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5

Eine Woche später teilte Franz Margis seiner Frau das Vorhandensein der Damen Fenn mit. »Du wirst dich nicht besinnen, daß wir sie im vorigen Jahr in dem Wäldchen getroffen haben. Als sie neulich in mein Hotel kamen, erkannte ich sie gleich wieder. Sie waren übrigens mit einem interessanten Mann zusammen. Erinnerst du dich an Mario Glasberg, den Sohn der Leynhausener Trustfamilie, dessen Frau, die berühmte Susette Streicher, sich vor zwei Jahren plötzlich vergiftete? Dieser Glasberg wohnt hier auf einem Gut und ist viel mit Mutter und Tochter Fenn zusammen. Übrigens scheint er – er ist Chemiker – viel zu arbeiten. Man sieht ihn oft tagelang nicht.« Er schilderte Luisa das Zusammentreffen in der Tanzdiele und seine Besuche in Klein-Klank. »Die beiden Frauen bedeuten mir viel. Obwohl ich seit Jahren kein Porträt mehr gemacht habe, male ich jetzt Maria und will dann Mutter und Tochter noch einmal zusammen malen. Von den Dünen hat es auch einige gute Bilder gegeben, aber die eigentliche Ausbeute dieser Reise werden doch die Porträts sein. Wie sonderbar verläuft die Entwicklung eines Künstlers! Da kam ich hierher, um mich mit Sand und Fichten und Meer auseinanderzusetzen, einer ganz dürftigen und öden Landschaft, und auf einmal male ich hier Porträts, strotzend von Farbe und unmittelbarem Ausdruck Wahrscheinlich bedeutet das für mich einen Wendepunkt in meinem Schaffen. Vielleicht werde ich jetzt ein oder zwei Jahre nur noch Porträts malen. Pekuniär wäre es natürlich sehr günstig, denn eine Landschaft zu verkaufen, wird immer schwerer. Wahrscheinlich komme ich nach Hause, sobald die Porträts fertig sind. Wir gehen dann zusammen noch einige Wochen nach Bayern.«

Er las den Brief mehrere Male durch, bevor er ihn einsteckte. Eigentlich wollte er vor Luisa die Bekanntschaft nicht so wichtig machen, denn sie neigte zur Eifersucht. Aber jedes Wort, das er über die Fenns schrieb, schien ihm von besonderer Schwere, die Luisa herausfühlen mußte. Empfindungswelten schwangen da mit, stundenlange Gespräche, Augenerlebnisse von köstlicher Eindringlichkeit. Er konnte es nicht verhindern.

Vielleicht war er in einen Hörselberg geraten. Die Stunden in Klein-Klank, die Verabredungen auf halbem Wege bestimmten seine Tageseinteilung. Die Staffelei war mit den andern Malsachen nach dem Gutshaus gebracht. Jeden Vormittag trafen sie sich zum Baden am Strand, aber nicht an seiner alten Malstelle. Er mußte fast drei Viertelstunden weitergehen, wo die Steilküste des Samlands jäh zum Meer abfiel.

In einer Schlucht von Haselnußgesträuch, Birken und wilden Rosen trafen sie sich. Die Frauen kamen im Bademantel mit geflochtenen Strandschuhen vom Gut her den kleinen Pfad hinunter, wo er schon wartete. Der Tag konnte ihm nicht früh genug beginnen. Um neun Uhr war er schon dort, klomm die Böschung hinauf, ob er sie nicht von weitem durch den Wald kommen sah. Gerade über ihrer Badestelle lag ein uralter Buchen- und Eichenhain. Das Licht floß grün zwischen den Baumstämmen, vom Boden stieg leichter Modergeruch auf. Abgestorbene Blätter lagen in Jahresschichten übereinander, kleine verschlungene Wege führten hindurch.

Oft ging der Maler bis zum Waldsaum. Dort sah er den Gutshof liegen. Von dort mußten sie kommen, aus dem Park heraustreten, dann die Birkenallee entlang, dann über die Chaussee, zwischen zwei Feldern durch, die mit gelben Ähren wogten, dann über die kleine Wiese. Fast eine Viertelstunde konnte er sie hinter seinem Dickicht beobachten, den ein wenig unbeholfenen Gang der Mutter und Renates straffen, geflügelten Schritt. Wenn sie nahe waren, widerstand er der Versuchung, sie hier oben schon zu begrüßen, eilte zum Strand zurück, legte sich in die Sonne und erwartete sie.

Schlimm war es, wenn das Wetter zweifelhaft war. Er wußte dann nicht, ob sie kommen würden, wartete am Waldrand auf ihr fernes Auftauchen, ging wieder zurück und wieder hinauf. Wenn die Sonne dann endlich durchbrach, war es zu spät. Sie hatten es wohl aufgegeben. Wenn sie mich nur ein wenig gern hätten, dachte er, würden sie dennoch kommen! An solchen Tagen ging er traurig in sein Hotel zurück und las einen Schmöker. Manchmal war er bis auf die Haut durchnäßt.

Er wußte nicht, wo seine Wünsche hingingen. Liebte er eine von ihnen? Nein, er liebte sie beide. Er liebte sie! Das erhöhte Gefühl, das ihn erfüllte, die nie abreißende Unruhe sagten es ihm in jeder Minute. Wie ein Primaner bin ich! gestand er sich ein. Obwohl er sich keine der beiden Frauen allein denken konnte, litt er doch darunter, daß er sie nur zusammen sah. Einer einzigen hätte er näherkommen können.

Dabei konnte er nicht sagen, mit welcher von beiden er allein zu sein wünschte. Er malte Maria. Aber während er ihre volleren Glieder in Farben nachzauberte, zärtlich dem Lichtflaum nachging, der auf ihrem Nacken lag, den matten Glanz der schwarzen Haare einzufangen suchte, dem Fallen des Kleides auf dem weichen Frauenkörper folgte, dachte er immer schon daran, welche andere Farbe er für Renate wählen müßte, welche härteren Bogen, primitiveren Linien, herberen Töne und Striche ihr Kopf und Nacken und Körper erforderten. Unsichtbar malte er neben der aufgeblühten Frau das streng verschlossene Mädchen, neben dem schwarzen Schal über weißem Stoff den weißen Spitzenüberwurf über der roten Seide.

Vielleicht hatte seine Erregung dennoch nichts mit Liebe zu tun, war nur die Erregung des Künstlers vor seinem Stoff. Vielleicht war es ihm nur auferlegt, das Mysterium von Mutter und Tochter zu gestalten, das nicht weniger tief war als jenes andere Mysterium von Mutter und Kind, das die Malerei von Jahrhunderten beherrscht hatte. Vielleicht war »Mutter und Tochter« das Mysterium der neuen Zeit, alle anderen Motive in sich fassend. Wie wenig haben wir Männer uns seit einem halben Jahrhundert verändert! Aber die Frauen veränderten in einem ungeahnten Grade das Antlitz der Welt; ein ganz neues Geschlecht, voll unvermuteter Kräfte. Und nun von diesen neuartigen, noch unbegriffenen Geschöpfen zwei Generationen darzustellen: die ältere, noch befangen Zweifelnde, und die junge, unbefangen sich Ausstrahlende, Mutter und Tochter, – rührte das nicht an den tiefsten Nerv der Zeit? Konnte die Nähe dieses Mysteriums nicht in bebende Erregung versetzen?

Unbeschreiblich im Ausdruck, von einer bezwingenden Einfachheit mußte das Doppelbildnis werden. Zum Greifen deutlich stand es ihm vor Augen. Es mußte ihm vor Augen stehen, denn auch, wenn er Maria malte, saß Renate daneben, lesend und zuschauend. Obwohl er darauf brannte, Maria oder Renate einige Stunden allein zu haben, wäre er unglücklich gewesen, wenn das Mädchen während des Malens nicht dagesessen hätte.

»Sie müssen sich jetzt schon das Kleid anziehen,« sagte er zu ihr, »in dem ich Sie malen werde.« Es hatte ein langes Aussuchen und Herumprobieren gegeben. Achtmal verwandelt kam sie aus ihrem Zimmer, das oben, neben dem Salon, lag. Von Leinen bis Crêpe Georgette wurde alles versucht. Schließlich blieb es doch bei der roten Seide, in der sie ihn zum erstenmal empfangen hatte. »Das wußte ich von vornherein!« rief sie. So saß sie neben der Mutter auf dem breiten Diwan mit dem Eisbärfell, beobachtete oder las in einem Buch.

Fast jeden Nachmittag um die Teestunde war Margis bei den Frauen. Wenn das Licht nachließ, die Sonne hinten auf den Waldspitzen tanzte, ehe sie verschwand, legte er den Pinsel fort, packte die Sachen zusammen und verabschiedete sich. Jeden Tag war es so, daß er eine Aufforderung erwartete, den Abend in Klein-Klank zu verbringen.

Nie kam diese Aufforderung. So schritt er denn, ein wenig mißmutig, langsam auf St. Lüne zu und nahm im Hotel sein Abendessen ein. Schließlich wollten die Frauen doch einige Stunden allein sein. Oder sie empfingen Dr. Glasberg. Vielleicht verlebte Glasberg alle seine Abende in Klein-Klank. Margis wurde nicht müde, sich das Zusammensein der drei auszumalen. Mario Glasberg war sicher ein vorzüglicher Gesellschafter. Er brachte wohl in seinem Auto Delikatessen und Champagner mit. Dann tafelten sie in großer Toilette. Nachher wurde das Grammophon in Bewegung gesetzt, sie tanzten, saßen auf dem breiten Diwan beisammen, löschten die Lichter bis auf einige Kerzen aus. Ganz genau stellte er sich das vor. Es war ja so natürlich, daß sie die Abende auf diese Weise verbrachten. Das Eigentliche, das Stimmungsvolle, Intime vollzog sich ohne ihn, den schwerfälligen Maler. Er durfte malen – mehr war ihm nicht vergönnt.

Nach einigen Tagen erhielt er von Luisa einen Brief. Er brach ihn in einiger Beklommenheit auf. Luisa aber freute sich, daß er in St. Lüne Bekanntschaften gemacht hatte und daß er porträtierte. Sie erzählte von sich und den Kindern. »Und weißt Du, neulich rief Herr van Holten unvermutet an. Ich verstand zuerst gar nicht den Namen, so erstaunt war ich. Er erkundigte sich, wo Du wärest und wann Du zurückkämest. Ein Bekannter von ihm wolle eine Landschaft von Dir kaufen. Nun, Du kannst ja nach Deiner Rückkehr mit ihm telephonieren.«

Margis war durch das Auftauchen dieses Namens betroffen. Weshalb hatte Holten seine Frau angerufen? War die Sache mit dem Bild ein Vorwand gewesen oder war er bereits durch die Bekanntschaft mit Glasberg in ein Geheimnis verwoben? Jedenfalls durfte er dem Chemiker nichts davon erzählen. Aber weshalb nicht? Konnte er durch Verschweigen oder durch Erzählen etwas verderben?

Da aber Schweigen besser als Reden ist, beschloß er zu schweigen. Eigentlich brauchte er sich in dieser Hinsicht nichts vorzunehmen, denn er hatte Glasberg seit Tagen nicht mehr zu Gesicht bekommen. Vielleicht war er gar nicht mehr in dieser Gegend, und alle seine Gedanken über ihn und die Damen Fenn waren Einbildung. Beim Baden fragte er Maria nach ihm. Aber Mario Glasberg war noch in Serbenitz. »Gestern ist er bei uns zu Mittag gewesen. Wir sprachen viel über Siel«

Margis traute diesem Mittagessen nicht. Die Vorstellung von allabendlichen Zusammenkünften der drei ließ ihm keine Ruhe. Eines Abends, als er das Gutshaus von Klein-Klank verließ, schlug er nicht den Fußweg durch den Wald ein, sondern ging durch die Birkenallee zur Chaussee, legte sich dort in das Dickicht und beschloß, auf Glasberg zu warten. Über eine Stunde ließ er sich von den Mücken zerstechen.

Hier kann ich noch lange liegen, dachte er schließlich. Vielleicht hatten die drei ihre Zusammenkünfte erst um neun oder um zehn Uhr. Und vielleicht war es überhaupt ganz anders: Vielleicht hatte Glasberg Maria Fenn längst erobert und schlich sich erst spät in der Nacht zu ihr. Marias Schlafzimmer lag im Erdgeschoß des Hauses, eine Treppe tiefer und im anderen Flügel als Renates Zimmer.

Auf einmal kam ihm der Gedanke, Glasberg in Serbenitz aufzusuchen. Er konnte den Besuch sogar damit begründen, daß er ihm eine Gegenvisite schuldete. Er kroch aus dem Unterholz hervor, säuberte sich und schlug entschlossen den Weg nach rechts ein. Jeden Augenblick, dachte er, würde Glasberg hinter einer Biegung hervorkommen. Er ging wohl zwanzig Minuten die Chaussee entlang, ohne daß eine Menschenseele ihm entgegengekommen wäre. Zur Linken glühte das Abendrot durch die Baumstämme, rechts lagen die Gründe schon im Dunkel. Ein leiser Westwind rauschte in den Zweigen.

An einer Biegung der Chaussee lag ein Gasthaus. Bis hierher war er schon oft gegangen. Jetzt bog der Weg ins Tal; unter einer Brücke gluckste ein halbausgetrockneter Bach. Merkwürdig kühl schlug sich die Luft um ihn. Der Boden war feucht, riesige Linden wölbten sich zum dichten Blätterdach. Auch am Tage drang hier kein Sonnenstrahl hindurch.

Margis schritt eilig vorwärts. Da hörte er das Knirschen von Autorädern in der Ferne. Um die jenseitige Ecke funkelten zwei Scheinwerfer ihm entgegen, prallten gegen den Wald, schlugen über ihn hinweg. Ein Wagen kam angerast. Das Licht fiel blendend gegen seine Augen. War das Glasbergs Auto? Er konnte es nicht erkennen. Ein Mann saß am Steuer. Er suchte nach der Nummer, aber ehe seine lichtgetroffenen Augen sehen konnten, war es um die Ecke verschwunden. Hatte es noch einen Zweck, weiterzugehen? Aber wenn er nun Glasberg zu Hause antraf?

Kurz entschlossen ging er vorwärts. Er wollte aus den Zweifeln heraus. Als er aus dem Waldgrund hervorkam, bemerkte er, daß es noch gar nicht dunkel war. Er konnte links das Meer sehen, über dem noch immer der rosarote Schein der untergegangenen Sonne lag. Vor ihm breiteten sich eingezäunte Wiesen und Roßgärten. In einiger Entfernung lag ein großer Gutshof. Das mußte Serbenitz sein. Ein Fahrweg bog von der Chaussee ab. In wenigen Minuten stand er vor dem verschlossenen Gitter des Wirtschaftshofes. Ein Hund gebärdete sich im Innern wie wahnsinnig, riß an seiner Kette, tanzte auf den Hinterfüßen. Kein Mensch war zu sehen. Im Hintergrund lag dunkel hinter Kastanien das Herrenhaus.

»Hallo!« rief Margis. Der Hund heulte, ein Mann kam angeschlurft. Margis fragte nach Herrn Doktor Glasberg.

»Der Chauffeur ist im Stall,« sagte der Mann und ging zurück. Nach einer Weile kam der Chauffeur an das Gitter. Herr Doktor Glasberg wäre im Schloß, aber er arbeitete und hätte sich jede Störung verbeten.

»Herr Doktor wird mich sicher empfangen,« sagte Margis und nannte seinen Namen.

»Sicher,« sagte der Chauffeur und behielt sein undurchdringliches Gesicht. »Aber ich darf Sie leider nicht melden. Der Herr Doktor macht Experimente.«

Margis drehte sich um und ging ohne Gruß fort. War Glasberg nun zu Hause oder nicht? Vielleicht steuerte er bei seiner abendlichen Tour nach Klein-Klank den Wagen selbst? Er dachte an das vorbeifahrende Auto. War das Glasberg gewesen? Vielleicht saß er aber wirklich in seinem Laboratorium und »machte Experimente«?

Der Chauffeur war jedenfalls gut geschult und überdies ein unverschämter Bursche. Was nun? Sollte man nach Hause gehen, noch etwas essen und sich über die Tanzmusik ärgern? Nach Hause gehen und morgen abfahren! dachte er. Schon einmal war ihm dieser Gedanke gekommen: als er das erstemal nach Klein-Klank eingeladen war.

Jetzt tauchte es zum zweitenmal wie eine Warnung in ihm auf. Packen und nach Hause fahren! Aber die Porträts? Die Bilder mußte er erst zu Ende malen. Aber er konnte sich ganz auf diese Arbeit beschränken. Vormittags baden, gut! Kamen die Frauen, so kamen sie. Wenn nicht, so blieben sie fort! Dann nachmittags die Sitzung, und abends konnte er wieder wie früher in der Hoteldiele hocken, seinen Mosel trinken und um Mitternacht schlafengehen. Das war ein gutes Programm.

Als er durch den dunklen Grund gekommen war, stand dieser Entschluß fest. Wie lange Zeit brauchte er noch für die Bilder? Acht Tage vielleicht. Mit Maria konnte er morgen fertig werden, dann noch eine knappe Woche für das Doppelporträt, ein Tag Nichtstun und Packen, vielleicht noch ein Abend in Königsberg, dann aber mußte er nach Berlin. Es war die höchste Zeit. Luisa mußte auch einmal von den Kindern fort und ein wenig nach Bayern, um Ruhe zu haben. Er atmete erleichtert auf und ging schnell weiter. Außerdem hatte er Hunger. Es war inzwischen zehn Uhr geworden.

Hier kam die Birkenallee nach Klein-Klank. Ob er die Spuren eines Autos entdecken konnte? Er hielt die Augen dicht über dem Boden. Es waren verschiedene Wagenspuren da, aber sie konnten alt sein. Seit drei Tagen hatte es nicht geregnet. Doch vielleicht fand er irgendwo das Auto? Er ging, sich am Rande des Weges haltend, weiter. Was sollte er sagen, wenn er jetzt jemand traf? »Nun, ich komme einmal auf einem Abendspaziergang vorbei, sehr einfach!« beruhigte er sich.

Aber er drückte sich doch im Schatten der Birken von Baum zu Baum vorwärts. Am besten ging er jetzt im Park weiter. Er kletterte durch den kleinen Graben, bog die Drähte des Zaunes herunter und klemmte sich durch. Seine Füße wateten in weichem Laub, das leise raschelte. Hin und wieder knackte ein Zweig. Jetzt war er auf dem Weg. Zwischen den dichten Hecken konnte man bis ans Gutshaus gelangen. Ob hier nachts ein Hund war? Die Frauen schienen Hunde nicht zu mögen. Er hatte bisher keinen in Klein-Klank entdeckt. Auf dem Wirtschaftshof würde natürlich einer sein, aber der war vorn durch das Parkgitter vom Herrenhaus getrennt.

Margis schlich sich langsam weiter. Von der Seite fiel der Mond ein. Die Rasenflächen hinter den Hecken schimmerten silbrig. Jetzt hob sich die dunkle Fassade des Hauses gegen den Himmel. Wenn er einige Minuten wartete, mußte der Mond voll darauf liegen. Er hielt an, brach durch das Dickicht bis zum Rand des Rosenrondells vor. Der Blättervorhang schützte ihn; nur seine Blicke konnten, wenn er einen Zweig vorsichtig in die Höhe hob, hindurchdringen.

Schweigend und dunkel lag das Haus. Die unteren Fenster waren durch Läden abgeschlossen. Man konnte nicht wissen, was sich hinter ihnen abspielte. Aber die oberen Fenster lagen frei, und einige schienen offen zu stehen. Er wartete auf den Mond. Langsam hellte sich jetzt die Fläche auf, dunkle Flecke huschten nach links, und dann lag die Wand in weißem Licht. Eine unendliche Sehnsucht ergriff ihn. Klein-Klank! Ein unbeschreiblicher, nicht auszukostender Zauber lag für ihn in diesem Namen.

Die drei großen Fenster des Salons waren geöffnet. Er sah deutlich die weißen Stores, wie sie sich langsam im Winde hin und her bewegten. Noch ein viertes Fenster daneben stand offen: Renates Zimmer. Als der Mond jetzt höher stieg, sah er sie selbst auf der Fensterbank kauern. Im Nachthemd, mit emporgezogenen Knien, saß sie da und sah in den Park. Der Mond schien ihr voll ins Gesicht. Jeden einzelnen Zug, durch dunkle Schatten markiert, glaubte er zu erkennen.

Es trieb ihn, näherzuschleichen, um sie noch deutlicher zu sehen! Aber zwischen ihm und ihr breiteten sich die mondbeschienenen Plätze. Nur auf der anderen Seite des Parks konnte er näherkommen. Hier standen alte Fliederbüsche dicht unter ihrem Fenster. Aber um dorthin zu gelangen, mußte er noch einmal tief in den Park zurück. Nachher hatte sie sich vielleicht schon zurückgezogen, und er verlor Minuten ihres Anblicks.

Dennoch ging er langsam zu dem Gang zwischen den Hecken zurück, einige hundert Meter immer im Schatten. Nutzte die Deckung der Pergola, um hinüberzuschlüpfen, gewann den Heckengang auf der anderen Seite des Parks und ging vorsichtig nach vorn. Bis zu den Fliederbüschen mußte er zehn Meter über einen freien Platz gehen. Er rechnete sich aus, wie er es machen konnte, daß auch sein Schatten durch die Fliederbüsche verborgen blieb.

Schließlich legte er sich auf die Erde und kroch vor, zwängte sich langsam und vorsichtig in das Gebüsch, bog einen Zweig zur Seite, und nun sah er, selbst im Dunkel, Renate vor sich, ganz deutlich, jede Falte ihres Hemdes, die Biegung ihrer Füße, die über den Beinen verschlungenen Hände. Nur das Gesicht nicht. Sie hatte es vornübergebeugt. Das kurze blonde Haar fiel wie ein Vorhang darüber. So kauerte sie unbeweglich.

Er wunderte sich nicht einmal. Irgend etwas Seltsames mußte sie tun; weder lernen und ein Examen machen, noch ein Instrument spielen oder in der Wirtschaft tätig sein; aber hier die Nacht über im Fenster sitzen, stundenlang, unbeweglich, dem Rauschen der Bäume hingegeben, den leisen Verschiebungen des Lichts, dem Zug der Wolken – das war Renate Fenn! Eine halbe Stunde stand er da und sah sie an, kämpfend mit der Versuchung, sie anzurufen. Dann schlich er vorsichtig zurück, durchwandelte, immer ihr Bild vor Augen, den Heckengang und fand hinten im Park auf verwachsenen Wegen den Ausgang zur Birkenallee.

Als er in das Hotel kam, packten die Musiker gerade ihre Instrumente zusammen. Der Wirt stand hinter dem Büfett und rechnete mit den Kellnern ab. »War es schön in Klein-Klank?« fragte er dienernd und hatte wieder sein Lächeln um den Mund. Margis ging ohne Antwort in sein Zimmer hinauf.


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