiefe Stille des Hauses unterbrach, zeigte erst ein Viertel nach vier Uhr.
Er ging auf die Terrasse hinaus und atmete in vollen Zügen die köstliche, balsamische Morgenluft ein, dann trat er einen ziellosen Morgenbummel an.
In großen Perlen glitzerte der Tau auf den Wiesen, wo die Schafe schon eifrig am Frühstücken waren; wie Rubine glänzte er in den scharlachroten Kelchen des Mohns und wie Topase in denen der zierlichen Butterblümchen, während er die Wege, die noch im Schatten lagen, wie mit Rauhreif bedeckte. Noch waren die Schatten lang und die Sonnenstrahlen beinahe wagrecht. Die Sonne schien sanft, wie durch einen Schleier und vergoldete alles, was sie berührte: die glatten Blätter und die rauhe Rinde der Bäume und die Spitzen der Grashalme. Ein dichterer Schleier, ein gleichsam mit Perlen und Silber durchwobener Flor, dämpfte das leuchtende Blau der See und verwischte die scharfen Umrisse der Klippen. Am Horizont ruhte eine graue Wolke über dem Wasserspiegel, ein langer, weicher Wolkenstreif, weich wie grauer Samt – er war grau, ganz grau, schillerte aber doch in allen Farben des Regenbogens.
Es war ein unaussprechlich schöner, ruhiger Morgen, aber trotz all der Ruhe und all dem Frieden, die über ihm lagen, war er voll Bewegung und Leben. Dohlen kreisten in der Höhe und krächzten im Predigtton den unsichtbar über fernen Feldern schwebenden Saatkrähen heuchlerische Ermahnungen zu; Kiebitze kamen aus dem Gesträuch hervor, unter dem sie ihre Eier verborgen hielten, und flatterten schwerfällig ins Freie. Zahllose Sperlinge unterhielten sich lärmend und aufgeregt; Amseln wiederholten wieder und wieder ihr melodisches Liebeswerben, das sie seit Erschaffung der Welt vernehmen lassen und dessen noch nie ein Mensch überdrüssig geworden ist; Finken aller Arten zwitscherten lustig und froh. In den Wipfeln der Bäume ließen die Drosseln ihr begeistertes Lied ertönen, das weiter unten die Meisen nachzusingen versuchten. Dazwischen hinein ließ sich in gemessenen Pausen aus der Entfernung auch der Ruf des Kuckucks vernehmen. Mit düsterer Entschlossenheit lagen die Bienen ihrer Arbeit ob und summten vor sich hin: »Muß sein – traurig, daß es sein muß – muß sein – traurig, daß es sein muß,« woraus zu ersehen ist, daß – vom Standpunkt einer Biene aus – sogar die schöne Aufgabe, von Blume zu Blume zu fliegen und Honig zu sammeln, kein dauerndes Interesse zu erwecken vermag, sondern einer Willensanstrengung bedarf; dagegen genießt der Schmetterling, von jeder leuchtenden Blüte angelockt, unbekümmert um das, was kommen soll, die Freuden des Augenblicks in vollen Zügen. Ringsum war alles von geschäftigem Leben erfüllt, aber trotzdem lag über diesen frühen Morgenstunden, in denen der Mensch, der Friedensstörer, noch der Ruhe pflegt, ein unsagbar süßer Friede. Und dazu diese köstliche, reine, prickelnde Luft, die in alle Poren zu dringen und Gefühl und Einbildungskraft zu beleben schien: es war herrlich!
Ziellos schlenderte Anthony dahin auf den rötlich beschatteten Pfaden, unter den breitästigen Eichen und den tiefhängenden Ulmen, über den sonnenbeschienenen, saftiggrünen Rasen und genoß, gleich dem Schmetterling, unbekümmert, in vollen Zügen den Augenblick und all das Schöne, das ihm auf seinem Weg entgegentrat. Alles Traurige und Trübe, all die Alltäglichkeiten des Lebens waren vergessen, und es war ihm zu Mute, als hätte er im Hause des Lebens eine neue Zimmertür entdeckt, hinter der neue, verheißungsvolle Abenteuer seiner harrten. Fröhlich seinen Stock schwingend, schlenderte er aufs Geratewohl weiter bis … ja, bis er plötzlich etwas sah, was ihn und für einen Augenblick auch das Herz in ihm zum Stillstehen brachte: etwas, woran er mehr oder weniger die ganze Zeit gedacht hatte, ohne sich darüber klar zu werden.
Eben hatte er einen kleinen Hügel erstiegen und schaute vor sich hinunter, da sah er unter einem in voller Blüte stehenden Weißdorn – »Signora Torrebianca, so wahr ich lebe!« sagte er heftig atmend zu sich selbst.