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4

Während Margis auf Klein-Klank mit den Damen Fenn Tee trank, raste Mario Glasberg auf seinem Auto nach Königsberg. In einer Stunde hatte er eine besondere Gelegenheit, nach Berlin zu fliegen, außerhalb des regelmäßigen Passagierdienstes. Gegen neun Uhr abends konnte er mit der leichten Taube, die nur zwei Personen faßte, bereits dort sein.

Der Wagen sauste über die Samlandhügel; ferner drehte sich der Horizont mit Wäldern, die wie Geschwader von Lanzenreitern vorüberhuschten. Dörfer tanzten vorbei, kleine Brücken donnerten, gepreßte Luft zischte gegen die Siedlungshäuser von Tannenwalde, das schlechte Vorstadtpflaster rüttelte an den Achsen, bis man auf den Asphalt wie in eine besänftigende Flüssigkeit hineinglitt. Vorbei an den kleinen Bahnhöfen, durch Hinterstraßen, zwischen langen, dunklen Kasernen und alten Festungsmauern. Dann wieder Chaussee bis zum Flugplatz.

Die Taube war startbereit. Der ehemalige Fliegerhauptmann, der sie lenken sollte, grüßte fast militärisch.

»Wie lange?« fragte Glasberg.

»Bis Tempelhof? Knappe drei Stunden bei dem Wetter!« antwortete der und fuhr mit der Hand an die Kappe. Dieser junge Mann, den er so plötzlich nach Berlin befördern sollte, mußte etwas Besonderes sein.

Sie stiegen auf, drehten sich hoch. Hinter den Türmen der Stadt sah man die bleigraue Fläche des Haffs mit ihrem Waldkranz und den leuchtenden Dünen aufsteigen, dahinter das Meer, dem sie zustrebten. Die Sonne brannte von schräg unten zu ihnen herauf. Die Stadt rutschte hinter den Horizont, die ganze Landschaft unter ihnen glitt wie auf einem Rollband nach hinten.

Wie auf einer Landkarte lag blau unter ihnen die Danziger Bucht mit den Wäldern von Oliva; Kirchtürme spießten ohnmächtig nach oben. Wie eine Nebelbank lag die Landzunge von Hela, dahinter, lächerlich klein und wie ein Spielzeug, der polnische Kriegshafen von Gdingen mit zwei rauchenden Torpedobooten. Dann stachen sie wieder ins Land, über die abgezirkelten Beete der Felder. Wie feine weiße Striche eines Tennisplatzes liefen die Eisenbahndämme. Orte lagen wie auf der Reliefkarte, Flüsse beschrieben sinnlose Bogen. Manchmal sackten sie wie auf einem Fahrstuhl Hunderte von Metern hinunter.

Dann blähte sich das Land ihnen verzerrt entgegen, und die Sonne fiel stolpernd bis zum Horizont. Silbriger Nebel kam angekrochen, die Bäume und Dörfer wateten mit schweren Schritten darin. Aus dem Weltraum griff es kühl mit unheimlichen Schatten nach ihnen. Von ferne ballte sich ein Dunstgebilde mit grellen Lichtern, die sich auf Nebelkissen wälzten. Schornsteine, Türme zackten daraus. Schwarze Striche liefen von allen Seiten zusammen, Seen lagen wie ein übergelaufener Fluß in Talmulden. Erleuchtete Züge, Autos krochen als bebrillte Schlangen am Boden.

Dann schwebten sie über dem Dächermeer, über ängstlich zusammengerückten Plätzen. Hinten blinkten die Lichter der Funktürme vom Tempelhofer Flughafen auf. Sie drehten sich nieder. Dann noch der beklemmende Augenblick der Landung, das Federn auf dem Rasen, das lange Dahinrollen, und sie stiegen aus.

Die Terrassen des Restaurants träumten leer in ihrem weißen Licht. »Nun,« fragte der Hauptmann, »sind Sie zufrieden, Herr?«

»Ausgezeichnet! Ich danke Ihnen.« Er nahm die Aktentasche, sein einziges Gepäck, an sich, enteilte in das Restaurant, ließ sich eine Bouillon geben. Noch ehe sie kam, telephonierte er van Holten an, zuerst in der Privatwohnung, dann, da der Rechtsanwalt noch nicht zu Hause war, im Büro.

»Hallo, Holten, alter Junge! Wie geht's? – Wo ich bin? In der Regina-Bar. Denke zufällig an dich. – Von der Reise zurück? Ja, aus Dalmatien bin ich seit zwei Tagen zurück. Übermorgen aber geht's nach Norwegen. Sehen wir uns heute? – Morgen habe ich zu packen. Wenn, dann heute! – Gut, um elf in der Königin-Bar! – Meiner Frau? Der geht's gut – danke. Also um elf!« Er hängte ab. Es war gerade neun durch. Er hatte noch Zeit.

Als er an seinen Platz zurückkam, stand die Bouillon schon da. Er sah sich um, ob zufällig ein Bekannter ihn sehen konnte. Aber nur eine einzige Gesellschaft saß mindestens zehn Tische weiter. Er kannte niemand. Befriedigt lehnte er sich in den Stuhl zurück. Er war müde und hungrig. Vielleicht sollte er hier etwas essen und eine Flasche Sekt trinken. Es würde gut für das Zusammentreffen mit Holten sein.

Ja, er konnte es nicht leugnen, der Gedanke an Holten regte ihn auf. Weshalb suchte er nur immer und immer wieder diesen Menschen? Niemals mehr kam er in Gesellschaft mit ihm zusammen, aber unter vier Augen trafen sie sich von Zeit zu Zeit noch immer. Es gab tausend Gründe der Klugheit dafür: Weshalb dreht man den Kopf immer nach der Richtung, aus der Gefahr droht?

Aber das war es nicht. Er würde von van Holten nie herausbekommen, wie weit der mit seinen Nachforschungen war, und auch diesmal würden sie kein Wort darüber sprechen. Sie würden Zusammensein, als wenn nichts zwischen ihnen vorgefallen wäre, würden Sekt trinken und bald zwei Mädchen an ihrem Tisch haben. Nein, es war kein Grund der Klugheit, daß er mit Holten immer wieder zusammentraf. Es stieg aus tieferen Schichten: Holten war sein Freund gewesen, als er Susette kennengelernt hatte. Der ganze Zauber jenes Jahres der ersten Werbung stieg vor ihm auf, wenn er mit ihm zusammen war. Sie konnten über die gleichgültigsten Dinge reden, im Grunde war es doch wie damals auf dem nächtlichen Parkspaziergang, als er dem Freund von seiner Liebe zu der jungen Schauspielerin sprach, von seinen ersten Annäherungsversuchen bis zum ersten Kuß.

Dann das Durcheinander der Familien: sein entrüsteter Vater, der ihn, seinen Liebling, für eine Kohlen- und Eisenerzheirat ausersehen hatte. Dann der ganze alte Streit zwischen der Kohlendynastie der Glasbergs und dem kleinen Herzogshof. Der Streit, der sich nun auf sie beide stürzte und sie zermalmen wollte. Denn die Streichers, als alte Hofschauspielerfamilie, gehörten natürlich zur Hofpartei. Die ganze Gnade des herzoglichen Paares bestrahlte sie. Wie hatte der alte Heldenvater Streicher gedonnert und Frau Agathe alle Register ihres Mütterfaches gezogen! Und hinter dem allen Prinz Georg mit seinem Anhang!

Wie sie sich über dies alles amüsiert und darunter gelitten hatten! Mit welcher Kunst sie ihre Stelldicheins verabreden mußten, da sie rings von Spähern umgeben waren. Prinz Georg befahl Susette zum Tennisspielen. Sie mußte hingehen. Der Prinz begleitete sie bis nach Hause. Hinten im Park, im alten Gartenhäuschen, wohnte Frau von Gladen, des alten Herzogs emeritierte Freundin, des Prinzen Georg mütterliche Vertraute.

Zu ihr schleppte er die widerstrebende Susette, und es war ihr Glück, daß sie hinging. Denn in wenigen Wochen war die prächtige alte Dame Susettes Vertraute und übte zum erstenmal in ihrem Leben Verrat an dem herzoglichen Hause. Wie voller Romantik und Schrecken war es gewesen, wenn sie sich in der Rosenlaube des Gartenhäuschens trafen, während die Späher sie in den Anlagen des Wallgrabens suchten! Und dann stand er, Mario Glasberg, hinter dem Kattunvorhang, indes der Adjutant des Prinzen beordert wurde, die Demoiselle Streicher nach Hause zu geleiten und vor den Nachstellungen des jungen Monsieur Glasberg zu schützen. Einen ganzen Trust und ein ganzes Herzogtum hatten sie mit ihrer Liebe durcheinandergewirbelt. Bis sie endlich nach England fliehen konnten und sich trauen ließen.

Das alles erlebte er nochmals und nochmals, wenn er mit Holten zusammensaß. Damals hatte er noch nichts von dem furchtbaren Verhängnis gewußt, das über ihm waltete.

Er trank das letzte Glas Champagner aus, zahlte und ging zum Autoplatz. Der Flug hatte ihn ermüdet, jetzt waren alle Gelenke wieder straff und federten. Sein Knabengesicht lugte neugierig in die Welt. Er würde mit Holten zusammensitzen wie immer. Er war wieder der junge Doktor der Chemie, der um die Rosenlaube der Gladen schlich, um die rote Schleife von Susettes Kleid zu erspähen. Nichts im Leben ging über die Entzückungen der ersten Umarmung, um den Rausch der gebrochenen Widerstände, dieses rasende Emporwirbeln der Gefühle.

Für einen Augenblick stand Maria Fenns Gesicht vor ihm, der leicht gebeugte Nacken mit dem schwarzen Haarknoten darauf. Er nannte dem Chauffeur die Tanzdiele am Kurfürstendamm, warf die Zigarette fort und atmete die Nachtluft in vollen Zügen ein, den Duft der Linden, die zu beiden Seiten des Weges standen.

Ahnte van Holten, woher er kam? Ließ der ihn vielleicht seit Jahr und Tag beobachten? Diese Frage nagte an ihm. Wenn Holten seinen Sommeraufenthalt herausbekam, dann ging das Rennen auf Leben und Tod. »Tod!« Das Wort durchfuhr ihn. Aber wenn auch, er mußte es noch einmal auskosten, noch einmal durch alle Himmel und Höllen hindurchgehen. Vielleicht, daß er diesmal gefeit war. Vielleicht!?

Sein Blick bekam etwas Unstetes. Erst als der Wagen in das Licht der großen Straßen einbog, sammelte er sich und zwang das jungenhaft vergnügte Lächeln auf die Lippen zurück. Es war unmöglich, daß Holten seine Spur entdeckte. Zu jenem nordöstlichen Winkel an der See hatte der keine Brücke. Nicht einmal Glasbergs Frau wußte, wo er den Sommer verbrachte. Was mochte Käte jetzt eigentlich treiben? Die Blumen in der Dahlemer Villa begießen, dem Kanarienvogel Futter geben, Kakteen ziehen! Er bekümmerte sich nicht viel um sie, die er auf den Wunsch des Vaters endlich doch geheiratet hatte, um das Langenohrer Hüttenwerk dem Konzern anzugliedern. Er hatte ihr nichts vorgemacht, als er um ihre Hand bat. Sie wußte, daß er von olympischen Höhen und unvergeßlichen Liebesfesten herkam, und hatte es auf sich genommen, als seine Frau zu gelten.

Er wohnte nicht einmal mehr ständig bei ihr. Seit er den großen Versuchslaboratorien des Trusts vorstand – es war die Belohnung für seine Heirat gewesen –, wohnte er in dem dunklen Fabrikgebäude zwischen Tempelhof und Schöneberg. Hatte dort, fünf Stock hoch, seine eigene Wohnung, wie im Leuchtturm, nur mit dem verrußten Lift zu erreichen. Ein kleines Paradies, mit Auslauf auf verborgene Dachgärten. Nur sichere Freunde durften ihn dort besuchen, und auch sie fanden den Weg nicht, wenn nicht unten an der Anfahrt der Portier sie erwartete, um sie hinaufzuführen.

Von jenem verschwiegenen Gehäuse aus unterhielt er seine Korrespondenz mit der Welt und unternahm seine Reisen, während der offizielle Verkehr über die Dahlemer Villa ging. Es war für Holten fast unmöglich, ihn in dieser Fabrikgegend zu überwachen. Es gab zu viele Ausgänge in dem riesigen Gebäudekomplex. Selbst ein sehr gewiegter Spion konnte hier sein Leben nicht überschauen. War es Angst, daß er sich in diesen Wald von rauchenden Schornsteinen zurückgezogen hatte? Gefahren waren schon vorhanden, seit Holten, wie er wußte, auf seiner Fährte lag. Es ging auf Leben und Tod, da war nichts abzuhandeln.

Aber es war keine Angst in ihm, wirklich nicht! Jeden Augenblick wäre er lächelnd hervorgetreten, um sich dem Gegner zu stellen. Es war die Freude an dem gefährlichen Spiel. Wer konnte es überhaupt wissen, wie weit ihn diese Lust am Indianerspiel getrieben hatte? Vielleicht war das der eine große Antrieb bei seinem Tun gewesen? Nicht alles freilich. Nein, nicht alles! Aber immerhin der eine große Antrieb. Er saß mit gespannten Muskeln da; die Augen weit aufgerissen, suchte die verwirrende Fülle des Straßenbildes zu durchdringen, zu ordnen.

Das Auto bog in den Kurfürstendamm ein, überflutet vom Licht der Bogenlampen, Schaufenster, Terrassen. Im Glast des nächtlichen Dunstes schwamm gespenstisch wie eine Insel aus Stein die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Menschenströme wogten auf beiden Seiten dahin, aufreizend durch die raffinierte Verbindung von Pelzen und leichtem Seidengeflitter. Kaum hörbar hallten vom Turm die elf Schläge. Die Bremse knirschte, die Feuerlichter der Bar schrien ihn an, er stieg aus.

Während er zahlte, schlug ihm van Holtens Hand auf die Schulter. »Drei Mark siebzig,« sagte der Chauffeur. Die schmalen Lippen des Rechtsanwalts verzogen sich zum Feixen.

»Eine nette Summe für die Fahrt von der Regina-Bar bis hierher!«

»Oh,« rief Glasberg lustig, »was hab' ich inzwischen alles erlebt! Denkst du, man sitzt ungestraft zwei Stunden in einer Berliner Bar, wenn man gerade aus Dalmatien kommt?«

Fein, er war gut in Form. Sie warfen an der Garderobe die Mäntel ab. Als das Licht von tausend Kerzen auf sie eindrang, sah Glasberg, daß van Holten müde und alt aussah. Eigentlich hatte er neben Mario immer müde und alt ausgesehen: der nervöse Arbeitsmensch neben dem unverwüstlichen Sportsmenschen.

Aber heute fiel es besonders auf. Die Gläser der Hornbrille waren fast größer als das ganze runde Gesicht. Auch die Haare vorn begannen sich zu lichten. Dabei war Wolf van Holten dicker geworden. Es war keine gemütliche Dicke, sondern eine widerwillig getragene. Sollte Mario Glasberg den Gegner bemitleiden? Aber es war wohl zu früh. Wolf van Holten hatte seine Perioden, nach denen er wieder verjüngt aus einer Krisis hervorsprang. Man kannte das an ihm nun schon seit zehn Jahren. Weit eher war Gefahr zu argwöhnen. Denn gerade wie jetzt sah Wolf immer aus, wenn er mitten in einer Riesenarbeit steckte, mit der er noch nicht ganz im reinen war.

Sie fanden einen leeren Tisch im Tanzraum. »Ich komme von der Arbeit her, aber daß du für einen nächtlichen Bummel so wenig Toilette gemacht hast, nimmt mich wunder,« eröffnete Holten das Gespräch.

»Als ob ich heute ausgehen wollte!« erwiderte Mario. »Es kommt manchmal über einen.« Dabei dachte er, daß er noch heute mit dem Maler Margis in den Dünen von St. Lüne gestanden hatte. Für sein Leben gern hätte er Holten nach Margis gefragt. War Margis vielleicht ein Komplice? Aber keine noch so vorsichtige Frage hätte es aus Holten herausbekommen, während im Gegenteil dieser ihm selber auf die Spur kommen konnte.

Der Rechtsanwalt brauchte morgen nur bei Frau Margis unter irgendeinem Vorwand anzurufen und zu fragen, wo ihr Mann in den letzten Wochen gewesen war. Und dennoch – war es das Getöse der Jazzband um sie, irgendein weicher Ton des Saxophons, der sich auf seine Nerven schlug, oder eine merkwürdige Anwandlung von Eifersucht, weil er den Maler in der Nähe von Maria Fenn wußte – er konnte es nicht lassen, in diesem Augenblick seinen Namen zu nennen. Oder es war wohl nur Übermut, wie ein Flieger in der Gefahr den Motor abstellt und sich treiben läßt. »Du kennst doch den Maler Margis?«

»Ja, flüchtig,« erwiderte Holten. »Hast du ihn gesprochen?« Aber er wartete keine Antwort ab, glitt darüber hinweg, als wenn es ihn nichts anginge. »Sag mal, wo hast du in Ragusa gewohnt? Sonderbar, daß du Baron Schlieven dort nicht getroffen hast. Man trifft sich doch da? Er war jetzt vier Wochen dort, wußte aber nichts von dir. Eigentlich könntest du mir einmal eine Ansichtskarte von deinen schönen Reisen schicken. Es interessiert mich doch, wo du steckst!«

Hatte eine drohende Betonung in diesen Worten gelegen? Glasberg dachte darüber angestrengt nach. Er suchte sich den Tonfall ins Gedächtnis zurückzurufen. War es möglich, daß Wolf ihm auf der Spur war? »Ach was,« sagte er leichthin, »ich werde auf einmal Ansichtskarten schreiben!«

Er erhob sich und forderte eine Dame vom Nebentisch zum Tanz auf. Es war derselbe Blues, den er vor einigen Tagen mit Maria Fenn getanzt hatte. Holten sah ihm lächelnd nach. Habe ich eine Dummheit gemacht? fragte Mario Glasberg sich. Jedenfalls werde ich morgen früh nicht das offizielle Flugzeug nach Königsberg benutzen. – Seine Dame tanzte begeisternd. Er gab sich ganz der Seligkeit hin, den weichen Frauenkörper durch das Gewühl zu lenken und lachte mit gesunden weißen Zähnen zu Wolf hinüber.


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