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Gitta ahnte nicht, als sie auf einer kleinen Station den Zug von St. Lüne nach Königsberg halten sah, daß der verhaftete Maler Margis darin saß. An dem Morgen, als Mario Glasberg das Hotel in aller Frühe verlassen hatte, hatte sie sogleich den Entschluß gefaßt, Margis aufzusuchen. Margis hatte ausdrücklich geschrieben, daß er in St. Lüne Herrn Dr. Glasberg »unter merkwürdigen Umständen« begegnet war.
Das konnte tausenderlei bedeuten. Der Brief machte aber den Eindruck einer Warnung, als wolle er Holten auf Glasbergs jetziges Tun und Treiben aufmerksam machen. Sie notierte sich für alle Fälle, wann sie Glasberg in dem Königsberger Zentralhotel gesehen hatte und wann er nach Aussage des Portiers abgefahren war. Diese Daten konnten vielleicht von Wichtigkeit werden.
Der Zug durchschnitt die Hügellandschaft des Samlandes. An Dörfern und Gütern fuhr er vorbei, hielt an kleinen, freundlichen Stationen, brauste durch Wälder voller Tannen und Haselgesträuch. Fern tauchte das Meer wie ein festgespanntes blaues Fahnentuch auf und blieb nun immer zu ihrer Rechten liegen.
Gitta war das alles fremd. Zum erstenmal sah sie die See und wunderte sich über das landkartenartige Blau. Auch die Menschen im Zug schienen ihr fremdartig mit ihrer breiten Sprache und der verbissenen Gutmütigkeit.
In St. Lüne stieg sie aus, ging zum erstenmal in ihrem Leben durch die Straße eines Seebades, freute sich an den vielen kleinen Läden und bunten Fahnen, Schiffchen, Bällen und Sandschaufeln. Die Menschen, die in hellen Kleidern, das Badezeug über dem Arm, dahingingen, die Mädels mit offenen Haaren oder farbigen Binden um den Kopf, die jungen Männer in bunten Sweatern, alles gefiel ihr und machte ihr einen seltsam festlichen Eindruck. Weshalb bin ich nicht jeden Sommer in einem solchen Seebad? dachte sie.
Sie schlenderte, überall stehenbleibend, zum Strandhotel und fragte den Kellner nach Herrn Margis. Der Wirt kam hinter dem Büfett hervor und machte ein ernstes Gesicht. Fragte sie unter höflichem Dienern, ob sie Herrn Margis kenne.
»Nicht gerade persönlich,« sagte sie, »aber ich bringe ihm Grüße eines guten gemeinsamen Freundes.« Erwartete, daß der Wirt sie nun an einen der Herren weisen würde, die in Gruppen herumstanden. Aber er bat sie in sein Privatkontor und berichtete ihr von Herrn Margis' vor einer Stunde erfolgter Verhaftung.
»Aber das ist doch nicht möglich!«
Der Wirt erzählte von den Damen Fenn, wie sie mit einem Herrn hereingekommen waren und Margis' Bekanntschaft gemacht hatten. Wie dann Herr Margis sich fast nur noch bei diesen Damen in Klein-Klank aufgehalten hatte. Wie er endlich gestern spät nachts mit einem blutigen Riß über der Stirn nach Hause gekommen war und heute in aller Frühe abreisen wollte, dabei aber verhaftet wurde. »Seit acht Uhr morgens war sein Zimmer unauffällig umstellt. Er konnte nicht mehr entwischen. Vielleicht hielt er sich noch für vollkommen sicher, aber unsere Polizei ist sehr gut und auf dem Posten!«
Gitta fragte nach jenem Herrn, mit dem die beiden Damen Fenn seinerzeit hier zum erstenmal aufgetaucht wären. Es war ein Dr. Glasberg, der auf dem Rittergut Serbenitz den Sommer verbrachte. »Ein sehr feiner Herr und sehr reich. Er hat einen prachtvollen eigenen Wagen, italienisches Fabrikat, glaube ich.« Dieser Herr Dr. Glasberg habe die Untersuchung der Mordtat sofort in die Hand genommen. In einem Versteck, das sich Herr Margis in den Dünen für seine Malsachen angelegt habe, hätte man denn auch den Dolch gefunden, mit dem Frau Fenn ermordet worden war. Er, der Wirt, wüßte das alles von dem Ortsgendarmen, der gerade vor einer Viertelstunde bei ihm gewesen war, um ihn als Zeugen zu vernehmen.
»Da kommt Herr Glasberg gerade angefahren!« rief er und zeigte durch das Fenster auf ein Auto. »Der linke Herr ist es! Rechts sitzt der Untersuchungsrichter aus Königsberg, Landgerichtsrat Wehmann.«
Gitta konnte nichts mehr erkennen. Das Auto war um die Ecke gebogen. Der Wirt eilte hinaus und ließ sie stehen. Sie ging ihm nach und nahm an einem Tisch in der Halle Platz. Die Nachrichten waren wie eine Sturmflut über sie gekommen. Noch eben schlenderte sie ahnungslos durch diese künstliche, heiter improvisierte Dorfstraße, und nun war das Fürchterliche, das sie dunkel geahnt und das sie hierhergetrieben hatte, bereits geschehen.
Nein, überrascht war sie nicht eigentlich. Sie stellte es selbst bei sich fest. Es war eine bestimmte Vorstellung in ihr gewesen. Jetzt begriff sie es erst. Nur, daß das alles so rasch gekommen war, ließ sie erstaunen. Aber daß sich in Marios Nähe ein Verbrechen abspielen würde, hatte sie gewußt, seit sie diese ostpreußische Reise unternahm.
Das war es nicht, was sie erzittern ließ, und sie merkte, daß sie am ganzen Leibe zitterte. Aber im nächsten Augenblick würde sie Mario Glasberg eintreten sehen, und der Gedanke daran preßte ihr fast das Herz ab. Seit zwei Jahren hatte sie diesen Mann nicht mehr gesehen, mit dem sich alle ihre Gedanken beschäftigten.
Sie fürchtete sich vor dem Eindruck, den er auf sie machen würde. Vielleicht werde ich dann sehen, daß alle meine Annahmen unsinnig waren. Zweifelte nicht auch Holten immer an Marios Schuld, wenn er wieder mit ihm zusammengewesen war? Aber es handelte sich ja nicht nur um diese Schuld. Alle Rätsel der Welt waren für sie in diesem Manne einbegriffen. Sie mußte hinter sein Geheimnis kommen!
Ihr fielen die Worte ein, die sie noch vor zwei Tagen zu Holten gesprochen hatte: »So werde ich alles daransetzen, seine Geliebte zu werden, wenn es anders nicht möglich ist!« War sie vielleicht nur zu diesem Zweck hierhergefahren? War vielleicht der ganze Inhalt der beiden letzten Jahre nur ein ihr selbst verborgenes Werben um Mario Glasberg gewesen? Sie schauderte. Was alles lag in ihr verborgen? Und wenn sie ihn nun sah und sich klar darüber werden mußte, daß sie ihn liebte und daß sie ihm tausendfache Morde verzeihen konnte, wenn er sie nur wiederliebte?
»Nein, das ist ja Unsinn!« sagte sie sich. »Wie komme ich nur auf solche Gedanken! Es sind Kindheits- und Mädchenerinnerungen, die keine Wirklichkeit haben!« Aber sie zitterte noch immer vor seinem Eintritt.
Die Herren standen draußen mit dem dienernden Wirt zusammen, der heute gar nicht lächelte. Der Kellner fragte Gitta, ob sie zu speisen wünschte. Die Karte bebte in ihren Händen, daß sie kaum zu lesen vermochte. Schließlich bestellte sie ein gewöhnliches Menü.
In diesem Augenblick traten Mario und der Landgerichtsrat ein und nahmen unweit von ihr Platz. Sie blickte zu Mario hinüber. Sein offenes Jungengesicht war von der Sonne gebräunt. Aber es war so ernst, wie sie es nur von jenem Tage kannte, als er in die Streichersche Villa gekommen war, um Susettes Tod anzuzeigen. Und eine harte Falte hatte sich auf der Stirn eingegraben, die er damals nicht hatte und die ihr irgendwie rührend erschien.
Sie sah, wie er sich lebhaft mit dem Untersuchungsrichter, einem Herrn mit schlankem, braunem Kopf und scharfen dunklen Augen unterhielt. Einmal wandte Mario den Kopf zu ihr hin, da er sich durch ihren Blick einen Augenblick lang beunruhigt fühlte.
Aber er sah gleichgültig, ohne sie zu erkennen, wieder fort. Wie sollte er auch in der jungen Dame den einstigen langaufgeschossenen Backfisch vermuten! dachte sie, wenn sie irgendwo in ihrem Innern auch von ihm erkannt zu sein wünschte.
Da sitzt er mit dem Untersuchungsrichter, auf den er natürlich den denkbar besten Eindruck macht, und beweist ihm, daß nur Margis der Mörder sein kann! dachte sie. Aber vielleicht war es Margis? Ihr fiel die Schilderung des Wirtes wieder ein. Wenn Glasberg heute nacht in Königsberg gewesen war – und sie hatte sich selbst davon überzeugt –, dann war Margis oder ein anderer der Mörder.
Konnte Mario überhaupt einen Mord begehen? Sie sah ihn wieder aufmerksam an. Natürlich konnte er es! Der harte Zug um seinen Mund sagte es ihr. Aber hätte es nicht gerade gegen ihn gesprochen, wenn keine Spur von dem Erlebnis in seinem Gesicht zurückgeblieben wäre? Zum zweitenmal ereignete sich ein solches Geschehnis in seiner unmittelbaren Nähe. Selbstverständlich war er erschüttert, selbstverständlich gruben sich Falten um seinen Mund und in seine Stirn. Mußte er sich nicht verflucht vorkommen, daß ihn Mord und Selbstmord ständig verfolgten? Wenn es nun auch jetzt wieder so war, daß sie und Holten und einige andere Menschen den Verdacht gegen ihn nicht verstummen ließen und ein großes Rätsel zurückblieb? »Dann, dann muß ich wirklich seine Geliebte werden, um ihn zu ergründen!«
Sie dachte darüber nach, ob er sie lieben würde. Vielleicht, vielleicht! erwog sie. Er hat meine Schwester geliebt! Ja, er muß sie geliebt haben! Sie ging ihre einzelnen Ähnlichkeiten mit Susette durch. Vielleicht wird er mich viel mehr lieben als sie! Vielleicht hat er sogar unter bestimmten Eigenschaften Susettes gelitten?
Sie mußte traurig und verwirrt lächeln, daß sie solche Gedanken haben konnte, während er kaum zehn Schritte von ihr entfernt saß und vielleicht ein schweres Verbrechen mit jedem Wort, das er zu dem Landgerichtsrat sprach, besiegelte.
Inzwischen hatte sich die Halle mit Menschen gefüllt. Die Tische zwischen ihr und Mario waren besetzt worden. Sie mußte ein wenig mit dem Stuhl beiseiterücken, um seine Stirn im Auge zu behalten.
Ein junges Ehepaar und ein Herr setzten sich an ihren Tisch. Sie sprachen über die Mordtat der Nacht. Wenn die wüßten, daß der Mörder wenige Tische von uns sitzt! dachte Gitta. Auf einmal fiel ihr ein, daß sie Mario begrüßen konnte. Wenn sie auf ihn zuging und ihm einfach Guten Tag sagte? Guten Tag, Mario! Erkennst du mich nicht? Ich bin Brigitte, Susettes Schwester!
Sie mußte an sich halten, um es nicht zu tun. Einmal stand sie sogar auf, ging an seinem Tisch vorüber. Wenn er mich erkennt, ist es gut! Aber sie wagte nicht, ihn anzusprechen. So holte sie sich nur eine Zeitung und setzte sich wieder.
Die Gesellschaft an ihrem Tisch sprach über die Ermordete und ihre siebzehnjährige Tochter Renate. Man war der Meinung, daß Margis sowohl mit der Tochter wie mit der Mutter »eine Geschichte« gehabt habe. »Wer weiß, was da vorgegangen ist!?« sagte der Ehemann. »Es kann eine furchtbare Eifersuchtsszene gegeben haben. Es ist schwer, so etwas wirklich zu durchschauen. Ich zweifle daran, daß die Gerichte, selbst in Fällen, die ganz klar erscheinen, die Wahrheit herausbringen.«
Der andere Herr hatte Margis gesehen, als er gestern nach Hause kam. »Er soll doch ein berühmter Maler sein, nicht wahr? Gestern nacht machte er wirklich einen tollen Eindruck. Seine Stirn blutete. Vielleicht hatte es einen Kampf mit seinem Opfer gegeben. Schrecklich! Und einen solchen Menschen hat man nun fast täglich gesehen!«
Die junge Frau fragte, ob da nicht noch ein anderer Rivale gewesen wäre. Die ganze Gesellschaft hätte doch neulich noch zu vieren hier getanzt. Es könne erst wenige Tage her sein. Die Herren entsannen sich nicht.
Nein, ich muß etwas anderes tun, überlegte Gitta. Ich muß den Untersuchungsrichter auf Glasbergs Vergangenheit aufmerksam machen. Aber so, daß Mario nichts davon merkt.
Wie mache ich das? Ganz einfach! Ich gehe in das sogenannte Privatbureau und bitte den Wirt, mir den Untersuchungsrichter hereinzurufen. Eine Dame hätte ihm eine wichtige Mitteilung zu machen. So geht es!
Sie schickte sich wirklich an, aufzustehen. In dem Augenblick erhoben sich die Herren und gingen hinaus. Gitta wagte nicht, sie aufzuhalten. Sie fühlte ihre Erregung. Sie hätte zu dem Wirt nicht ruhig sprechen können.
Durch das Fenster sah sie, wie die Herren das Auto bestiegen und davonfuhren. Einen Augenblick hatte sie noch das Gesicht des Chauffeurs im Auge, ein hochmütiges, verschlossenes Gesicht mit merkwürdig flammenden grünbraunen Augen darin. Sicher ist das Glasbergs Chauffeur! dachte sie.
Was tue ich nun? Zuerst mußte sie an Wolf van Holten eine Depesche schicken. Was depeschierte man ihm? Sie setzte auf: »Eine Bekannte Marios und Margis' heute nacht ermordet. Margis als Täter verhaftet. Sofort Königsberg kommen.« Das mochte genügen.
Vielleicht konnte sie hinzusetzen: »Erwarte Dich morgen früh.« Sie hatte dann die Gewißheit, daß er sich am Abend oder spätestens morgen früh in den Zug setzte. Und abends in Königsberg wollte sie den Untersuchungsrichter aufsuchen, um ihn über Glasbergs Vergangenheit zu informieren. Sie rief den Kellner und zahlte. Der Wirt bat sie noch einmal in sein Kontor, fragte, ob sie hierzubleiben wünschte. Er könne ihr allerdings nur das durch Margis' Verhaftung freigewordene Zimmer anbieten.
Gitta dankte. Sie hätte unter diesen Umständen beschlossen, nach Königsberg zurückzufahren, ließ sich aber von ihm noch Einzelheiten, insbesondere über die Damen Fenn, berichten. Ob er die Tochter, Renate, kenne? Natürlich kannte er sie. Ein bildhübsches Mädelchen und immer wie aus dem Ei gepellt. »Aber sonderbar, wissen Sie, sonderbar!« Er beschrieb ihr die Lage von Klein-Klank. Am Vormittag waren die Leute zu Hunderten dorthin geströmt, so daß die Birkenallee abgesperrt werden mußte.
Gitta wußte genug. Sie ging auf das Postamt und gab eine dringende Depesche an Holten auf. Ob Wolf wirklich morgen früh ankam? Weshalb sollte er nicht kommen, wenn sie ihn rief? Spätestens morgen abend kam er gewiß. Jetzt oder nie war die Möglichkeit, Glasberg zu entlarven. Hier, wo noch alles im Fluß war, mußte Wolf eingreifen. Und selbstverständlich würde er die Verteidigung Margis' übernehmen.
Das war der Weg, um an die Akten heranzukommen. Das Fräulein auf dem Amt sah sie interessiert an, als sie das Telegramm durchlas, das mit der aufregenden Mordtat in so naher Verbindung stand. Wahrscheinlich fühlte sie sich im Mittelpunkt der Ereignisse, da alle Depeschen in dieser Angelegenheit durch ihre Hand liefen.
Auf einmal fiel es Gitta ein, daß sie die Adresse des Untersuchungsrichters nicht kannte. Sie ließ sich das Fernsprechverzeichnis kommen und suchte die Wohnung des Landgerichtsrats Wehmann heraus.
Dann schlenderte sie nach dem Bahnhof, um mit dem nächsten Zug zurückzufahren. Als das blaue Band der See festlich zu ihrer Linken ausgespannt war, dachte sie mit einer leisen Wehmut daran, daß ihr kein Frieden beschieden war. Niemals würde sie ein solches Bad mit hübschen Läden und bunten Wimpeln und Schiffchen und Papierlaternen und kleinen Netzen besuchen können, ohne daß ihr dieser merkwürdige Tag vor Augen stand.
Sie brachte ihre kleine Handtasche in das Hotel zurück und behielt ihr Zimmer. Auch für Wolf bestellte sie gleich eines vom nächsten Tage ab. Der Portier notierte es sich.
»Nun ist Herr Dr. Glasberg heute nacht gerade hier gewesen,« sagte sie zu dem Mann. »Und wissen Sie, was derweil passiert ist? Eine Dame auf einem Gut bei St. Lüne, eine gute Bekannte von ihm, ist gerade in dieser Nacht ermordet worden!«
Der Portier wußte von nichts. Er besann sich nur darauf, daß ein Herr Dr. Glasberg die letzten beiden Nächte im Hotel gewohnt hatte. »Er kam beide Male abends mit dem Auto an und fuhr am Morgen ganz früh wieder fort,« sagte er.
»Behalten Sie das nur im Gedächtnis! Es könnte sein, daß es für Herrn Glasberg wichtig ist, falls er in den Verdacht der Mordtat kommt.«
Der Portier sah sie verwundert an. »Ich bitte Sie!« sagte er breit. »Ein Gast unseres Hotels!« Sie ging in ihr Zimmer hinauf und blickte durchs Fenster.
Auf einmal kam ihr ein Gedanke: Konnte Mario nicht heimlich des Nachts aus seinem Zimmer hinausklettern, mit einem Auto nach Klein-Klank fahren, wieder zurückkehren und am Morgen vor den Augen des Portiers das Hotel verlassen? Hatte er dann nicht das schönste Alibi für sich?
Sie lehnte sich aus dem Fenster hinaus. Vier Zimmer weiter hatte Mario geschlafen. Oder nicht geschlafen. Vor den Fenstern dieser ganzen Seite lag das breite Dach der vorgebauten Halle. Man konnte bequem aus den Zimmern auf dieses Dach gelangen. Und rechts davon reckten zwei Platanen ihre Äste über das Dach. Natürlich! Hier konnte ein geschickter Kletterer, ohne Aufsehen zu erregen, auf die Erde gelangen. Gleich um die Ecke hielten die Autos.
Der Atem stockte ihr vor Erregung. Weshalb war Mario in jenen beiden Nächten in Königsberg gewesen? Was wollte er hier? Was für einen Zweck konnte es haben, abends anzukommen und am frühen Morgen wieder abzufahren. Ein Liebesabenteuer! schoß es ihr durch den Kopf. Oder das Alibi?
Wenn sich nun der Verdacht auf ihn lenkte, und Mario hatte hier wirklich ein Abenteuer gehabt – würde er als Kavalier nicht schweigen müssen? Und wenn er zum Tode verurteilt wurde? Auch dann würde er schweigen! Jedenfalls würde er keinen Namen nennen und die Zeugin nicht anführen.
Dann stand sie wieder vor dem Rätsel: War er ein Mörder oder heftete sich nur das Unglück an seine Fersen? Vielleicht kämpfte er gegen das Schicksal an, bewahrte sein unberührtes Knabengesicht und sein heiteres Lächeln, um den Dämon doch schließlich niederzuzwingen? Vielleicht war er ein Held, der mit übermenschlicher Kraft gekämpft hatte, um Susettes blutigen Schatten von seinem Leben abzuwehren, und jetzt verdunkelte ein Mord zum zweitenmal seinen Lebensweg?
Aber wenn er wirklich gestern nacht in diesem Hotel geschlafen hatte, mußte dann nicht die Frau, die bei ihm gewesen war, in der Gerichtsverhandlung vorstürzen und Zeugnis ablegen? Und wenn sie ihr Leben und ihre Ehre damit preisgab? Oh, sie, Gitta, hätte es getan!
Sie stand lange vor dem Fenster. Noch immer maßen ihre Augen die Möglichkeit ab, durch das Fenster auf die Straße zu gelangen. Es war möglich, es war unzweifelhaft möglich! Ob sie nun noch zu dem Untersuchungsrichter ging? Sie gab sich einen Ruck. Weshalb zögerte sie, den Mörder zu überführen? Sie ging hinunter und winkte ein Auto herbei.
Landgerichtsrat Wehmann wohnte draußen auf den Hufen. Ein Mädchen mit weißer Schürze öffnete die Tür. Der Herr Rat wäre soeben aus St. Lüne zurückgekehrt. Gitta ließ sich in einer dringenden Angelegenheit melden. Das Mädchen verschwand, kam wieder und führte sie in das Herrenzimmer. Ein zwölfjähriger blonder Junge saß da und lernte Vokabeln.
Gitta begrüßte ihn. Sie fühlte sich in dieser bürgerlichen Atmosphäre seltsam geborgen. Dem Jungen war die Anwesenheit der fremden Dame peinlich. Er starrte sie eine Weile an und verließ dann das Zimmer.
Herr Landgerichtsrat Wehmann trat gleich darauf herein und fragte zurückhaltend nach ihrem Begehren. Noch einmal erwog sie, ob sie nicht unter irgendeiner Ausrede das Zimmer verlassen sollte. Sie sah ängstlich den feinen klugen Kopf des Juristen an, dann setzte sie sich mit kurzem Entschluß nieder und begann zu erzählen.
»Mir sind diese Dinge nicht neu, Fräulein Streicher,« sagte der Landgerichtsrat. »Ich habe seinerzeit selber die merkwürdige Geschichte von dem Selbstmord Ihrer Frau Schwester in Berlin gehört und habe heute allerhand Neues darüber von Herrn Dr. Glasberg selbst erfahren. Sie stellen da gefährliche Theorien über Arsen und gefälschte Briefe auf. Einen eigentlichen Beweis bringen Sie aber nicht herbei. Wie Sie selbst sagen, sind sich die Sachverständigen nicht darüber einig, ob der fragliche Brief nun wirklich gefälscht ist. Selbstverständlich werde ich mir sofort das gesamte Aktenmaterial von dem dortigen Oberstaatsanwalt kommen lassen.«
»Ach, das Aktenmaterial!« sagte Gitta. »Da steht natürlich nichts darin.«
»Es ist aber für mich als Juristen einigermaßen maßgebend.«
»Aber geht das denn nicht, daß Mario Glasberg immerhin in den Verdacht der Tat kommt? Es liegen doch Verdachtsmomente gegen ihn vor? Und wenn das nun zum zweitenmal der Fall ist, dann müßte doch wenigstens die Exhumierung der Leiche angeordnet werden. Und dann würde es sich herausstellen, daß meine Schwester gar nicht durch Veronal vergiftet ist.«
Der Landgerichtsrat machte eine verbindliche Handbewegung. »Ich weiß bereits durch Herrn Dr. Glasberg, daß Ihre werte Familie durchaus, an diesem Verdacht festhält. Viel Wahrscheinlichkeit scheint mir nicht dafür zu sprechen. Herr Glasberg ist ein hochangesehener Mann, der mit Ihrer Frau Schwester in einer denkbar guten Ehe lebte. Vielleicht hätte ich als Staatsanwalt um des lieben Friedens willen die Exhumierung längst angeordnet. Es mag vielleicht an den dortigen Verhältnissen liegen, daß das nicht geschehen ist. Sie wollen, gnädiges Fräulein, auch hier Verdachtsmomente gegen Ihren früheren Schwager herausfinden. Schließlich können gegen jeden einzelnen Menschen gewisse Verdachtsmomente geltend gemacht werden. Nun aber bedenken Sie einmal, was an positivem Verdacht gegen Herrn Margis vorliegt. Die Aussage der Tochter, daß er zu der Ermordeten in unerlaubten Beziehungen stand. Dann, daß er zur Zeit des Mordes an der Mordstelle weilte und in einem Zustand höchster Erregung mit blutigem Gesicht in das Hotel zurückkehrte. Daß sich der Dolch in seinem sogenannten Versteck befand, erscheint mir ebenfalls belastend. Solche Mörder aus Affekt pflegen nach ihrer Tat irgendeine Unsinnigkeit zu begehen. Es war natürlich Unsinn, den Dolch gerade dort zu verbergen. Und wenn es Sie interessiert: Ich habe soeben einen langen Brief gelesen, den Margis an seine Frau schrieb. Es ist typisch für den Verbrecher, wie er darin seine Unschuld beteuert. Und noch etwas ist in dem Brief bemerkenswert: Es kommt ihm in erster Linie darauf an, sein Verhältnis zu Frau Fenn abzustreiten. Darauf verwendet er volle vier Seiten. Er hatte also Angst davor, daß seine Frau etwas von dieser Geschichte erführe. In dieser Angst scheint mir überhaupt das eigentliche Motiv zu der Tat zu liegen. Was für ein Motiv aber konnte Herr Dr. Glasberg haben? Angst kennt der nicht! Und wo ist das geringste Motiv, das ihn getrieben haben sollte, seine erste Frau zu ermorden? Nein, gnädiges Fräulein, ich sehe hier keinen Weg. Auch wenn man aus dem Fenster unseres lieben alten Hotels mit einer Kletterpartie auf die Straße gelangen kann. Aber außerdem, mein gnädiges Fräulein, kann ich Ihnen bei dieser Gelegenheit genau vor Augen führen, wie leicht Ihre Verdachtsmomente zu beseitigen sind. Sie sahen Herrn Dr. Glasberg um halb zwölf Uhr etwa die Hoteltreppe hinaufsteigen. Fast genau zu derselben Zeit fand die unselige Tat statt. Was sagen Sie nun?«
»Ach, Herr Landgerichtsrat, vielleicht ist das alles ganz anders, als es jetzt erscheint.«
Als Gitta draußen stand, wußte sie, daß sie mit allen Mitteln kämpfen würde, um Mario zu entlarven. Der Widerstand des Juristen hatte ihre Zweifel niedergedrückt. Glasberg war doch der Mörder! Sie fieberte darauf, mit Holten zusammen zu sein und alles mit ihm zu besprechen. Sie mußte einen Weg finden!
Auf der Straße wurde das Abendblatt der Zeitung ausgerufen. »Mord in St. Lüne! Der bekannte Berliner Maler Margis verhaftet!« gellte es an den Straßenecken. Das gleiche ruft man nun in Berlin aus, dachte sie, und Frau Margis hat noch keine Nachricht! Sie kaufte ein Blatt, um sich in allen Einzelheiten zu informieren.
Im Hotel fand sie die telegraphische Antwort Holtens vor. Er konnte erst morgen abend kommen.