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8

An diese ganze Entwicklung mußte Holten denken, als er gegen drei Uhr nachts die Depesche aus Leynhausen in der Hand hielt. So müde er war, straffte sich sein Körper sofort. Er wußte, daß irgend etwas Einschneidendes geschehen war. Sein Vater, pensionierter Oberregierungsrat des ehemaligen Herzogtums, wohnte noch immer in Leynhausen, und es hätte möglich sein können, daß das Telegramm den alten Herrn betraf.

Aber Holten roch es gewissermaßen, daß es mit Glasberg zusammenhing. Schon daß Mario ihn heute aufgesucht hatte, war für ihn fast ein Beweis. Im tiefsten Lebensgrunde hängen alle Dinge und alle Geschehnisse und alle Menschen zusammen. Weshalb mußte Mario ihn heute plötzlich anrufen? Weil sich ihm von fern eine Unruhe mitgeteilt hatte! Sicher hatte er geglaubt, einem Einfall zu gehorchen, aber dieser Einfall konnte nur kommen, weil ein fernes Ereignis ihn aufgestört hatte.

In diesem Augenblick ertappte sich Holten bei dem Wunsch, daß die Depesche von Gitta sein möchte, von Brigitte Streicher, Susettes jüngerer Schwester. Eigentlich durfte sie von niemand anderem sein, nachdem sich Gitta in den Dienst des Rachewerkes gestellt hatte. Seit einem Jahr führte sie in dieser Angelegenheit die Korrespondenz mit Holten, hatte ihn sogar einige Male aufgesucht, um sich mit ihm zu beraten und von allen seinen Schritten Kenntnis zu nehmen.

Ja, im Grunde war sie es gewesen, die Wolf van Holten für die Familie Streicher gewonnen hatte.

Gitta hatte äußerlich eine gewisse Ähnlichkeit mit ihrer Schwester, aber innerlich erschien sie, wenigstens Holten, ganz anders. Sie war von einem befremdenden Ernst für ihre Jahre, und wenn Susette das Leben wie einen köstlichen Maskenball angesehen hatte, so kannte Gitta nur Aufgaben und Pflichten, die sie mit einem kindlichen Enthusiasmus übernahm. Nicht das Pflichtbewußtsein, sondern dieser Enthusiasmus war das Schöne an ihr. Holten fand in dem Mädchen, was er bei Susette vermißte, vielleicht manchmal vergeblich bei ihr gesucht hatte.

Es bedeutete für ihn ein Glück, in Gitta einen Bundesgenossen zu haben, der an allem, was er tat, nicht nur den regsten Anteil nahm, sondern sogar als treibende Kraft hinter im stand. Gittas Bundesgenossenschaft war ihm wie ein Geschenk des Himmels. Er kostete es als ein tiefes Glück aus, mit diesem schönen, ernsten Mädchen durch die gemeinsame Aufgabe im Innersten verbunden zu sein.

Unvergeßlich stand ihm der Tag vor Augen, an dem ihn Gitta vor einem Jahr überraschend in einer Konditorei am Kurfürstendamm angesprochen hatte. Er pflegte dort im Sommer eine Nachmittagsstunde lang auf der Terrasse zu sitzen, um sich an dem vorübergleitenden Straßenleben zu zerstreuen. Schon mehrmals waren ihm drei Damen aufgefallen, die fast täglich an einem benachbarten Tisch Platz nahmen.

Manchmal glaubte er sich schmeicheln zu dürfen, daß er ihre Aufmerksamkeit in einem besonderen Grade erregt habe. Es waren zwei Frauen in der Mitte der Zwanziger und dieses junge Mädchen von etwa neunzehn Jahren. Er glaubte sogar zu bemerken, daß das Mädchen einigemal auffällig an seinem Tisch vorüberging. Er sah sie an und war von irgendeiner Ähnlichkeit betroffen, die er jedoch nicht unterbringen konnte. Susette Streicher war goldblond gewesen und hatte strahlende Augen gehabt, während bei ihrer Schwester alles ins Dunkle gewendet war.

An einem heißen Augustnachmittag, als Holten vor seinem Eiskaffee saß und das Wunder der saftigen grünen Blätter in dieser Welt von Hitze und Staub bestaunte, stand überraschend – er hatte gerade an diesem Tage noch mit keiner Silbe an die drei Frauen gedacht – das junge Mädchen an seinem Tisch und redete ihn mit seinem Namen an. Fast erschrocken sprang er auf und fragte sie nach ihrem Begehr. Sie gab sich zu erkennen. Allerdings hatte sie für Berlin den Namen Gitta Alsen angenommen, während er sich darauf besann, von Susettes jüngerer Schwester Brigitte gehört zu haben.

Als Gitta Alsen debütierte sie an einem kleinen Berliner Theater und gebrauchte als Schauspielerin diesen angenommenen Namen. Weshalb tut die Tochter der alten Schauspielerfamilie das? fragte Holten sich. Ist nicht der Name Streicher für eine junge Künstlerin die beste Reklame?

Aber sie wollte die Sensation dieses Namens vermeiden. Und noch aus einem andern Grunde, der Holten erst später klar wurde: Sie wollte sich in Glasbergs Bekanntenkreis bewegen können, ohne als Susannes Schwester erkannt zu werden. Gitta Alsen verkehrte bei dem Grafen Gahlen und dem Kommerzienrat Sussex und in anderen Familien, bei denen Glasberg zu Gast war. Sie war auf Gesellschaften an ihm vorbeigestrichen, ohne von ihm bemerkt zu werden. Sie hatte sich mit guten Freunden von ihm über ihn unterhalten, ohne daß jemand die nahe Beziehung geahnt hatte, und sie war glücklich gewesen, daß selbst Holten sie nicht erkannte, dem sie als Kind in Leynhausen begegnet war.

Bei diesem Zusammentreffen ging Gitta sofort auf ihr Ziel los. Zuerst fragte sie ihn, ob er ein Freund Mario Glasbergs wäre, und als er, der damals noch nichts Näheres von den besonderen Umständen bei Susettes Tod erfahren hatte, bejahte, drang sie sogleich in ihn, beschwor ihn, ihr eine Unterredung zu gewähren, und dies auf der Stelle. Holten wollte sie bestimmen, ihn in seinem Bureau aufzusuchen, aber sie ließ nicht locker, bis er mit ihr und den beiden Damen in ihre nahe Wohnung in der Lietzenburger Straße ging.

»Sie sind Marios Freund!« sagte sie. »Verzeihen Sie, aber ich habe in Ihrem Bureau nicht das Gefühl der Sicherheit vor diesem Menschen. Ich kann ihm dort auf der Treppe begegnen, und das will ich nicht.« Er versicherte ihr, daß Glasberg ihn seit Monaten nicht mehr aufgesucht habe. »Aber kann er nicht jeden Augenblick kommen?« So ließ er sich Gittas Begleiterinnen, bei denen sie wohnte, vorstellen. Es waren eine Frau Werneuchen und ein Fräulein Diepenbroich.

Eine Viertelstunde später saß er in Gittas kleinem Zimmer und hörte von den besonderen Umständen, unter denen das tragische Ende Susettes sich vollzogen hatte. Alles, was er dunkel über Mario Glasberg gefühlt, sprudelte nun heraus. Es war ihm klar, daß er Mario von jetzt ab würde verfolgen müssen. In diesem strahlenden Dasein war ein dunkle, blutige Stelle, die ans Licht gebracht werden mußte.

Er schüttete Gitta sein Herz aus, und je weniger er vor ihr eine mißfällige Äußerung über die vergötterte Susette tun durfte, um so schonungsloser entblößte er die brutale Kälte von Marios Charakter und fühlte sich von Gitta ebenso verstanden, wie er sie verstand. Gitta war noch ein Kind gewesen, als Mario zu der Familie Streicher in Beziehung trat. Halb war sie von seiner Gewandtheit und Sicherheit geblendet, halb sprach bei dem Mädchen der alte Haß der Leynhausener Hofpartei gegen die Trustdynastie der Glasbergs mit. Sie haßte ihn, weil er ihr die Schwester entführte, und liebte ihn, weil er der Geliebte der angebeteten Susette war, und haßte ihn wieder als Theaterkind noch besonders, da er Susette der Bühne fortnahm und sie durch ihn »eine Dame« wurde.

Das alles wogte in dem Mädchen durcheinander und erhielt durch den Verdacht der Mutter endlich die Richtung zum unerbittlichen Haß, und seit sie, gerade erwachsen, in das Geheimnis eingeweiht war, hatte sie sich und ihrer Mutter geschworen, Susette an dem Verbrecher zu rächen. Während sie sich auf die Bühnenlaufbahn vorbereitete und dann die ersten kleinen Rollen spielte, ließ sie keine Gelegenheit ungenutzt, um Freunde und Bekannte Marios zu beobachten und auszuhorchen, und sie hatte schon seit Monaten Holtens Gewohnheiten heraus, ehe sie sich entschloß, sich gerade diesem ältesten und besten Freunde ihres Schwagers zu eröffnen. Zu ihm hatte sie Vertrauen, vielleicht weil er der Sohn eines herzoglichen Regierungsbeamten war. Ihre Eltern ahnten nichts von ihrem merkwürdigen Treiben in Berlin, und erst, als sie sich Holtens sicher wußte, gab sie ihrer Mutter von dem neuen und wichtigen Bundesgenossen Kenntnis.

»Aber weshalb, aus welchem Grunde oder in welcher Absicht hat Glasberg es getan?« fragte Holten das junge Mädchen, und diese Frage sollte sich von nun an immer wieder vor ihnen aufrecken. Hier standen sie beide vor einem Rätsel. Es war sonderbar: Sonst ging seinem mißtrauischen Suchen zuerst die innere Wahrheit einer Tat auf, entwirrte sich zunächst das Gestrüpp der Motive und Beziehungen und leitete von dort zu den Indizien und Beweisen hin.

Hier aber blieb an Motiven und Beziehungen alles im Dunkeln. Sie wußten beide nicht, was Glasberg angetrieben haben konnte. Es gab da nur ein paar rein äußerliche Verdachtsmomente, kaum vor dem eigenen Mißtrauen aufrechtzuerhalten, und dennoch stand ihnen beiden das Verbrechen außer Zweifel.

Selbst bei Holten gab es kaum mehr eine Minute, in der er an der Tat selbst zweifelte, mochten ihm die Motive noch so verdeckt bleiben. Er »wußte«, obwohl er nicht sah. Hundertmal konnte er später dieses »Wissen« vor sich selbst entwirren, auf seinen alten Freundschaftshaß zu Mario zurückführen oder auf das Glück, sich von diesem Mädchen in seinen bestimmten Gefühlen für Glasberg verstanden zu sehen. Unerschütterlich stand Glasbergs Verbrechen für ihn fest, seit ihm Gitta die Umstände jener Nacht und des folgenden Tages geschildert hatte.

Gitta war nach Leynhausen zurückgekehrt. Sie trat in dem alten Hoftheater unter ihrem richtigen Namen Brigitte Streicher auf. Nur für Holten blieb sie Gitta, weil ihm dieser Name ans Herz gewachsen war. Sonst durfte niemand ahnen, daß die jugendliche Sentimentale des Leynhausener Theaters mit jenem jungen Mädchen identisch war, das während des letzten Winters in zahlreichen Kreisen der Berliner Gesellschaft verkehrt hatte.

In Leynhausen hatte sie die Bemühungen ihrer Mutter, die Behörden zur Exhumierung der Leiche zu veranlassen, weiter fortgesetzt. Wolf und Gitta verbissen sich in den Gedanken, daß die Auflösung des Geheimnisses in jenem Grabe ruhte. War es nicht möglich, daß sich etwas ganz Unvorhergesehenes herausstellte? Während Holten in Berlin, ebenso vergeblich, versuchte, sich in den Besitz von Susettes Abschiedsbrief zu setzen, kämpfte Gitta in Leynhausen für die Öffnung des Grabes. Noch einmal unternahm sie alle die vergeblichen Bittgänge, von denen Frau Agathe ohne Erfolg zurückgekehrt war. Das schöne junge Mädchen fand freundlichere Abweisung und herzlichere Vertröstung als ihre Mutter, aber an dem Ergebnis selbst konnte sie nichts ändern.

Nach einiger Zeit erhielt sie sogar den deutlichen Wink, ihre Bemühungen einzustellen. Der Intendant, der immer noch Zuschüsse aus der herzoglichen Schatulle bezog – es war noch derselbe, den einst der Herzog an diese Stelle berufen hatte – redete ihr mit väterlichen Ermahnungen zu, von einem Bestreben abzustehen, das nur den Frieden der Stadt untergraben konnte.

Als Wolf van Holten spät in der Nacht die Depesche in der Hand hielt, wußte er, daß sich irgend etwas Wichtiges in dieser Angelegenheit zugetragen hatte. Vielleicht war die Anordnung der Staatsanwaltschaft endlich ergangen. Aber wie, wenn Gitta den Sarg heimlich und ohne Erlaubnis hatte ausgraben lassen? War Gitta eines solchen Streiches nicht fähig? Konnte sie nicht in aller Stille die Vorbereitungen dazu getroffen haben, absichtlich ohne ihm davon Mitteilung zu machen? Dann würde auch diese Depesche kein Wort davon enthalten, höchstens eine nur ihm verständliche Andeutung.

Er wagte das Blatt nicht zu entfalten. Ihn erregte das Zusammentreffen des heutigen Abends mit diesem Telegramm. Auf einmal fiel ihm ein, daß Glasberg ihn vielleicht nur hatte abhalten wollen, Gittas Telegramm rechtzeitig zu erhalten. Vielleicht wußte Mario bereits von Vorgängen, die ihm, Holten, noch verborgen waren. Vielleicht hatte er ihn in eine Falle gelockt?

Er legte den Mantel ab und trat, immer die Depesche in der Hand, in das Speisezimmer. Drehte alle Lampen an, riß die Tür zu dem danebenliegenden Wohnzimmer auf und machte auch hier Licht, als ob die erleuchtete Zimmerflucht ihm die Furcht benehmen könnte. Dann setzte er sich an den Eßtisch, schälte eine Apfelsine ab, und plötzlich riß er, sich selbst zur Überraschung, die Depesche auf. »Gitta«, las er zunächst die Unterschrift, und schon dieser Name beruhigte ihn ein wenig.

Aber der Inhalt gab keinerlei Anhalt. »Bisher wenig Neues. Würde Sie unendlich gern sprechen. Können Sie morgen Leynhausen kommen?« Das war alles. Aber es konnte sehr viel sein. »Bisher wenig Neues«, das bedeutete, daß in allernächster Zeit etwas geschehen sollte. Gitta hatte etwas vor und wollte vorher seinen Rat einholen.

Aber vielleicht war auch schon etwas geschehen. »Wenig Neues« konnte immerhin bedeuten, daß etwas im Gange war. Er mußte bedenken, daß ihr Telegramm in A. W. Glasbergs Händen sein konnte, ehe er selbst es erhielt. Vielleicht hatte Mario bereits von ihm Kenntnis? A. W. Glasberg war in Leynhausen allmächtig. Gab es vor diesem Mann irgendein Geheimnis?

Holten konnte sich nicht vorstellen, daß es in Leynhausen irgend etwas gab, das A. W. Glasberg nicht durchsetzen konnte, wenn er wollte. Gitta rechnete damit, daß ihre Korrespondenz überwacht wurde. Briefe schickte sie öfters, wenn sie wichtig waren, aus der nächsten kleinen Stadt ab. Sie konnte das Telegramm den Umständen entsprechend abgefaßt haben. Natürlich würde er morgen zu ihr fahren.

Er ging in sein Arbeitszimmer. Auf seinem Schreibtisch lag der Inhalt des Telegramms in Maschinenschrift. Seine Sekretärin hatte es also bereits telephonisch aufgenommen und ihm auf den Arbeitsplatz gelegt. Eine aufmerksame Person! Es war übrigens Elma Diepenbroich, die eine der beiden Damen aus der Lietzenburger Straße, bei denen Gitta im letzten Sommer gewohnt hatte. Er hatte sie auf Gittas Empfehlung hin engagiert und einen guten Griff damit getan. Er hob das Blatt auf, als ob ihm die veränderte Form etwas Neues sagen konnte. Natürlich würde er morgen zu ihr fahren, dachte er noch einmal.

Die Müdigkeit war wie weggeblasen. Er sah den Terminkalender durch. Zwei wichtige Sachen waren morgen vormittag vor dem Gericht zu vertreten. Er konnte bis zwölf Uhr damit fertig sein. Um eins ging der Expreßzug, mit dem er abends gegen acht in Leynhausen eintraf.

Er nahm das Telephon in die Hand und gab das Telegramm an Gitta auf: »Eintreffe abends acht Uhr. Holten.« Und ein anderes gleichen Inhalts für seinen Vater. Natürlich würde er bei dem alten Herrn wohnen. Dann machte er sich an die Durcharbeitung der Akten für den kommenden Vormittag. Nur die beiden wichtigen Sachen, das andere mußte sein Sozius erledigen.


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