Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

22

Gitta schlenderte durch die Straßen zum Bahnhof hinunter. An dem Schloß vorbei ging sie langsam durch das Gedränge der Hafenstraßen, ließ ihre Augen auf der dunklen Wasserfläche von dem Gewühl der Wagen, Elektrischen, dem Strom der Menschen ausruhen und schlenderte weiter. Sie hatte noch eine halbe Stunde Zeit, bis der Berliner D-Zug einlief, mit dem Holten kommen mußte. In einem offenen Auto sah sie plötzlich Mario Glasberg sitzen. Er wird doch nicht auch zum Zuge fahren, dachte sie.

Mario saß neben einem jungen Mädchen. Gitta sah ein bleiches Gesicht mit großen, hellen Augen darin. Sie war schwarz gekleidet. Renate Fenn! dachte Gitta. Vielleicht holen sie einen Verwandten ab.

Auf dem Bahnsteig sah sie die beiden auf- und niedergehen. Wieder packte sie, wie gestern in St. Lüne, die Lust, Mario anzusprechen. Was konnte die Folge sein? Daß er erschrak und sich verfolgt wußte! Vielleicht warnte es ihn. Aber vielleicht wollte sie ihn gerade warnen? Sie ging einige Male an ihnen vorüber. Hatte Mario sie bemerkt? Er soll mich bemerken! hoffte sie.

»Mario!« rief sie ihn an. Er sah in ihr Gesicht, suchte es zu durchdringen, auseinanderzulegen, wußte nicht.

»Brigitte!« kam sie ihm zu Hilfe. Er kennt mich als Brigitte, ging es ihr durch den Kopf. Seltsam, daß ihr im Augenblick »Brigitte« besser gefiel als »Gitta«.

War nicht ein furchtbares Erschrecken durch seine Züge gegangen? Sie glaubte gesehen zu haben, daß er erbleichte. Gleich darauf aber strahlte er ihr in warmer Freude entgegen.

»Brigitte! Mädel!« rief er aus, umarmte sie und drückte einen Kuß auf ihren Mund. Sie fühlte es heiß durch ihren Körper rinnen. Das war Mario Glasberg, den sie verfolgt hatte? Ihre Lippen konnten nicht anders als den leichten Druck erwidern.

»Hier ist Brigitte Streicher, Susettes Lieblingsschwester!« sagte er zu dem jungen Mädchen. »Und dies ist Renate Fenn. Du weißt wohl, Brigitte?«

Renate sah Gitta mit unverhohlener Feindseligkeit an. Ihre Augen bekamen einen stumpfen, kalten Glanz.

»Trägt man die Haare jetzt wieder so in Berlin?« fragte Renate.

»Ich weiß nicht, was Sie meinen,« antwortete Gitta kühl. Mario hatte ihre Hand gefaßt. Wie ein Ertrinkender, empfand sie. Wer weiß, wie es jetzt in ihm aussieht!

Er fragte sie, ob sie hier am Theater wäre.

»Ich habe dem Intendanten vorgesprochen,« log sie, aber es tat ihr geradezu weh, ihn anzulügen.

»Wen erwartest du hier?« fragte er weiter.

»Wolf van Holten,« antwortete sie. »Er wird die Verteidigung von Margis übernehmen.« Sie sah, wie er zusammenzuckte.

»Bist du mit ihm –« fing er an. »Ich meine, kennt ihr euch gut?«

»Sehr gut!« sagte sie.

Er zuckte die Achseln. »So!« Und wandte sich Renate zu. Hat er mir den Rücken gedreht? fragte sich Gitta. Der Zug lief ein.

»Papa fährt sicher erster Klasse,« sagte Renate. Gitta stand dicht hinter ihr und hörte heraus, daß sie ihren Vater abholte. Wolf kommt sicher Zweiter, dachte sie und mußte ein wenig lächeln.

Dann stand er aber doch in der ersten Klasse mit einem großen dicken Herrn zusammen. Das ist Herr Fenn! wußte sie und wunderte sich, daß die beiden sich kannten. Holten sah müde aus, hatte ein kleines Gesicht, das hinter den Brillengläsern fast verschwand.

Es war ein Chaos von einer Begrüßung. Herr Fenn und Renate lagen sich in den Armen. Sie weinten beide. »Dich habe ich immer geliebt, Papa!« stammelte ihm Renate ins Gesicht. »Nimm mich bloß aus diesem schrecklichen Land fort!«

Herr Fenn strich ihr immerfort über das Haar, während ihm die Tränen unter der Brille hervorrollten. In Glasbergs Anwesenheit gab es ein kühles Willkommen zwischen Wolf und Gitta. Vielleicht sollte sie mich gerade in seiner Anwesenheit küssen! dachte er und fand sie einigermaßen lieblos.

»Du wirst unsern Freund Margis verteidigen,« sagte Glasberg und reichte Holten die Hand. »Aussichtslose Sache das!«

»Wollen sehen!« gab Holten zurück.

Herr Fenn drückte Glasberg die Hand, als begrüßte er einen alten Freund. »Sie haben sich der Sache angenommen, Herr Doktor,« sagte er mit warmer Herzlichkeit. »Ich danke Ihnen!« Es war, als wollte er Holten zeigen, daß er seinen Verdacht für sinnlos hielt. Die beiden jungen Mädchen vermieden jede Berührung.

Die Kofferträger wußten nicht, wohin. Herr Fenn und Renate sollten mit Glasbergs Wagen nach Klein-Klank hinausfahren. Aber der Kalifornier erklärte, daß er niemals in der Dunkelheit mit einem Auto fahre. Er beabsichtige, mit seiner Tochter im Hotel zu übernachten und morgen hinauszukommen.

Holten bemerkte, daß Glasberg ihm einen scheuen Blick zuwarf. Mario hatte sofort erfaßt, was auch Holten fühlte: Herr Fenn wollte nicht Autogast des vermeintlichen Mörders seiner Frau sein. Holten bewunderte die Sicherheit seines Auftretens. Hatte dieser schwerfällige Bär die Situation im Augenblick erfaßt? Roch er die Menschen?

Holten erklärte, in welchem Hotel er mit Gitta wohne. Glasberg schlug für Fenns ein anderes vor. »Vielleicht essen wir dort zu fünfen Abendbrot?« forderte Herr Fenn auf.

Renate machte ein böses Gesicht. Sie verstand ihren Vater nicht, daß er nicht mit ihr allein sein wollte. Aber gerade das wollte Herr Fenn anscheinend vermeiden. Er schämt sich seiner Gefühle, dachte Holten. Und wahrscheinlich will er sich von uns allen ein Bild machen.

Es war merkwürdig, wie sie sich vom ersten Augenblick an nach diesem bärtigen Ungetüm richten mußten. Er stand inmitten der Gruppe, riesengroß, in weitem, schwarzem Mantel und schwarzem Schlapphut. Selbst Glasberg sah unscheinbar neben ihm aus.

Herr Fenn beorderte seinen Koffer in ein Mietauto. Glasberg forderte Holten und Gitta nicht auf, von seinem Wagen Gebrauch zu machen. Es war wie ein zerschnittenes Tafeltuch zwischen ihnen.

So ließ sich auch Holten seinen Koffer in ein Mietauto tragen. In einer halben Stunde wollte man sich, wie verabredet, wieder treffen. Die beiden Paare fuhren ab, Glasberg stieg allein in seinen Wagen. Der scharfe Zug um seinen Mund hatte sich verstärkt. Er sah ungeheuer ernst aus.

»Er ist der Mörder!« sagte Holten zu Gitta.

Sie fand, daß Mario sich vielleicht nur über die Art des Herrn Fenn geärgert habe. »Du hast ihm alles gesagt?«

Holten nickte. »Ich habe ihm alles gesagt, und aus seinem Benehmen schließe ich, daß er mir glaubt.«

»Aber es ist nicht möglich, daß er es ist. Zur Zeit der Mordtat war er doch hier im Hotel. Ich sah ihn selbst noch gerade die Treppe hinaufgehen, und der Portier rief ihm etwas nach und nannte seinen Namen.«

»Sonderbar!« sagte Holten und ließ sich von ihr erzählen, was sie wußte.

»Weißt du, Wolf, er tut mir zutiefst leid!« Sie berichtete, wie er sie auf dem Bahnsteig geküßt habe. »Er faßte meine Hand wie ein Ertrinkender. Ich kann es nicht glauben, daß er es getan hat.«

»Kannst du mir geradeheraus erklären: Du glaubst nicht, daß er der Mörder ist?«

»Nein, das kann ich nicht!« sagte sie verlegen.

»Dann ist er es gewesen. Denn wenn du, die ihn zur Zeit der Tat hier gesehen hat, noch zweifelst, dann muß er es gewesen sein, Gitta!«

»Ich weiß nicht, wie das alles zusammenhängt, Wolf. Aber er tut mir furchtbar leid!«

Sie fuhren bei dem Hotel vor. Holten unterhielt sich, während er seine Personalien eintrug, mit dem Portier. »Herr Doktor Glasberg hat in der Nacht vom Donnerstag zum Freitag hier gewohnt?« Der Portier bejahte. »Und auch die Nacht vorher?« Holten fragte ihn nach Glasbergs Aussehen. »Ein großer, schlanker Herr, bartloses Gesicht. Er trug Autokappe und hellen Staubmantel.«

»Hatte er die Brille heruntergelassen?«

»Nein, natürlich nicht. Er hatte sie hochgeschlagen.« Holten zuckte die Achseln. Der Portier lächelte, daß man einen Gast dieses Hotels mit einer Mordtat in Zusammenhang brachte. Er hatte inzwischen die Zeitungen gelesen.

Wegen des Sonnabends war das Restaurant in dem Hotel dicht besetzt. Sie erwischten einen kleinen Tisch in einer Ecke, saßen zusammengekauert und konnten kaum sprechen. Herr Fenn saß zwischen Holten und seiner Tochter, Glasberg zwischen Renate und Gitta, Holten zwischen Gitta und Herrn Fenn.

Es machte den Kalifornier merklich beklommen, nicht über weiten Raum zu gebieten und seine Stimme dröhnen lassen zu können. Dennoch hatte er auch jetzt noch breite Bewegungen, die seine Nachbarn einengten. Ein Herr am Nebentisch hinter ihm war mit seinem Stuhl förmlich an die Wand geklemmt, wagte aber nicht, sich zu beschweren. Man hatte das Gefühl, daß dieser Riese einen Lästigen mit einer Handbewegung einfach durch die Wand schieben würde.

Sie aßen fast schweigend. Herr Fenn hatte für alle Bordeaux bestellt, obwohl es heiß war. Außer ihm trank fast niemand; aber es gab im Handumdrehen drei leere Flaschen auf dem Tisch. Dazu hatte er zwei Rumpsteaks vor sich stehen. »Ißt du nicht mehr rohes Fleisch, Papa?« fragte Renate. Herr Fenn sagte mit Verachtung, daß es hier nur geschabtes und durchgemahlenes Zeug gäbe. Dann äße er schon lieber Eierkuchen oder Grießbrei.

»Wolf, ich muß dich nachher sprechen!« sagte Glasberg plötzlich zu Holten hinüber. Der sah ihn erstaunt an. »Ja, verzeih, Brigitte! Aber ich muß ihn unbedingt allein sprechen. Er bringt dich ins Hotel, während ich nach meinem Wagen sehe. Wir treffen uns dann wieder hier.«

»Wo hast du deinen Wagen?« fragte Holten.

»In einer Garage, ganz in der Nähe.«

»Ich dachte, du pflegst in unserm Hotel abzusteigen?«

»Du verstehst, Wolf, daß mir dieses Hotel seit gestern verhaßt ist.«

»Ich bin natürlich jederzeit bereit, mich mit dir zu unterhalten,« sagte Wolf.

Gitta drängte nach Hause. »Ich finde wirklich den Weg allein, Wolf! Du brauchst mich nicht zu begleiten! Denke, bitte, nicht, daß ich es dir übelnehme. Ich bin zudem hundemüde!« Sie erhob sich, reichte allen die Hand.

Herr Fenn schüttelte sie und nickte ihr, weiterkauend, mit großen Kopfbewegungen zu. Renates und Gittas Hände berührten sich kaum, und die Mädchen sahen sich nicht an, als sie sich voneinander verabschiedeten. Es war wie eine offen erklärte Feindschaft zwischen ihnen. Holten brachte Gitta bis auf die Straße. Sie war bleich, als sie ihm Lebewohl sagte.

»Was wird Mario dir sagen, Wolf? Ich bebe vor Aufregung. O Gott, weshalb sind wir bloß noch dort alle zusammengewesen? Es war furchtbar! Ich konnte Marios Nähe nicht mehr aushalten! Bemerktest du nicht, daß er am Ende seiner Kraft ist?« Er zuckte die Achseln. »Wolf, klopfe noch nachher bei mir an! Ich kann doch nicht schlafen! Auch wenn es ganz spät ist, hörst du!?« Er versprach es und ging an den Tisch zurück.

Herr Fenn war beim Käse angelangt. Es sah aus, als ob er nichts außer seinem Gorgonzola beachtete. Gitta hatte recht, es herrschte eine furchtbare Stimmung an dem Tisch.

Auf einmal blickte Herr Fenn auf und sagte, Glasberg übergehend, zu Holten: »Ich würde mich freuen, Herr Rechtsanwalt, wenn ich Sie in den nächsten Tagen in Klein-Klank begrüßen könnte.«

Renate sah Glasberg an und zuckte die Achseln, als wollte sie sagen: ›Ich kann nichts dafür, daß Papa Sie nicht auffordert. Mir wären Sie jederzeit hochwillkommen, während ich diesen Holten schon vom Hörensagen nicht ausstehen kann.‹ Sie wurde aus ihrem Vater noch nicht klug, hielt es aber für falsch, ihm jetzt schon zu widersprechen. Ich werde schon noch mit ihm fertig werden! sagte ihre Haltung.

Glasberg und Holten wußten nicht, ob sie bleiben oder Vater und Tochter alleinlassen sollten. Glasberg hatte seine selbstverständliche Sicherheit verloren. Wie hätte er früher und jedem andern gegenüber eine so abweisende Haltung wie die des Herrn Fenn pariert! dachte Holten. Vielleicht hatte Gitta recht, daß er dicht vor einem Zusammenbruch stand. Aber aus welchem Grunde? Hatte er gemordet, oder hatte der Tod der Freundin ihn so erschüttert?

Herr Fenn beendete seine Mahlzeit. »So, meine Herren!« sagte er, sich den Mund mit der Serviette wischend. »Jetzt bleibe ich mit meiner Tochter allein!« Die Herren standen gehorsam auf. Der Kalifornier schüttelte ihnen mit treuherzigem Ausdruck die Hände.

»Also, Herr Doktor,« sagte er zu Glasberg, »wenn wir uns nicht mehr sehen sollten, alles Gute!« Bei aller Biederkeit fielen die Worte wie ein Verbannungsedikt nieder. Herr Fenn hätte ebensogut sagen können: Scheren Sie sich zum Teufel!

Glasberg verneigte sich höflich und sagte, übrigens ohne besondere Betonung. »Auf Wiedersehen!« Selbst vor Renate machte er nur eine förmliche Verbeugung, und sie wagte nicht, ihm die Hand entgegen zustrecken.

Draußen blieb Glasberg stehen und holte tief Atem. Er ließ die Luft langsam seinem Brustkasten entweichen, als machte er eine Yoghiübung, um sich zu sammeln. »Wo gehen wir hin, Wolf?« Holten hatte nicht die mindeste Lokalkenntnis. »Jenseits der Schloßteichbrücke soll es eine Art Tanzdiele geben!« entschied Glasberg schließlich. Es waren vielleicht Studentenerinnerungen, daß er mit Holten diese Art Lokale bevorzugte.

»Kannst du jetzt wirklich, einen Tag nach dem – Ereignis, ein solches Lokal besuchen, Mario?«

»Sei kein Spießer, Wolf! Man kann nirgendwo zurückgezogener leben als in einer Tanzdiele.«

Sie gingen über den Paradeplatz und dann längs des Wassers. Rings bauten sich die Lichter der Stadt in steigenden Terrassen auf. In einem Garten wurde ein Feuerwerk abgebrannt. Es stieg in den Nachthimmel und versank gleichzeitig im Wasserspiegel.

Dazu spielten von drei Seiten Musikkapellen. Über dem Teich verbissen sich die Töne ineinander, suchten sich zu überschreien, warfen mißtönende Echos auf. »Das gefällt mir!« sagte Glasberg. Holten fühlte, wie Marios Schritt geschmeidiger wurde und sein Kopf sich allmählich hob.

Sie traten in ein Tanzlokal, fanden eine leere Ecke mit Korbsesseln, bestellten Champagner. »Sieh, hier sitzen die Leute bei offenem Wein. Glückliche Provinz!« Holten dachte: Ob er heute tanzen wird?

Aber Glasberg tanzte nicht. Er mokierte sich über die tanzenden Paare. Dann aber winkte er auf einmal zwei Mädchen heran und füllte ihnen mehrmals hintereinander die Gläser, stürzte selbst noch einen Mokka hinunter, überschlug sich in zynischen Bemerkungen, daß die Mädchen jedesmal herausplatzten. Dabei wurde sein Gesicht immer finsterer. Es war, als hätte er sich eine Maske vorgebunden. Wohin soll dies führen! dachte Holten ängstlich. Vielleicht nimmt er im nächsten Augenblick einen Revolver und erschießt sich.

Mit einemmal aber schickte Glasberg die Mädchen mit einer brüsken Bewegung fort. »Weg! Laßt uns allein!« herrschte er sie an und warf jeder einen Geldschein zu. Er wischte sich mit der Hand über die Stirn, die feucht war. »Das ist ja alles Unsinn!« sagte er. Holten sah ihn scharf an. »Du hattest mich sprechen wollen, Mario?«

Ihm fiel dabei ein, daß sie bei dieser Zusammenkunft nicht im mindesten mehr jenen heiter kameradschaftlichen Ton anwandten, den sie sonst zwischen sich aufrechtzuerhalten suchten. Schon seit der Begrüßung am Bahnhof war es, als hätten sie ihre Masken fallen lassen.

»Dich sprechen? Ach ja, so!« fing Glasberg an und fuhr sich wieder mit der Hand über die Stirn, als müßte er die Schweißtropfen einer großen Anstrengung fortwischen. »Findest du nicht auch, daß man lieber Schwedenpunsch trinken sollte?« Er winkte dem Kellner und bestellte.

»Ist das alles, was du mir sagen wolltest?« fiel Holten ihn an.

Glasberg hob erstaunt den Kopf. »Nein, natürlich nicht! Du wirst also Margis bei diesem Mordprozeß verteidigen?«

Holten nickte.

»Dann wirst du ihn also morgen aufsuchen, nicht wahr? Höre, er hat da in Klein-Klank zwei Bilder gemalt. Zwei unerhörte Bilder. Ich mag seine Sachen sonst nicht. Aber diese Bilder sind erstklassig.« Er beschrieb sie ausführlich, wurde warm und fast ruhig dabei. Vielleicht sprach er nur von den Bildern, um von Maria Fenn sprechen zu können. »Ich will diese beiden Bilder haben, hörst du, Wolf? Wirst du es Margis sagen? Wenigstens das eine Bild, das Porträt Marias, muß ich auf alle Fälle haben. Ich habe in meinem Arbeitszimmer noch eine leere Stelle an der Wand.«

Holten zuckte zusammen. Mit allen Farben und dem roten Rahmen aus gehämmertem Kupfer stieg Susettes Bild vor ihm auf. Er sah ihr kobaltblaues Gewand und das gelöste Haar und das Hinsinken der edlen Gestalt. – Mein Gott! dachte er, dort will er auch das Bild der Frau Fenn hinhängen, um seine Opfer beisammen zu haben!

»Ich weiß von dem Bild,« sagte er, »und will es Margis ausrichten.«

»Der Preis spielt keine Rolle, verstehst du? Das Bild ist wundervoll. Es wird einmal einen großen Wert haben. Und ich möchte bei dieser Gelegenheit gleich Margis' Familie unterstützen. Seine Frau muß jetzt Geld in die Hände bekommen.«

»Sehr edel!« höhnte Holten. Glasberg warf ihm einen fragenden Blick zu. »Weißt du, wie ich das Bild rahmen würde?« fuhr Holten schnell fort. »Es müßte einen blutroten Rahmen aus gehämmertem Kupfer haben!«

Da war es heraus! Glasberg starrte ihn entsetzt an. »Was weißt du?« entfuhr es ihm.

»Alles!« antwortete Holten kühl. Er erwartete, daß in diesem Augenblick mindestens die Decke einstürzen würde.

Aber Glasberg lehnte sich ruhig in seinen Sessel zurück, er war nur kreideweiß, als er langsam und leise sagte: »Es ist gut, daß du alles weißt. Ich wollte es dir heute sagen.« Das Schweigen, das diesen Worten folgte, war entsetzlich.

»Weißt du wirklich alles?« fragte Glasberg nach einer Weile.

Holten nickte. »Ich kenne auch das Bild Susettes über deinem Schreibtisch. Du hast recht: Das Bild von Maria Fenn muß daneben, und es muß gleichfalls unter einem schwarzen Vorhang aufgehängt werden.«

»Du hast Susettes Abschiedsbrief aus dem Schreibtisch geholt?« Holten nickte. »Aber niemand kann beweisen, daß er gefälscht ist,« sagte Glasberg.

»Du hast recht. Die Fälschung ist vollkommen. Du hast nur das eine vergessen, daß Susette in der Erregung einer Abschiedsstunde ganz anders geschrieben haben würde als in deinem Brief. Du hast ihre Handschrift genommen, wenn sie von Bällen schreibt, daß sie fad waren.«

»Das genügt nicht als Beweis.«

»Vielleicht nicht. Aber es genügt, daß Susette nicht an Veronalvergiftung gestorben ist, sondern –«

»Sondern?«

»An Arsen!«

»Auch das weißt du!«

»Ich weiß auch, daß du die Erde, in der sie ruhen sollte, auf ihren Arsengehalt untersucht und dein Arsentrioxyd danach bereitet hast. Und daß du alles in Bewegung setztest, um zu verhindern, daß Susette auf dem Neuen Kirchhof bestattet wurde, weil dir die Erde dort zu wenig Arsen enthielt. Glaubst du mir jetzt, daß ich alles weiß?«

Glasberg verzog den Mund zu einem höhnischen Lächeln. »Ja, du weißt alles. Du hast, wie bereits auf dem Gymnasium, eine sehr fleißige und verwendbare Arbeit geliefert. Es ist nichts daran auszusetzen.«

»Mario, warum sprichst du so? Ja, ich habe über ein Jahr daran gearbeitet, um dich zu überführen. Jetzt bin ich am Ziel.«

»Ja, du hast das Ziel der Klasse erreicht.«

»Mario, Mario! Um des Himmels willen, weshalb hast du das getan?«

Glasbergs Blick wurde unruhig, wanderte in den Ecken des Saales umher. Es war genau wie in der Klasse, wenn er eine Antwort nicht wußte.

»Ich weiß es nicht,« sagte er langsam. »Ich mußte es tun. Nichts hat mich dazu getrieben als ein unwiderstehlicher Drang. Wolf, ich habe dagegen angekämpft. Daß ich jetzt die Kraft verliere, das ist nicht eure Überlegenheit, sondern ich habe zuviel Kraft in dem Kampf gegen diesen Drang vergeudet. Das ist es! Ich hätte Maria Fenn vierzehn Tage früher vergiften sollen. Dann hättet ihr mich nicht bekommen.«

Er ließ seinen Kopf auf die Brust sinken, als ob er schliefe. Auf einmal fing er an zu sprechen, ganz leise zuerst, daß Holten sich zu ihm hinüberbeugen mußte. Es war, als spräche er unverständliches Zeug; erst allmählich konnte Holten alles verstehen. Aber es ging in so rasender Eile vorüber, daß er nicht wußte, ob nicht alles ein Traum war.

Mario erzählte von Susette, von ihrem ersten Zusammentreffen, den Spaziergängen auf der nächtlichen Chaussee an den Wiesen, den Stelldicheins bei der alten Gladen im Park, von der überstürzten gemeinsamen Flucht nach England und der Trauung dort. Er schilderte, wie allmählich der furchtbare und seltsame Zerstörungswille in ihm wach wurde, wie er zuerst diese Stimme nicht verstand und von seinen Händen überrascht war, wenn sie sich um Susettes Hals klammerten. »Du ermordest mich ja!« hatte Susette einmal lachend und überglücklich ausgerufen. Dieses Wort hatte ihm alles erklärt.

»Wolf, ich schwöre es dir mit heiligen Eiden: Es war Liebe, übergewaltige Liebe! Du ahnst nicht, wie ich Susette geliebt habe! Ich konnte es nicht ertragen, daß sich die Vergänglichkeit und das Alter an diesen Leib heranmachen würden. Ich mußte ihn zerstören, um ihn zu bewahren. Du weißt nicht, was mir von meiner Familie dafür geboten wurde, daß ich mich von Susette trennte. Der Konzern, der berühmte Glasbergkonzern, war damals dicht am Zusammenbruch. Es weiß fast kein Mensch davon, daß wir damals dicht am Abgrund standen. Es war die bekannte kritische Zeit für die großen Trusts. Alles hing damals davon ab, daß das Langenohrer Hüttenwerk uns angegliedert wurde. Käte Lenninghaus liebte mich. Ich habe alle Angebote und Verlockungen von mir gewiesen. Ja, sie haben den Tod Susettes um ein halbes Jahr hinausgeschoben. Aber – als dann das eintrat, was diesen geliebten Körper zu entstellen drohte, da – geschah es. Wolf, sie hatte einen wundervollen Tod. ›Deshalb gehe ich. da noch alle Tafeln besetzt sind!‹ Es war ja die Wahrheit! Sie hätte es jeden Augenblick hingeschrieben, wenn ich es verlangt hätte.«

Er schwieg lange, und Holten wagte ihn nicht zu unterbrechen.

Mario fuhr fort: »Vielleicht hältst du das alles für Unsinn. Du kannst denken, daß die Angebote meines Vaters, falls ich mich von Susette trennte, doch schließlich auf mich eingewirkt haben. Aber ich glaube, Wolf, ich hoffe jedenfalls, daß das nicht der Fall war. Ich will dir auch gestehen, daß ich wohl fühlte, daß Susette nicht mehr lange bei mir bleiben würde. Ich fühlte das ganz genau. Noch liebte sie mich; aber sie wollte zur Bühne zurück und eine große Karriere machen. Aber das war es auch nicht, was mich dazu trieb. Auch die Eifersucht auf den Prinzen Georg nicht. Nichts, nichts trieb mich als dieser unwiderstehliche Drang, sie zu vernichten.«

Wie klar sah Mario Susettes Wesen! mußte Holten denken. Ihm fielen alle die harten Worte ein, die Gitta über ihre Schwester gesprochen hatte: »Sie hat Mario genommen, weil er ein Glasberg ist. Diese Liebesgeschichte war eine unerhörte Reklame für sie!« Das waren Gittas Worte gewesen. War es nun nicht um so tragischer, daß sie gerade an diesem Manne zerschellt war, mit dem ihre Laufbahn so glänzend begonnen hatte und den zu verraten sie vielleicht schon im Begriff stand? Hatte nicht aus Marios Vernichtungsdrang auch schon ein Wille zur Rache gesprochen? Aber er wagte Marios Erzählung nicht zu unterbrechen.

»Als es dann geschehen war,« fuhr Mario fort, »habe ich Käte Lenninghaus geheiratet. Nicht meiner Familie wegen, sondern weil ich fühlte, daß diese Frau mir gänzlich ungefährlich war. Eigentlich entblößte ich mich durch diese Heirat. Ich dachte, daß ihr nun merken würdet, was Susette in den Tod getrieben hatte. Die Heirat mit meiner zweiten Frau war Angst vor meiner todbringenden Liebe, war Flucht vor der Schönheit. Aber ihr habt nichts gemerkt. Weil ihr schlechte Psychologen seid!«

»Und Maria Fenn?«

»Es war das gleiche wie bei Susette. Ich konnte der Schönheit doch nicht entfliehen. Ja, Wolf, ich habe auch diese Frau geliebt, und ich habe es monatelang gefühlt, daß meine Liebe auch ihr den Tod bringen würde.«

»So ist Maria Fenn »der Schatten der Susette«,« sagte Holten in Gedanken und erinnerte sich jenes Gesprächs, da Gitta sich als den »Schatten der Susette« bezeichnet hatte. Nein, Gitta war es nicht! Sie war etwas ganz Neues, Unmittelbares, stand in niemandes Schatten. Maria Fenn mit dem dunklen Haarknoten im Nacken war der toten Lichtgestalt Susettes als Schatten gefolgt. Nicht Gitta, seine Gitta!

»Wieso ›Schatten der Susette‹?« fragte Glasberg, verstand aber den Zusammenhang im nächsten Augenblick. »Ach so, ja, natürlich!«

»Aber wie ist es möglich, daß du während der Tat hier in Königsberg warst? Du bist hier im Hotel genau zur Zeit der Mordtat gesehen worden! Wie ist das möglich?«

Mario sah Holten mit einem fast flehenden Blick an. »Verstehst du nicht,« sagte er dann langsam und eindringlich, »weshalb ich dir alles gesagt habe? Wolf, es ist furchtbar, so zu leben, wie ich leben muß! Wolf, es ist furchtbar!« wiederholte er mit erhöhter Stimme. »Du sollst mich überführen, sollst mich dem Henker ausliefern, sollst diese Bestie in mir totschlagen lassen! Wolf, laß mich doch totschlagen! Ich verlange ja nichts sehnlicher!«

Wolf konnte nicht anders, als leise seine Hand berühren. Dann gab er sich einen Ruck. »Wie konntest du hier sein und draußen morden?« fragte er.

Glasberg neigte den Kopf hernieder. »Das ist es!« sagte er. »Das ist es! Ich wage es euch nicht zu sagen. Mein Lebenswille, mein Selbsterhaltungstrieb springt dagegen an. Wenn ich dir das sage, habe ich mich in deine Hand gegeben. Ich kann, kann, kann es nicht sagen. Es will mir nicht über die Lippen. Wolf, hilf mir doch! Wolf, überführe mich! Ich will dir unter dem Beil des Henkers danken! Aber ich kann es dir nicht sagen! Ich kann nicht!«

Er schloß die Augen und zog seine Hand von Holten zurück. Saß da wie ein blasierter Herr, dem das primitive Tanzlokal wenig Freude machte.

Wolf van Holten wußte nur, daß sein Kopf ihn schmerzte, als ob er auseinanderfallen wollte. Gedanken, Entschlüsse durchfuhren ihn krampfhaft, hoben sich auf, bäumten sich hoch, stürzten zusammen. Er bemerkte, daß Glasberg ihn nicht anzusehen wagte. Er betrachtete Glasbergs weiße Hand, die müde und ergeben auf der Lehne des Korbsessels lag.

Das Getöse des Lokals schloß sie beide wie in einer isolierten Zelle ein. Der Mann an der Jazzband tobte wie ein Affe. Konfettischlangen zischten durch die Luft, ein durchdringender Geruch von erhitzten Körpern schlug sich auf die Nerven. Das alles wurde Holten wie durch eine gläserne Wand gewahr. Eigentlich – er stellte es mit Verwunderung fest – hatte er nur den einen Wunsch: schlafenzugehen. Weshalb saß er hier so lange mit Mario in dem blöden Lokal? Er hatte in der letzten Nacht kaum geruht. Komm, wir wollen gehen! hätte er am liebsten gesagt und dem Kellner zum Zahlen gewinkt.

Auf einmal sah er den Geschäftsführer im Gehrock durch den Saal gehen. »Geschäftsführer!« rief er. »Holen Sie die Polizei! Hier ist der Mörder von St. Lüne!«

Hatte er das wirklich gerufen? Der Mann im Gehrock drehte sich herum. »Polizei! Polizei! Dies ist der Mörder!« Kam seine Stimme gegen den Lärm nicht auf? Nur an den nächsten Tischen sah man gespannt herüber. Einige lachten.

»Bitte, meine Herren!« sagte der Geschäftsführer. »Erregen Sie kein Aufsehen!«

»Entschuldigen Sie!« sagte Mario Glasberg mit vollkommener Ruhe. Auf einmal hatte er wieder sein fröhlich-offenes Knabengesicht. »Wir haben zuviel getrunken. Ober, zahlen!«

In wenigen Minuten standen sie draußen. Mario steckte sich eine Zigarette an. »Du bist ein Dilettant, lieber Wolf,« sagte er heiter. »Verzeihe den psychologischen Exkurs! Wenn man hier im Hotel ist, kann man natürlich nicht draußen in Klein-Klank eine schöne Frau ermorden. Und mit dem anderen ist es ähnlich. Aber so ungefähr könnte man sich die Sache vorstellen, wenn man Phantasie hat. Nicht wahr?«

Damit kehrte er sich schroff um und ging mit langen Schritten davon.

Holten sah ihm nach. Was ist das für ein Mensch! dachte er.


 << zurück weiter >>