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Welch einen verschleierten Blick hatte sie ihm zugeworfen! Er verstand das nicht. Bei dem nächsten Zusammentreffen mit ihr wollte er es doch wiedergutmachen, wenn er sie abermals gekränkt haben sollte. Wie schwer sein Kopf wurde! Aber er hatte wirklich keinen Grund zur Angst, soviel war Gott sei Dank sicher.
Er setzte sich auf das Sofa und blätterte in einem Buch, las aber nicht. Er stand auf und ging unruhig ans Fenster. Ohne es sich selbst einzugestehen, wagte er kaum auf die Straße zu sehen, aus Furcht, seine Augen könnten möglicherweise wieder einem ungewöhnlichen Anblick begegnen. Seine Knie begannen zu zittern; was fehlte ihm? Er ging wieder zurück zum Sofa und ließ das Buch zu Boden fallen. Es hämmerte in seinem Kopf, er fühlte sich tatsächlich krank. Kein Zweifel, er hatte Fieber; die beiden Nächte, die er nacheinander im Walde gelegen hatte, hatten ihn nach und nach angegriffen und vom Scheitel bis zur Sohle durchkältet. Noch während er im Garten des Doktors saß, hatte er zu frieren angefangen.
Nun, das ging wohl vorüber! Es war nicht seine Gewohnheit, wegen einer kleinen Erkältung zu verzagen; morgen würde er wieder gesund sein! Er klingelte und ließ sich Kognak bringen, aber der Kognak übte keine Wirkung auf ihn aus, berauschte ihn nicht einmal, und vergebens trank er mehrere große Gläser aus. Das Schlimmste war, daß nun auch sein Kopf versagte, er konnte nicht mehr klar denken.
Wie war er doch im Laufe einer Stunde mitgenommen worden! Was nun? Warum blähten sich die Vorhänge so unruhig, da doch kein Wind ging? Hatte das eine Bedeutung? Er stand wieder auf und betrachtete sich im Spiegel, er sah verstört und schlecht aus. Ja, sein Haar war stärker ergraut, und seine Augen hatten rote Ränder … Sind Sie noch ängstlich? Das dürfen Sie nicht sein. Herrliche Dagny! Denk doch, einen vollkommen weißen Flut …
Es klopft an die Türe, und der Wirt tritt ein. Er bringt ihm endlich seine Rechnung, eine lange Rechnung auf zwei Blättern. Im übrigen lächelt er und ist äußerst höflich.
Nagel greift sofort zur Brieftasche und beginnt darin zu suchen, währenddessen fragt er aber, von bangen Ahnungen durchbebt, wieviel es sei, und der Wirt antwortet: Übrigens habe es gerne Zeit bis morgen oder bis zu einem anderen Tag, es eile nicht.
Ja, Gott weiß, ob er bezahlen könne, vielleicht könne er es nicht. Und Nagel findet kein Geld. Was, hatte er kein Geld? Er wirft die Brieftasche auf den Tisch und beginnt seine Taschen zu durchsuchen, er ist ganz ratlos und sucht kläglich überall, schließlich durchsucht er sogar seine Hosentaschen, bringt einiges Kleingeld zum Vorschein und sagt:
Hier habe ich etwas Geld, aber das reicht wohl nicht, nein, das reicht gewiß nicht, zählen Sie selbst nach.
Nein, sagt auch der Wirt, das reicht nicht.
Auf Nagels Stirn bricht der Schweiß aus, er will dem Wirt vorläufig diese paar Kronen geben und sucht sogar noch in seinen Westentaschen, ob er nicht auch dort etwas Kleingeld finden könnte, findet jedoch nichts. Aber er konnte wohl etwas zu leihen bekommen, vielleicht würde ihm jemand den Gefallen erweisen, ihm etwas zu leihen! Gott weiß, ob ihm nicht geholfen würde, wenn er jemand darum bat!
Der Wirt sieht nicht mehr zufrieden aus, sogar seine Höflichkeit verläßt ihn, und er nimmt Nagels Brieftasche, die noch auf dem Tisch liegt, und beginnt sie selbst zu untersuchen.
Ja, bitte schön! sagt Nagel, da können Sie selbst sehen, es sind nur Papiere darin. Ich verstehe das nicht.
Aber der Wirt öffnet das mittlere Fach und läßt die Brieftasche plötzlich fallen; sein Gesicht wird ein einziges, großes, erstauntes Lächeln.
Da ist es! sagt er. Da sind Tausender! Sie scherzten also, Sie wollten nur versuchen, ob ich einen Spaß verstünde?
Nagel wurde froh wie ein Kind und ging auf diese Erklärung ein. Er atmete wunderbar erleichtert auf und sagte:
Ja, nicht wahr, ich scherzte nur, es fiel mir ein, ein wenig Spaß zu treiben. Doch, Gott sei Dank habe ich noch viel Geld, sehen Sie her, sehen Sie nur her!
Es waren auch viele große Scheine, eine Masse Geld in Tausendkronenscheinen; der Wirt mußte gehen und wechseln, um zu seinem Geld zu kommen. Aber noch lange, nachdem, er gegangen war, standen die Schweißperlen auf Nagels Stirne, und er zitterte vor Aufregung. Wie verwirrt war er geworden, und wie leer es in seinem Kopf sauste!
Eine Weile später fiel er auf dem Sofa in einen unruhigen Schlummer, lag da und wand sich im Traum, sprach laut, sang, rief nach Kognak und trank im Halbschlaf und ganz im Fieber. Sara sah wiederholt nach ihm, und obwohl er dann beinahe die ganze Zeit mit ihr sprach, verstand sie nur wenig von dem, was er sagte. Er lag mit geschlossenen Augen da.
Nein, er wollte sich nicht ausziehen; was dachte sie denn? War es denn nicht mitten am Tage? Er hörte deutlich die Vögel zwitschern. Sie solle den Doktor lieber nicht holen. Nein, der Doktor würde ihm nur eine gelbe Salbe und eine weiße Salbe geben, und diese beiden Salben würde man dann gewiß verwechseln und verkehrt anwenden und ihn damit auf der Stelle töten. Karlsen sei daran gestorben; sie erinnerte sich doch an Karlsen? Ja, er sei daran gestorben. Wie dem nun auch sei, Karlsen war jedenfalls eine Angel in die Kehle geraten, und als der Doktor mit seinen Medizinen kam, zeigte es sich, daß es nur ein Glas mit ganz gewöhnlichem Tauf- oder Brunnenwasser war, an dem er erstickt war. Hehehe, obwohl man eigentlich nicht darüber lachen sollte … Sara, Sie dürfen nicht glauben, daß ich betrunken bin, nicht wahr? Ideenassoziationen, hören Sie? Enzyklopädisten und so weiter. Zählen Sie an den Knöpfen ab, Sara, und sehen Sie, ob ich betrunken bin … Horch, jetzt gehen die Mühlen, die Mühlen der Stadt! Gott, in welch einem Rabenwinkel leben Sie, Sara; ich möchte Sie aus der Gewalt Ihrer Feinde befreien, wie es geschrieben steht. Fahr zur Hölle, fahr zur Hölle! Wer sind Sie übrigens? Ihr seid alle miteinander falsch, und ich werde einen jeden von euch in die Enge treiben. Das glauben Sie nicht? Oh, wie ich euch beobachtet habe! Ich bin überzeugt, daß Leutnant Hansen Minute zwei wollene Hemden versprochen hat, aber glauben Sie, Minute hätte sie bekommen? Und meinen Sie, daß Minute gewagt hätte, das einzugestehen? Lassen Sie mich diesen Irrtum aufklären, Minute wagte nicht, das einzugestehen, er verkroch sich; was sagen Sie dazu! Irre ich nicht, Herr Grögaard, dann sitzen Sie jetzt wieder da und lachen dreckig hinter Ihrer Zeitung. Nicht? Nun, es ist mir auch ganz gleich … Sind Sie noch da, Sara? Gut! Wenn Sie noch fünf Minuten hier sitzenbleiben wollen, will ich Ihnen etwas erzählen, abgemacht? Aber stellen Sie sich zuerst einen Mann vor, dem die Augenbrauen nach und nach ausfallen. Können Sie daran festhalten? Dem die Augenbrauen ausfallen. Ferner muß es mir gestattet sein, Sie zu fragen, ob Sie jemals in einem Bett geschlafen haben, das knarzte? Zählen Sie an den Knöpfen ab, ob Sie das getan haben. Ich habe Ihnen sehr mißtraut. Übrigens habe ich alle Leute der Stadt mißtrauisch beobachtet. Übrigens. Und ich habe mich meiner Aufgabe gut entledigt, ich habe euch jedesmal eine Menge ungeheuer reicher Gesprächsthemen gegeben und Unordnung in euer Leben gebracht, eine unruhige Szene nach der anderen habe ich in euer ehrsames Blinddarmdasein eingefügt. Hoho, wie die Mühlen rauschten, wie die Mühlen rauschten! Sodann rate ich Ihnen, wohlgeachtetes Mädchen Sara, Caféknecht Josefstochter, klare Fleischsuppe zu essen, solange sie warm ist, denn wenn sie so lange steht, bis sie kalt ist, dann ist es, Gott verdamm mich, nur noch Wasser … Mehr Kognak, Sara, mir tut der Kopf weh, an beiden Seiten und in der Mitte oben. Es tut ganz merkwürdig weh …
Wollen Sie nicht etwas Warmes haben? fragt Sara.
Etwas Warmes? Was dachte sie doch immer und immer wieder? In einem Augenblick würde es in der ganzen Stadt bekannt sein, daß er etwas Warmes getrunken hätte. Wohl zu merken: er habe nicht vor, Ärgernis zu erregen, er wolle als guter Steuerzahler der Stadt auftreten, nach Vorschrift auf dem Weg zum Pfarrhof spazierengehen und die Dinge niemals so unselig anders als andere Leute anschauen … die Hand zum Schwure hob … Sie solle nicht furchtsam sein. Er habe wirklich da und dort Schmerzen; aber eben deshalb ziehe er sich lieber nicht aus, dann ginge es schneller vorüber. Man müsse hart gegen hart setzen …
Es wurde immer schlimmer mit ihm, und Sara saß wie auf Nadeln. Am liebsten wäre sie davongelaufen, aber er merkte es sofort, wenn sie aufstand, und fragte dann, ob sie ihn verlassen wolle. Sie wartete darauf, daß er in festen Schlaf fallen würde, wenn er sich müde geschwätzt hatte. Ja, wie er schwätzte, ständig mit geschlossenen Augen, und das Gesicht rot von Hitze und Fieber. Er hatte eine neue Art herausgefunden, Frau Stenersens Johannisbeerbüsche von den Läusen zu befreien. Diese bestand darin, daß er eines schönen Tages in einen Laden gehen wollte, um einen Blecheimer voll Petroleum zu kaufen, danach würde er sich auf den Markt begeben, seine Schuhe ausziehen und das Petroleum hineinschütten. Dann alle beide anzünden, einen Schuh nach dem andern, und endlich auf bloßen Strümpfen rundherum tanzen und dazu singen. Das müßte an einem Vormittag geschehen, wenn er wieder gesund war. Er wollte einen förmlichen Zirkus daraus machen, eine ganze Pferdeoper, und mit einer Peitsche dazu knallen.
Auf einmal bemühte er sich auch eifrig, seinen Bekannten sonderbare und lächerliche Namen und Titel zu geben. Den Bevollmächtigten Reinert nannte er Bilge und sagte, Bilge sei ein Titel. Herr Reinert, höchstgeachteter Bilge der Stadt, sagte er. Endlich aber begann er davon zu fabeln, wie hoch wohl die Zimmer in Konsul Andresens Wohnung sein können. Dreieinhalb Ellen, dreieinhalb Ellen! rief er immer wieder. Dreieinhalb Ellen, so ungefähr; habe ich nicht recht? Aber im Ernst, er läge wirklich da und habe eine Angel in der Kehle, es sei keine Einbildung, und er blute, es täte ihm ziemlich weh …
Endlich, gegen Abend, schlief er ordentlich ein.
Gegen zehn Uhr wachte er wieder auf. Er war allein und lag noch auf dem Sofa. Die Decke, die Sara über ihn gebreitet hatte, war zu Boden gefallen, aber er fror trotzdem nicht. Sara hatte auch die Fenster geschlossen, er öffnete sie wieder. Es kam ihm vor, als sei er wieder klar im Kopf, aber er war matt und zitterte. Der dumpfe Schrecken ergriff ihn wieder. Wenn es in den Wänden krachte oder von der Straße her ein Ruf herauftönte, fuhr es ihm durch Mark und Bein. Vielleicht würde es vorübergehen, wenn er sich zu Bett legte und bis morgen schliefe. Und er kleidete sich aus.
Er konnte jedoch nicht schlafen. Er blieb liegen und dachte an alle seine Erlebnisse in den letzten vierundzwanzig Stunden, von gestern abend an, als er sich in den Wald hinausbegab und das kleine Wasserfläschchen leerte, bis jetzt, da er ziemlich mitgenommen auf seinem Zimmer lag und vom Fieber geplagt wurde. Wie lang hatten diese Stunden gedauert! Und die Angst wollte ihn nicht verlassen, diese dumpfe und geheime Empfindung, daß er einer Gefahr, einem Unglück nahe sei, ließ ihn nicht los. Was hatte er denn getan? Wie es rings um sein Bett flüsterte! Das Zimmer war von einem zischelnden Murmeln erfüllt. Er faltete die Hände und glaubte zu schlafen …
Plötzlich sieht er seinen Finger an und bemerkt, daß der Ring fehlt. Augenblicklich beginnt sein Herz stärker zu arbeiten; er sieht genauer hin: ein schwacher, dunkler Rand um den Finger, aber kein Ring! Allmächtiger Gott, der Ring war weg, ja, er hatte ihn ins Meer geworfen, er hatte ja nicht geglaubt, daß er ihn noch brauchen würde, da er sterben sollte. Daher warf er ihn ins Meer. Aber jetzt war er weg, der Ring war weg!
Er springt wieder aus dem Bett, zerrt sich die Kleider an und taumelt wie ein Verrückter im Zimmer umher. Es war zehn Uhr, bis zwölf Uhr muß der Ring gefunden sein, dachte er. Schlag zwölf war die letzte Sekunde, der Ring, der Ring …
Er stürmt die Treppe hinunter, auf die Straße hinaus, nach den Speichern zu. Vom Hotel aus wird er beobachtet, aber er kümmert sich nicht darum. Er ermattet wieder, seine Knie schlottern unter ihm, und nicht einmal das merkt er. Ja, jetzt hatte er den Grund zu dieser schweren Angst gefunden, die ihn den ganzen Tag bedrückt hatte, der Eisenring war weg! Und die Frau mit dem Kreuz war ihm erschienen.
Vor Schrecken ganz außer sich springt er am Kai unten in das nächstbeste Boot. Es ist am Land befestigt, und er kann es nicht losmachen. Er ruft einen Mann an und bittet ihn, das Boot frei zu machen; der aber antwortet, das wage er nicht, es sei nicht sein Boot. – Ja, aber Nagel wollte alles auf sich nehmen, es gälte den Ring, er wollte das Boot kaufen. – Ob er denn nicht sehen könne, daß das Boot mit einem Schloß angehängt sei? Ob er das Schloß nicht sehen könne? – Nun, dann nehme er ein anderes Boot.
Und Nagel sprang in ein anderes Boot.
Wo wollen Sie hin? fragt der Mann.
Ich will den Ring suchen. Sie kennen mich vielleicht, ich habe hier einen Ring gehabt, Sie können selbst das Merkmal sehen, ich lüge also nicht. Und jetzt habe ich den Ring weggeworfen, er liegt irgendwo da draußen.
Der Mann versteht diese Rede nicht.
Wollen Sie einen Ring auf dem Grund des Meeres suchen? sagt er.
Ja, ganz richtig! antwortet Nagel. Sie verstehen mich, wie ich höre. Denn ich muß doch meinen Ring haben, das sehen Sie doch selbst ein. Kommen Sie, und rudern Sie mich.
Wollen Sie einen Fingerring suchen, den Sie ins Meer geworfen haben?
Ja, ja, und kommen Sie nun! Ich werde Ihnen viel Geld dafür geben.
Gott stehe Ihnen bei, lassen Sie das lieber sein! Wollen Sie ihn mit den Fingern herausholen?
Ja, mit den Fingern. Das ist mir gleich. Ich schwimme wie ein Aal, wenn es darauf ankommt. Vielleicht können wir statt der Finger etwas anderes finden, um ihn heraufzuholen.
Und der fremde Mann steigt wirklich in das Boot. Er setzt sich hin, um über die Sache zu sprechen; aber er dreht das Gesicht weg. So etwas zu versuchen sei doch verrückt. Wäre es ein Anker oder eine Kette gewesen, dann hätte es einen Sinn gehabt; aber einen Fingerring! Und wenn man nicht einmal genau wisse, wo er liege!
Nagel begann selbst einzusehen, wie unmöglich sein Vorhaben war. Aber dann wußte er sich keinen Rat mehr, dann war er verloren! Die Augen standen ihm starr im Kopf, und Fieber und Angst schüttelten ihn. Er macht Miene, über Bord zu springen, aber der Mann hält ihn fest; Nagel sinkt auch sofort zusammen, matt, todmüde, viel zu schwach, um mit jemand ringen zu können. Himmlischer Vater, jetzt wurde es immer schlimmer und schlimmer! Der Ring war verloren, bald war es zwölf Uhr, und der Ring war verloren! Er hatte ja auch eine Warnung erhalten.
In diesem Augenblick schimmerte ein Funken klaren Bewußtseins durch sein Gehirn, und in der kurzen Zeit von zwei, drei Minuten dachte er an unglaublich viele Dinge. Er erinnerte sich auch an etwas, was ihm bisher nicht mehr eingefallen war: daß er bereits gestern seiner Schwester schriftlich Lebewohl gesagt und den Brief in den Postkasten geworfen hatte. Er war noch nicht tot; der Brief aber ging weiter, konnte nicht aufgehalten werden, er nahm seinen Weg und war nun schon weit fort. Und wenn seine Schwester ihn bekommen würde, mußte er bestimmt tot sein. Übrigens war der Ring weg, alles war jetzt unmöglich …
Seine Zähne schlagen zusammen. Ratlos sieht er sich um, die See ist nur einen kurzen Sprung weit von ihm entfernt. Er schielt zu dem Mann auf der Ruderbank vorne hin, der wendet sein Gesicht beständig ab, doch er paßt gut auf, ist förmlich bereit zuzugreifen, wenn es nötig sein sollte. Warum wendet er die ganze Zeit das Gesicht weg?
Ich will Ihnen an Land helfen, sagt der Mann. Und er greift ihm unter die Arme und bringt ihn an Land.
Gute Nacht! sagt Nagel und dreht ihm den Rücken.
Aber mißtrauisch geht der andere ihm nach, behält alle seine Bewegungen heimlich im Auge. Wütend wendet sich Nagel um und sagt noch einmal Gute Nacht; dann will er vom Kai hinunterspringen.
Und der Mann ergreift ihn wieder.
Es gelingt Ihnen nicht, sagt er dicht an Nagels Ohr. Sie schwimmen zu gut, Sie kommen wieder empor.
Nagel stutzt und denkt nach. Ja, er schwamm zu gut, er würde wahrscheinlich wieder aufsteigen und sich retten. Er sieht den Mann an, starrt ihm ins Gesicht; die häßlichste Fratze schaut ihm entgegen – Minute.
Minute wieder, abermals Minute.
Zur Hölle mit dir, du elende, kriechende Natter! schreit Nagel und läuft davon. Wie ein Betrunkener taumelt er über den Weg, stolpert, fällt und steht wieder auf; alles tanzt vor ihm, und er läuft immer noch, läuft in der Richtung der Stadt. Jetzt hatte Minute zum zweitenmal seine Pläne gekreuzt! Um Himmels willen, was sollte er schließlich noch ausfindig machen? Wie es ihm vor den Augen schwirrte! Wie es über der Stadt brauste! Er fiel wieder hin.
Er erhob sich auf die Knie und wiegte gequält den Kopf hin und her. Horch, jetzt rief es von der See her! Es war bald zwölf Uhr und der Ring noch nicht gefunden. Und hinter ihm kam ein Wesen, er hörte es, ein Schuppentier mit schlaffem Bauch, der über die Erde hinschleifte und eine nasse Spur hinterließ, eine greuliche Hieroglyphe mit Armen am Kopf und einer gelben Klaue auf der Nase. Fort, fort! Wieder rief es vom Meer, und heulend preßte er die Hände an die Ohren, um es nicht zu hören.
Und wieder springt er auf. Noch war nicht alle Hoffnung verloren, er konnte zu dem letzten Mittel greifen, dem sicheren sechsläufigen Revolver, dem besten, was es gab! Und er weint vor Dankbarkeit, läuft, was er kann, und weint vor Dankbarkeit über diese neue Hoffnung. Plötzlich fällt ihm ein, daß es Nacht ist, er kann keinen Revolver bekommen, die Läden sind geschlossen. Und sofort gibt er alles auf, sinkt vornüber, schlägt ohne einen Laut mit der Stirn auf den Erdboden auf.
In diesem Augenblick kamen endlich der Wirt und ein paar andere Leute aus dem Hotel, um zu sehen, was aus ihm geworden sei …
Da erwachte er und starrte umher – er hatte das Ganze geträumt. Ja, er hatte doch geschlafen; Gott sei Dank, er hatte alles nur geträumt und das Bett nicht verlassen.
Einen Augenblick bleibt er liegen und denkt nach. Er betrachtet seine Hand, aber der Ring ist fort. Er sieht auf seine Uhr, es ist Mitternacht, es ist zwölf Uhr, noch fehlen einige Minuten. Vielleicht entrann er allem, vielleicht war er doch gerettet. Aber sein Herz schlägt gewaltsam, und er bebt. Vielleicht, vielleicht konnte es zwölf Uhr werden, ohne daß etwas geschah? Er nimmt die Uhr in die Hand, und die Hand zittert; er zählt die Minuten … die Sekunden …
Dann fällt die Uhr zu Boden, er springt aus dem Bett. Es ruft! flüstert er und sieht mit aufgesperrten Augen zum Fenster hinaus. Schnell zieht er einige Kleidungsstücke an, öffnet die Türe und läuft auf die Straße. Er sieht sich um, niemand beobachtet ihn. Dann setzt er in großen Sprüngen zum Hafen hinunter, der weiße Rücken seiner Weste leuchtet die ganze Zeit. Er erreicht die Landungsbrücken, läuft weiter bis zum äußersten Kai und springt mit einem Satz ins Meer.
Ein paar Blasen steigen auf.