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8

Helle Nächte.

Es war eine schöne Nacht.

Die wenigen Menschen, die man noch in den Straßen sah, hatten frohe Gesichter; auf dem Kirchhof ging immer noch ein Mann umher, schob einen Schubkarren vor sich hin und sang leise. Sonst war alles ganz still, man hörte nichts als diesen Gesang. Die Stadt sah, wenn man von hier oben beim Doktorhaus hinunterblickte, wie ein seltsames, verzweigtes Rieseninsekt aus, wie ein Fabeltier, das sich flach auf den Bauch geworfen und Arme und Hörner und Fühlhörner nach allen Richtungen ausgestreckt hatte. Nur da und dort rührte es ein Glied oder zog eine Kralle an – wie jetzt im Hafen unten, wo eine winzig kleine Dampfjolle lautlos in die Bucht hereinglitt und eine Furche durch das schwarze Wasser zog.

Der Rauch von Nagels Zigarre stieg blau in die Luft. Er sog den Duft von Wald und Gras ein, und das Gefühl einer durchdringenden Zufriedenheit, einer eigentümlichen und starken Freude ergriff ihn, trieb ihm das Wasser in die Augen und nahm ihm beinahe den Atem. Er ging an Dagnys Seite. Sie hatte noch nichts gesprochen. Als sie an dem Friedhof vorbeigekommen waren, hatte er ein paar lobende Worte über die Doktorsleute geäußert, aber keine Antwort erhalten. Jetzt war er von der Stille und Schönheit der Nacht so tief berauscht, sie war so leidenschaftlich auf ihn eingeströmt, daß sein Atem kurz und sein Blick unbestimmt wurde. Ja, wie köstlich waren diese hellen Nächte! Mit lauter Stimme sagte er:

Nein, sehen Sie doch die Höhenzüge dort – wie klar sie sind! Ich bin so froh, gnädiges Fräulein, ich bitte Sie um die Güte, Nachsicht mit mir zu haben. Ich könnte heute nacht vor lauter Glück Dummheiten machen. Sehen Sie die Kiefern hier, und die Steine und die Maulwurfshaufen, und dort die Wacholdersträucher, sie gleichen in diesem nächtlichen Licht sitzenden Menschen. Und die Nacht ist kühl und rein; sie bedrückt nicht mit seltsamen Ahnungen, und nirgends keimen heimliche Gefahren, nicht wahr? Sie dürfen jetzt nicht unzufrieden mit mir sein, Sie dürfen nicht. Es ist gerade so, als gingen Engel durch meine Seele und sängen ein Lied. Mache ich Sie furchtsam?

Sie war stehengeblieben, und deshalb fragte er, ob er sie ängstlich mache. Lächelnd sah sie ihn mit ihrem blauen Blick an, wurde wieder ernst und sagte:

Ich habe darüber nachgedacht, was Sie wohl für ein Mensch sind.

Dies sagte sie, während sie immer noch vor ihm stand und ihn ansah. Während des ganzen Weges sprach sie mit bebender, klarer Stimme, als sei sie ein wenig ängstlich und ein wenig froh.

Dann begann ein Gespräch zwischen ihnen, das, so langsam sie auch gingen, den ganzen Wald hindurch dauerte und das von dem einen zum anderen übersprang, von Stimmung zu Stimmung, mit all der bewegten Unruhe, die über beiden lag:

Haben Sie über mich nachgedacht? Wirklich? Ich aber habe wohl schon viel, viel mehr an Sie gedacht. Ich wußte von Ihnen schon, ehe ich kam, ich hörte Ihren Namen an Bord des Dampfers. Durch einen Zufall bekam ich ihn zu hören; ich belauschte ein Gespräch. Und ich kam am zwölften Juni hierher. Am zwölften Juni …

Ach nein, gerade am zwölften Juni!

Ja. Und die Stadt flaggte, und ich fand diese kleine Stadt so betörend, deshalb ging ich hier an Land. Und sogleich hörte ich noch mehr von Ihnen …

Sie lächelte und fragte:

Ja, wohl von Minute?

Nein. Ich hörte, daß alle Sie gern hatten, alle Menschen, und daß alle Sie bewunderten … Und Nagel dachte plötzlich an den Theologen Karlsen, der sogar um ihretwillen seinem Leben ein Ende gemacht hatte.

Sagen Sie, Sie meinen das doch, was Sie über die Seeoffiziere sagten?

Ja? Warum?

Nun, dann sind wir ja einig.

Warum sollte ich das nicht meinen? Ich schwärme für die Seeoffiziere und habe das schon immer getan, ich bewundere ihr freies Leben, ihre Uniform, ihre Frische und Unerschrockenheit, die meisten von ihnen sind auch außerordentlich angenehme Menschen.

Jetzt aber sprechen wir einmal von Ihnen. Was hat es zwischen Ihnen und dem Bevollmächtigten Reinert gegeben?

Nichts. Mit dem Bevollmächtigten Reinert, sagen Sie?

Gestern baten Sie ihn für etwas um Entschuldigung und den ganzen heutigen Abend haben Sie kaum ein Wort mit ihm gesprochen. Pflegen Sie alle Leute zu beleidigen und sie hinterher um Entschuldigung zu bitten?

Er lachte und sah auf den Weg nieder.

Um die Wahrheit zu gestehen, erwiderte er, war es sehr unrichtig von mir, den Bevollmächtigten zu beleidigen. Aber ich bin ganz sicher, daß es wieder gut wird, wenn ich mich einmal mit ihm aussprechen kann. Ich bin ein wenig rasch, ein wenig derb; das Ganze kam davon her, daß er mich anstieß, als er durch eine Tür ging. Eine Kleinigkeit also, eine Unachtsamkeit von seiner Seite. Ich aber fahre wie verrückt auf und rufe ihm einige Schimpfnamen zu, halte ihm ein Bierglas unter die Nase und verbeule seinen Hut. Da ging er, als gebildeter Mensch konnte er ja nichts anderes tun. Aber hinterher bereute ich mein Betragen, und ich habe mich entschlossen, es wiedergutzumachen. Natürlich, ein wenig war auch ich zu entschuldigen, ich war nervös an diesem Tag und hatte Ärger gehabt. Aber davon weiß ja niemand etwas, so etwas kann man nicht vorbringen, und so muß ich lieber die ganze Schuld auf mich nehmen.

Er hatte gesprochen, ohne sich weiter zu bedenken, vollkommen aufrichtig, als wolle er beiden Teilen Gerechtigkeit widerfahren lassen. Auch seine Gesichtszüge verrieten keine Hinterlist. Doch Dagny blieb plötzlich stehen, sah ihm erstaunt ins Gesicht und sagte:

Nein, aber … so ging es ja gar nicht zu. Ich habe es auf eine ganz andere Art gehört.

Minute lügt! rief Nagel mit heißen Wangen.

Minute? Ich habe es gar nicht von Minute gehört. Warum sagen Sie über sich selbst eine Unwahrheit? Ich habe es von einem Mann auf dem Marktplatz gehört, von dem Gipsfigurenhändler. Der hat mir das Ganze erzählt. Er war ja auch vom Anfang bis zum Ende dabei.

Pause.

Warum sagen Sie über sich selbst eine Unwahrheit? Das verstehe ich nicht, fuhr sie fort, und sie sah ihn die ganze Zeit an. Ich habe die Geschichte heute gehört, und ich wurde so froh darüber, das heißt: ich fand, Sie hatten so ungewöhnlich schön, so ungewöhnlich überlegen gehandelt. Das stand Ihnen so gut. Hätte ich nicht heute vormittag diese Geschichte gehört, würde ich wohl kaum gewagt haben, jetzt hier mit Ihnen zu gehen. Das sage ich Ihnen ganz aufrichtig.

Pause.

Dann fragte er:

Und jetzt bewundern Sie mich deshalb?

Ich weiß nicht, entgegnete sie.

Doch, ja, jetzt bewundern Sie mich.

Hören Sie, fährt er dann fort, das alles ist ja nur eine Komödie. Sie sind ein ehrlicher Mensch, es widerstrebt mir, Sie zum besten zu halten, ich will Ihnen sagen, wie es zusammenhängt.

Und jetzt erklärt er ihr, frech und ohne mit den Wimpern zu zucken, wie er das Ganze berechnet habe:

Wenn ich diesen Zusammenstoß mit dem Bevollmächtigten auf meine Art darstelle, die Sache ein wenig verdrehe, sogar einige Unwahrheiten über mich selbst sage, so tue ich das im Grund – im Grund – nur aus purer Berechnung. Ich versuche soviel Vorteil als möglich aus diesem Handel zu ziehen: Sie sehen, ich bin aufrichtig gegen Sie. Ich nehme nämlich an, daß Ihnen irgend jemand doch einmal den richtigen Zusammenhang erzählt, und wenn ich mich da schon im voraus so schlecht wie möglich gemacht habe, kommt mir das zugute, ich habe einen übermäßigen Gewinn dabei. Ich erhalte dadurch einen Glanz von Größe, von Hochherzigkeit, der seinesgleichen sucht – nicht wahr? – Aber das geschieht also ausschließlich durch einen Betrug, so platt und gewöhnlich, daß Sie sich darüber empören werden, wenn es Ihnen zu Ohren kommt. Ich finde es am richtigsten, Ihnen dies offen zu bekennen, denn Sie verdienen Ehrlichkeit. Aber freilich, jetzt erreiche ich nur, daß ich Sie tausend Meilen von mir fortjage, leider.

Sie sah ihn beharrlich an, grübelte über diesen Mann und seine Worte, dachte nach und versuchte sich eine Meinung zu bilden. Was sollte sie glauben? Wo wollte er mit seiner Offenheit hin? Plötzlich bleibt sie wieder stehen, schlägt die Hände zusammen und bricht in ein hohes, klares Lachen aus.

Nein, Sie sind doch der frechste Mensch, dem ich je begegnet bin! So eine Idee, umherzugehen und eine plumpe Geschichte nach der anderen vorzubringen, und dies mit dem ernstesten Gesicht, nur um sich selbst zu schaden! Aber damit kommen Sie bei mir nicht weiter! So etwas habe ich auch noch nie gehört! Wer bürgt Ihnen denn dafür, daß ich jemals den richtigen Zusammenhang zu hören bekäme? Sagen Sie mir das! Nein, halt, sagen Sie lieber nichts, Sie würden doch nur wieder lügen. Pfui, wie häßlich von Ihnen, hahahahaha. Aber hören Sie: wenn Sie nun berechnen, daß das alles so und so kommen wird, und sich das Ganze zurechtlegen und erreichen, was Sie wünschen, weshalb gehen Sie dann nachträglich her und verderben alles wieder, indem Sie Ihren Betrug – wie Sie es nennen – aufdecken? Auch gestern abend taten Sie etwas Ähnliches. Ich verstehe Sie nicht. Aber warum berechnen Sie denn alles und berechnen doch nicht, daß Sie selbst Ihren Schwindel wieder aufdecken werden?

Er gab durchaus nicht nach, einen Augenblick bedachte er sich und antwortete:

Aber ich berechne das ja auch, berechne auch das. Sie müssen doch selbst einsehen: Wenn ich beichte, hier neben Ihnen gehe und alles beichte, riskiere ich eigentlich nichts dabei, auf jeden Fall nicht viel. Erstens nämlich ist es nicht sicher, daß der, dem ich beichte, mir glaubt. Sie zum Beispiel glauben mir in diesem Augenblick nicht. Was aber ist die Folge davon? Die Folge davon ist, daß ich doppelt verdiene. Ich verdiene enorm, mein Gewinn wächst wie eine Lawine, wird so hoch wie ein Berg. Na, zweitens aber werde ich aus dieser Spekulation ohne Zweifel mit Profit hervorgehen, auch wenn Sie mir glauben. Sie schütteln den Kopf? Tun Sie das nicht; ich versichere Ihnen, ich habe dieses Verfahren schon oft angewandt und dabei immer gewonnen. Wenn Sie wirklich glauben, daß mein Bekenntnis ehrlich war, so werden Sie auf jeden Fall von meiner Offenheit ganz überwältigt sein. Sie werden sagen: Freilich, er hat mich angeführt, aber er erzählt es hinterher, ohne es nötig zu haben; seine Frechheit ist mystisch, er scheut absolut gar nichts, er versperrt dir mit seinen Zugeständnissen förmlich den Weg! Kurz gesagt: ich zwinge Sie dazu, auf mich zu starren, ich schüre Ihre Neugierde, damit Sie sich mit mir beschäftigen müssen, ich bringe Sie dazu, vor mir zurückzufahren. Es ist noch keine Minute her, daß Sie selbst sagten: Nein, ich verstehe Sie nicht! Sehen Sie, das sagten Sie, weil Sie versucht haben, mich zu erkennen – etwas, das mich reizt, ja was geradezu süß für mich ist. Auf jeden Fall also trage ich meinen Profit heim, ob Sie mir nun glauben oder nicht.

Pause.

Und Sie wollen mir weismachen, antwortete sie, daß Sie sich diese ganze List im voraus ausgedacht haben? Daß Sie jeden Zufall zuvor bedacht, alle Verhaltungsmaßregeln getroffen haben? Hahaha. Jetzt aber wird mich nichts mehr aus Ihrem Mund in Erstaunen setzen, nein, nunmehr bin ich auf alles gefaßt. Doch genug davon, Sie hätten noch viel schlechter lügen können, Sie sind wirklich geschickt.

Hartnäckig bestand er auf dem Seinen und bemerkte, daß seine Großmut nach dieser ihrer Entscheidung berghoch sein müsse. Und er danke ihr so vielmals, hehehe, doch, er habe alles erreicht, was er beabsichtigt hatte. Und es sei allzu freundlich von ihr, allzu gutmütig …

Ja, ja, unterbrach sie, lassen Sie es nun gut sein.

Jetzt aber war er es, der stehenblieb.

Ich sage Ihnen noch einmal, daß ich Sie zum besten gehabt habe! erwiderte er und blickte sie starr an.

Einen Augenblick sahen sie einander in die Augen. Ihr Herz begann stärker zu klopfen, und sie wurde ein wenig bleich. Warum war es ihm wohl so sehr darum zu tun, daß sie das Schlechteste von ihm glaubte? So gerne und so gutwillig er sonst nachgab, in diesem Punkt war er nicht vom Fleck zu bringen. Welch eine fixe Idee, welch eine Torheit! Gereizt brach sie aus:

Ich kann nicht begreifen, warum Sie hier neben mir hergehen und Ihr Innerstes vor mir umstülpen! Sie versprachen doch, artig zu sein.

Ihre Heftigkeit war wirklich echt. Sie begann an ihm irr zu werden, seine Hartnäckigkeit, die so sicher, so unentwegt war, machte sie schwankend. Es kränkte sie, so an der Nase herumgeführt zu werden. In ihrer Erregung schlug sie sich im Gehen mit dem Sonnenschirm in die Hand. Er war sehr unglücklich und sagte viele hilflose und komische Worte darüber. Schließlich mußte sie wieder lachen und gab ihm zu verstehen, daß sie ihn nicht ernst nähme. Er sei unmöglich, bleibe unmöglich und werde immer unmöglich sein. Ja, nur zu, wenn er das so lustig fände. Aber kein Wort mehr von dieser fixen Idee, kein Wort.

Pause.

Erinnern Sie sich, sagte er, hier traf ich Sie das erstemal. Niemals werde ich vergessen, wie feenhaft Sie aussahen, als Sie flohen. Wie eine Nymphe, eine Erscheinung … Aber jetzt will ich Ihnen ein Abenteuer erzählen, das ich erlebt habe.

Es sei übrigens nur ein Stück von einem Erlebnis und sei bald erzählt. Er saß einmal in seinem Zimmer, in einer kleinen Stadt, nicht in Norwegen, das Land sei ja gleichgültig, kurz: er saß an einem milden Herbstabend in seinem Zimmer. Vor acht Jahren, im Jahre 1883. Er saß mit dem Rücken gegen die Türe und las in einem Buch.

Hatten Sie eine Lampe?

Jawohl, draußen war es stockfinster. Ich saß da und las. Da höre ich jemand gehen, höre deutlich Schritte auf der Treppe, höre auch, daß bei mir angeklopft wird. Herein! Niemand kommt. Ich öffne die Türe; niemand draußen. Kein Mensch steht draußen. Ich klingle dem Mädchen. Ist jemand die Treppe heraufgegangen? Nein, niemand. Schön, gute Nacht! Das Mädchen geht.

Wieder setze ich mich an mein Buch. Da fühle ich einen Atem, einen Hauch, wie den Atem eines Menschen, und ich höre flüstern: Komm! Ich sehe mich um; niemand ist da. Ich lese wieder, werde ärgerlich und sage: Zum Teufel! Da sehe ich auf einmal neben mir einen kleinen bleichen Mann mit rotem Bart und sprödem, steifem Haar, das steil in die Höhe ragt; er steht an meiner linken Seite. Er blinzelt mir mit dem einen Auge zu, ich blinzle zurück; keiner von uns hatte den andern je vorher gesehen, aber wir blinzelten einander ein wenig zu. Da schließe ich mit der rechten Hand das Buch, und der Mann geht zur Türe und verschwindet. Ich folgte ihm mit den Augen und sah, wie er verschwand. Ich stehe auf, gehe ebenfalls zur Türe, und wieder höre ich es flüstern: Komm! Gut, ich nehme einen Mantel um, ziehe die Galoschen an und gehe hinaus. Du könntest dir eine Zigarre anzünden, dachte ich, kehre wieder in mein Zimmer zurück und zünde eine Zigarre an. Ich stecke auch noch mehrere Zigarren ein, Gott weiß, warum ich das tat, aber ich tat es nun einmal, und ging wieder hinaus.

Es war stockfinster, und ich sah nichts, aber ich fühlte, daß der kleine Mann an meiner Seite ging. Ich schlug mit den Armen aus, um ihn zu ergreifen. Ich wollte störrisch sein und beschloß stillzustehen, wenn er mir nicht besseren Bescheid geben würde; aber er war nicht zu finden. Ich versuchte auch, in der Dunkelheit ihm nach verschiedenen Richtungen zuzublinzeln, aber es half nichts. Gut! sagte ich, ich gehe nicht um deinetwillen, sondern um meinetwillen, ich mache einen Spaziergang; sei so freundlich und merke dir, daß ich nur einen Spaziergang mache. Ich sprach laut, damit er es hören solle. Ich ging mehrere Stunden lang, war bald aufs Land hinausgekommen, in einen Wald, und fühlte, wie mir taunasse Zweige und Blätter ins Gesicht schlugen. Nun wohl! sagte ich endlich und zog die Uhr hervor, nun wohl, jetzt gehe ich also wieder heim! Aber ich ging nicht wieder heim, war nicht imstande umzukehren. Beständig wurde ich weiter getrieben. Es ist eigentlich ein unvergleichliches Wetter, sagte ich da, du kannst ja eine Nacht oder zwei so weiter gehen, du hast ja Zeit! Dies sagte ich, obwohl ich müde und vom Tau gehörig durchnäßt war. Ich zündete mir eine neue Zigarre an, und der kleine Mann war ständig bei mir, ich fühlte, wie er mich anblies. Und ich ging unablässig, ging nach allen möglichen Richtungen, nie aber heimwärts zur Stadt. Meine Füße begannen zu schmerzen, bis zu den Knien herauf war ich naß vom Tau, und mein Gesicht tropfte wegen der feuchten Zweige, die mich streiften. Ich sagte: Es ist ja ein wenig sonderbar von mir, um diese Zeit hier herumzulaufen; aber es ist nun einmal eine Gewohnheit von mir, ein Brauch von Kindesbeinen an, nachts in den größten Wäldern, die ich finden kann, spazierenzugehen. Und mit zusammengebissenen Zähnen ging ich weiter. Dann schlägt die Uhr unten in der Stadt zwölf – eins, zwei, drei, vier bis zwölf; ich zähle die Schläge. Dieser bekannte Ton belebte mich sehr, obwohl es mich auch ärgerte, daß wir uns noch nicht weiter von der Stadt entfernt hatten, nachdem wir schon so lang umhergetrabt waren. Gut, aber die Turmuhr schlug, und genau in dem gleichen Augenblick, als der zwölfte Schlag fiel, steht der kleine Mann wieder greifbar vor mir und sieht mich an und lacht. In meinem Leben werde ich das nicht vergessen, ganz deutlich und lebend stand er da, zwei Vorderzähne fehlten ihm, und die Hände hielt er auf dem Rücken …

Aber wie konnten Sie ihn in der Dunkelheit sehen?

Er leuchtete selbst. Er leuchtete von einem seltsamen Licht, das hinter ihm zu brennen schien, als strahle es von seinem Rücken aus und mache ihn durchsichtig; sogar seine Kleider waren taghell, seine Hose war viel zu kurz und abgenützt. Das alles sah ich in einer Sekunde. Die Erscheinung versetzte mich in Erstaunen, unwillkürlich schloß ich die Augen und trat einen halben Schritt zurück. Als ich wieder aufsah, war der Mann fort …

Ach …!

Es geht noch weiter. Ich war an einen Turm gekommen. Ja, vor mir stand ein Turm, ich stieß dagegen, sah ihn deutlicher und deutlicher, es war ein schwarzer, achteckiger Turm, wie der Turm der Winde in Athen – falls Sie eine Zeichnung davon gesehen haben sollten. Niemals hatte ich etwas von einem Turm in diesem Wald gehört, aber er war da. Ich bleibe vor diesem Turm stehen, wieder höre ich ein Komm! und ich gehe hinein. Das Tor blieb hinter mir offen, und ich fühlte das als eine Erleichterung.

Im Gewölbe drinnen treffe ich wieder den kleinen Mann. An der einen Wand brannte eine Lampe, und ich konnte ihn gut sehen; er kam mir entgegen, als sei er die ganze Zeit hiergewesen, lachte mich still an, stand regungslos und starrte zu mir her, während er lachte. Ich sah ihm in die Augen und fand, daß sie voller grauenhafter Dinge seien, die sie im Leben gesehen haben mußten. Wieder blinzelte er mir zu, aber diesmal blinzelte ich nicht, ich wich vor ihm zurück, je mehr er sich mir näherte. Plötzlich höre ich leichte Schritte hinter mir, ich wende den Kopf und sehe ein junges Weib hereinkommen.

Nun, ich sehe sie an und fühle eine Freude dabei; sie hatte rote Haare und schwarze Augen, aber sie war mangelhaft bekleidet und ging auf dem Steinboden barfuß. Ihre Arme waren nackt und ohne Flecken.

Einen Augenblick lang mustert sie uns beide, senkt dann den Kopf tief vor mir und geht zu dem kleinen Mann hin. Ohne ein Wort zu sagen, fängt sie an, seine Kleider aufzuknöpfen und an seinem Körper umherzutasten, als suche sie etwas. Bald darauf zieht sie aus dem Futter seines Mantels einen hellen Schein, ein kleines, wild leuchtendes Licht hervor, das sie sich an den Finger hängt. Es leuchtete so stark, daß es die Lampe an der Mauer vollständig überstrahlte. Der Mann stand ganz still, während er durchsucht wurde, und lachte immer noch. Gute Nacht! sagte das Weib und wies auf eine Türe, und der Mann, dieses fürchterliche, seltsame Halbtier, ging. Ich blieb allein mit einem neuen Wesen zurück.

Sie trat auf mich zu, beugte sich wieder tief vor mir und fragte, ohne zu lächeln, ohne die Stimme zu heben:

Woher kommst du?

Aus der Stadt, schönes Mädchen, antwortete ich. Ich komme aus der Stadt.

Fremdling, vergib meinem Vater! sagt sie plötzlich. Füge uns deshalb nichts Böses zu; er ist krank, er ist wahnsinnig, du sahst ja seine Augen.

Ja, ich sah seine Augen, antwortete ich, und ich fühlte, daß sie Macht über mich hatten, ich folgte ihnen.

Wo trafst du ihn? fragte sie.

Und ich erwiderte:

Bei mir zu Hause, in meinem Zimmer. Ich saß da und las, als er kam.

Da schüttelte sie den Kopf und schlug die Augen nieder.

Aber laß dich nicht dadurch betrüben, schönes Kind, sagte ich dann; ich habe diesen Spaziergang so gern gemacht, ich habe nichts dadurch versäumt und bereue nicht, dich getroffen zu haben. Sieh her, ich bin fröhlich und zufrieden, lächle du nun auch!

Aber sie lächelte nicht, sie sagte:

Nimm die Schuhe ab, du darfst heute nacht nicht von hier fortgehen, ich werde deine Kleider trocknen.

Ich sah an meinen Kleidern hinunter, sie waren triefend naß, in meinen Schuhen stand das Wasser. Ich tat, wie sie mir geheißen, zog die Schuhe aus und gab sie ihr. Als ich das getan hatte, blies sie die Lampe aus und sagte:

Komm!

Warte ein wenig, erwiderte ich und hielt sie zurück. Weshalb läßt du mich schon die Schuhe ausziehen, wenn ich doch nicht hier schlafen soll?

Das darfst du nicht wissen, entgegnete sie.

Und ich bekam es nicht zu wissen.

Sie führte mich durch die Türe hinaus, in einen dunklen Raum; ich vernahm einen Ton, als wenn etwas uns nachschnüffelte, ich fühlte eine weiche Hand auf meinem Mund, und die Stimme des Mädchens sagte laut:

Ich bin es, Vater. Der Fremde ist fort – fort.

Aber ich hörte noch einmal, wie der mißgestaltete Wahnsinnige uns nachwitterte.

Wir stiegen eine Treppe hinauf, sie hielt meine Hand, und keines von uns sprach. Wir kamen wieder in einen gewölbten Raum, in dem kein Lichtstrahl zu sehen war, überall herrschte schwarze Nacht.

Still! flüsterte sie. Hier ist mein Bett.

Und ich tastete mich nach dem Bett hin und fand es.

Leg nun auch die übrigen Kleider ab, flüsterte sie wieder.

Ich legte sie ab und gab sie ihr.

Gute Nacht! sagte sie.

Ich hielt sie zurück und bat sie zu bleiben: Warte ein wenig, geh nicht. Jetzt weiß ich, warum du mich die Schuhe da unten ausziehen ließest; ich werde ganz still sein, dein Vater hat mich nicht gehört – komm!

Aber sie kam nicht.

Gute Nacht! sagte sie wieder und ging …

Pause. Dagny war flammend rot geworden, ihre Brust hob und senkte sich rasch, die Nasenflügel bebten. Sie fragte schnell:

Ging sie?

Pause.

Jetzt verwandelt sich meine Nacht und wird wie ein Feenabenteuer, eine rosenrote Erinnerung. Stellen Sie sich eine helle, helle Nacht vor …

Ich blieb allein; die Finsternis um mich her war schwer und dick wie Samt. Meine Knie zitterten vor Müdigkeit, auch fühlte ich mich ein wenig betäubt. Welch ein Spitzbube von einem Geisteskranken, der mich mehrere Stunden lang durch nasses Gras im Kreise geführt hatte, geführt wie ein Stück Vieh, nur mit seinem Blick und seinem Komm, komm – – – Das nächste Mal entreiße ich ihm das Licht und schlage es ihm aufs Maul! Ich war ganz erbittert, steckte mir zornig eine Zigarre an und ging zu Bett. Eine kleine Weile lag ich da und sah auf die Glut der Zigarre. Da höre ich das Tor unten zufallen, und alles wird still.

Zehn Minuten vergingen. Beachten Sie: ich liege hellwach auf einem Bett und rauche eine Zigarre. Plötzlich erfüllt sich das Gewölbe mit einem Sausen, als würden in der Decke überall Ventile geöffnet. Ich stütze mich auf den Ellbogen und lasse meine Zigarre ausgehen, starre in der Dunkelheit um mich und kann nichts entdecken. Ich lege mich wieder hin und lausche, und mir ist, als höre ich ferne Töne, ein wunderbares tausendstimmiges Spiel, irgendwo um mich her, hoch oben unter dem Himmel vielleicht, aber tausendstimmig und leise. Dieses Spiel tönt ununterbrochen und kommt näher und näher, und schließlich wogt es über mir, über dem Dach des Turmes. Ich stütze mich wieder auf den Ellbogen. Jetzt erlebe ich etwas, was mich heute noch, wenn ich daran denke, mit seltsamer, übernatürlicher Freude berauscht. Ein Strom von winzig kleinen, blendenden Wesen bricht plötzlich auf mich herab; sie sind ganz weiß, es sind Engel, Myriaden von kleinen Engeln, die wie eine schräge Mauer von Licht herniederströmen. Sie füllen das Gewölbe, es sind ihrer vielleicht eine Million, sie wogen zwischen Boden und Decke auf und nieder, und sie singen, singen, und sind vollkommen nackt und weiß.

Mein Herz steht still: Engel überall. Ich lausche und höre ihrem Gesang zu, sie streifen meine Augenlider und setzen sich in mein Haar, und das ganze Gewölbe ist von dem Duft erfüllt, der aus ihren kleinen geöffneten Mündern kommt.

Ich liege auf den Ellbogen gestützt – und strecke meine Hand nach ihnen aus, und einige von ihnen setzen sich darauf. Sie sehen auf meiner Hand wie ein lebendes Siebengestirn aus. Aber ich beuge mich vornüber und blicke ihnen in die Augen und sehe, daß diese Augen blind sind. Ich lasse diese sieben Blinden los und fange sieben andere ein, und auch diese sind blind. Ach, alle waren blind, – der ganze Turm war voll blinder Engel, die sangen.

Ich rührte mich nicht, aber mir verging beinahe der Atem, als ich dies sah, und um dieser blinden Augen willen zog ein schmerzlicher Wehklang durch meine Seele.

Eine Minute verging. Ich liege und lausche und höre irgendwo weit fort einen schweren, groben Schlag, ich höre ihn so grausam deutlich, es donnerte noch lange danach: es war wieder die Turmuhr der Stadt, die schlug. Es schlug ein Uhr.

Und mit einemmal schwieg der Gesang der Engel. Ich sah, wie sie sich wieder ordneten und fortflogen, sie stiegen zum Dach auf, drängten einander, um fortzukommen, standen wie eine schräge Mauer aus eitel Licht empor, und alle sahen mich an, als sie fortflogen. Der letzte wandte sich um und blickte mich mit seinen blinden Augen noch einmal an, ehe er verschwand.

Dieser eine Engel, der sich umwandte und mich ansah, obwohl er blind war, ist meine letzte Erinnerung. Dann wurde alles dunkel. Ich fiel ins Bett zurück und schlief ein …

Als ich erwachte, war es heller Tag. Ich war immer noch allein in dem gewölbten Raum. Meine Kleider lagen vor mir auf dem Boden. Ich befühlte sie, sie waren noch ein wenig naß, aber ich zog sie dennoch an. Dann geht die Türe auf, und das Mädchen vom Abend vorher zeigt sich wieder.

Sie kommt zu mir her, und ich sage:

Woher kommst du? Wo warst du heute nacht?

Dort oben, erwidert sie und deutet zum Dach des Turmes hinauf.

Hast du nicht geschlafen?

Nein, ich habe nicht geschlafen. Ich habe gewacht.

Hörtest du nicht Musik heute nacht? fragte ich. Ich habe eine unbeschreibliche Musik gehört.

Und sie antwortete:

Doch, ich spielte und sang.

Du warst es? Sage mir, Kind, warst du es wirklich?

Ich war es.

Sie reichte mir die Hand und sagte: Jetzt komm. Ich werde dich auf den Weg führen.

Hand in Hand verließen wir den Turm und gingen in den Wald hinaus. Die Sonne schien auf ihr goldenes Haar, und ihre schwarzen Augen waren herrlich anzusehen. Ich nahm sie in meine Arme und küßte zweimal ihre Stirne, dann fiel ich vor ihr auf die Knie nieder. Mit bebenden Händen löste sie ein schwarzes Band und knüpfte es mir um das eine Handgelenk; doch während sie dies tat, weinte sie und war bewegt. Ich fragte:

Weshalb weinst du? Verlaß mich, wenn ich dir weh getan habe!

Aber sie antwortete nur:

Kannst du die Stadt von hier aus sehen?

Nein, antwortete ich, ich kann die Stadt nicht sehen. Kannst du es?

Steh auf und laß uns weiter gehen, sagte sie. Wieder führte sie mich. Noch einmal blieb ich stehen und nahm sie an meine Brust und sagte:

Wie ich dich lieben muß, wie du mich mit Glück erfüllst!

Und auch sie bebte in meinen Armen, aber sie sagte trotzdem:

Jetzt muß ich umkehren. Du kannst doch die Stadt schon sehen?

Ja, erwiderte ich, das kannst du wohl auch?

Nein, antwortete sie.

Warum nicht? fragte ich.

Sie trat von mir zurück und sah mich mit großen Augen an, und ehe sie ging, verneigte sie sich tief vor mir. Als sie einige Schritte gegangen war, wandte sie sich noch einmal um und sah mich an.

Da aber erkannte ich, daß auch ihre Augen blind waren …

Nun kamen zwölf Stunden, über die ich nicht Rechenschaft ablegen kann, und die in mir ausgelöscht sind. Ich weiß nicht, wohin sie gekommen sind. Ich habe mich vor den Kopf geschlagen und mir gesagt: Es handelt sich um zwölf Stunden, sie müssen irgendwo da drinnen sein, sie haben sich nur versteckt, ich muß sie finden. Und doch habe ich sie nicht gefunden …

Wieder ist es Abend, ein dunkler, milder Herbstabend. Ich sitze in meinem Zimmer und halte ein Buch in der Hand. Ich sehe an meinen Beinen hinunter, sie sind noch ein wenig naß; ich schaue mein Handgelenk an, ein Stück schwarzen Bandes ist darum gebunden. Alles hat seine Richtigkeit.

Ich klingle dem Mädchen und frage, ob hier in der Nähe ein Turm stehe, irgendwo im Wald, ein schwarzer, achteckiger Turm. – Das Mädchen nickt und sagt: Ja, es gibt hier einen solchen Turm. – Und wohnen dort auch Menschen? – Ja, ein Mann wohnt dort, aber er ist krank, er ist besessen; man nennt ihn den Irrwisch. Der Irrwisch hat eine Tochter, und sie wohnt auch im Turm; sonst wohnt niemand dort. – Schön, gute Nacht!

Dann gehe ich zu Bett.

Zeitig am nächsten Morgen begebe ich mich in den Wald.

Ich wandere den gleichen Weg und sehe die gleichen Bäume und finde auch den Turm. Ich nähere mich dem Tor und stoße dort auf einen Anblick, der mir das Herz stillstehen läßt: Das blinde Mädchen liegt auf der Erde, zerschmettert von einem Sturz, tot, vollkommen zerrissen. Da liegt sie mit geöffnetem Mund, und die Sonne scheint auf ihr rotes Haar. Und oben an der Dachkante des Turmes flattert noch ein Stück ihres Kleides, das dort hängengeblieben ist; aber unten auf dem Kiesweg geht der kleine Mann umher, der Vater, und blickt die Leiche an. Seine Brust krümmt sich vor Schmerz, und er schreit laut, aber er weiß nichts anderes zu tun als nur die Leiche zu umkreisen und sie anzusehen und zu schreien. Als seine Augen auf mich fielen, erzitterte ich vor seinem grauenhaften Blick und flüchtete entsetzt in die Stadt zurück. Ich habe ihn nie wiedergesehen …

Das war mein Abenteuer.

Beide schwiegen lange. Dagny sah zu Boden und ging ganz langsam. Endlich sagte sie: Mein Gott, welch ein seltsames Abenteuer!

Dann trat wieder Stille ein, und Nagel versuchte sie ein paarmal mit einer Bemerkung über den tiefen Frieden des Waldes zu brechen.

Verspüren Sie, wie der Wald gerade hier duftet? Wollen wir uns nicht ein wenig setzen?

Sie setzte sich, immer noch still, immer noch gedankenvoll, und er ließ sich ihr gegenüber nieder.

Er fühlte sich verpflichtet, sie wieder fröhlich zu machen. Es sei doch eigentlich kein trauriges Märchen gewesen, es sei ja ein lustiges Märchen gewesen. Pah! Nein, in Indien – in Indien, da gebe es andere Märchen, die nähmen einem den Atem und durcheisten einen mit Schrecken. Es gäbe zwei Arten von indischen Märchen: die überirdischen, herrlichen, mit Diamantenhöhlen, Prinzen aus den Bergen, verführerischen Schönheiten aus dem Meere, Geistern der Erde und der Luft, Perlenpalästen, fliegenden Pferden, Wäldern aus Silber und Gold. Andere hingegen beschrieben mit Vorliebe das Mystische, das Große und Besondere und Wunderbare; überhaupt gleicht kein Volk im Ausbrüten ungeheurer Fieberausgeburten eines sich aufbäumenden Hirns den Bewohnern des Ostens. Ihr Leben werde von Anfang an in einer Welt der Märchen hingelebt, und sie sprächen ebenso leicht von den wilden Feenpalästen hinter den Bergen wie von dem stummen Gewaltigen in der Wolke, der großen Macht, die dort oben im Raume haust und Sterne kaut. Aber das alles schreibe sich davon her, daß diese Menschen unter einer anderen Sonne lebten und Früchte aßen anstatt Beefsteak. Dagny fragte:

Aber haben wir nicht selbst ausgezeichnete Märchen?

Wunderbare. Nur sind sie von anderer Art. Wir haben keinen Begriff von einer Sonne, die bis zur Unwahrscheinlichkeit leuchten und brennen kann. Unsere Huldre-Märchen halten sich an die Erde, halten sich unter der Erde, sie sind Ausgeburten einer Phantasie in ledernen Hosen, ausgebrütet in dunklen Winternächten in Balkenhütten mit Rauchlöchern im Dach. Ob sie jemals die Abenteuer aus Tausendundeiner Nacht gelesen habe? Die Märchen aus dem Gudbrandstal dagegen, diese merkwürdigen bäuerlichen Poesien, diese Phantasien, die zu Fuß gingen, die gehören uns, die sind unser Geist. Wir erschauern nicht bei unseren Abenteuern, sie sind gemütlich und gelungen, wir lachen darüber. Unser Held ist kein prachtvoller Prinz, sondern ein verschmitzter Küster. Wie bitte? Nun ja, die Abenteuer aus dem Nordland, sind sie nicht ebenso? Was hätten wir aus der mystischen und rohen Köstlichkeit des Meeres machen können! Schon allein ein solches Nordlandschiff wäre für den Orientalen ein Fabelboot gewesen, ein Fahrzeug der Geister. Ob sie ein solches Schiff schon gesehen habe? Nicht? Es sehe aus, als habe es ein Geschlecht, als sei es ein großes weibliches Tier, mit einem Bauch, der von den Jungen ausgebeult sei, mit einem flachen Hinterteil, auf das es sich setzen könne. Sein Schnabel stehe in die Luft wie ein Horn, das die vier Winde herbeirufen könne … Nein, wir leben zu hoch oben im Norden. Na, das solle nur in aller Bescheidenheit die Ansicht eines Agronomen über ein geographisches Phänomen sein.

Nun war sie wohl seines Geredes müde geworden, ihre blauen Augen schienen ein wenig zu verspotten, sie fragte:

Wieviel Uhr ist es?

Wieviel Uhr? wiederholte er geistesabwesend, es ist wohl ein Uhr. Es ist noch früh, die Stunde hat nichts zu sagen!

Pause.

Was halten Sie von Tolstoi? fragte sie.

Ich mag ihn nicht, antwortete er sofort und ging gleich darauf los. Ich mag Anna Karenina und Krieg und Frieden und …

Da fragte sie lächelnd: Und welche Meinung haben Sie über den ewigen Frieden?

Das war ein guter Hieb. Er wechselte den Ausdruck und wurde verwirrt.

Was meinen Sie damit? … Ja so, ich habe Sie zu Tode gelangweilt.

Nein, durchaus nicht. Es fiel mir nur ein, daß … sagte sie hastig und wurde rot. Sie müssen es nicht böse aufnehmen. Die Sache ist die: wir wollen einen Basar veranstalten, eine Abendunterhaltung zum Besten der Landesverteidigung. Das ging mir nur eben so durch den Kopf.

Pause. Plötzlich sieht er zu ihr auf, und seine Augen strahlen.

Ich bin heute abend so froh und habe deshalb vielleicht zuviel geschwätzt. Ich bin über alles froh, vor allem aber, weil ich hier mit Ihnen zusammen gehen darf. Dann aber bin ich auch froh, weil ich finde, daß diese Nacht die schönste ist, die ich je erlebt habe. Ich begreife das nicht. Es ist, als sei ich ein Teil dieses Waldes oder dieser Gegend, ein Ast an einer Kiefer oder ein Stein, meinetwegen auch ein Stein, aber ein Stein, der von all dem zarten Duft und Frieden, der uns umgibt, durchdrungen ist. Sehen Sie dort hin, jetzt leuchtet es schon, dort liegt ein Streifen aus Silber.

Beide sahen sie zu dem weißen Streifen hin.

Auch ich bin heute abend froh, sagte sie.

Und dies sagte sie, ohne dazu genötigt zu sein, aus freiem Willen, unmittelbar, als bereite es ihr Freude, dies zu sagen. Nagel sah ihr aufmerksam ins Gesicht und bekam wieder Wasser auf seine Mühle. Nervös, impulsiv begann er über die Johannisnacht zu sprechen, und daß der Wald dastände und sich wiege und sause, wiege und sause, daß der grauende Tag dort eine Veränderung in ihm hervorrufe, andere Mächte in seinem Innern zur Oberherrschaft bringe. Grundtvig singt: Wir fühlen es als Kinder des Lichts, daß die Nacht, die Nacht, nun vorbei ist! – Falls er aber zuviel spreche, könne er ihr vielleicht lieber ein kleines Kunststück mit einem Halm und einem Zweig zeigen, wobei der Halm stärker sei als der Zweig. Alles wolle er für sie tun … Sehen Sie her, lassen Sie mich nur auf das kleinste Ding, das Eindruck auf mich macht, hinweisen, auf diesen Wacholderstrauch dort. Er beugt sich uns förmlich entgegen und sieht freundlich aus. Und von Kiefer zu Kiefer spannt die Spinne ihre Gewebe; sie gleichen einer merkwürdigen chinesischen Arbeit, gleichen einer Sonne, aus Wasser gesponnen. Sie frieren doch hoffentlich nicht? Ich bin sicher, daß jetzt warme, lachende Elfenmädchen uns umtanzen; aber trotzdem will ich ein Feuer anzünden, wenn Sie frieren … Da fällt mir eben ein: wurde nicht hier in der Nähe Karlsen gefunden?

War das die Vergeltung für den Hieb, den sie ihm gegeben? Bei ihm war alles möglich.

Mit einem Ausdruck des Unwillens fuhr sie auf und antwortete:

Lassen Sie ihn in Frieden, ich bitte Sie. Hat man so etwas gehört!

Entschuldigen Sie! sagte er sofort und lenkte ab. Man sagt nur, er sei in Sie verliebt gewesen, – und das kann ich ihm nicht verdenken …

In mich verliebt? Sagt man nicht auch, daß er sich um meinetwillen umgebracht habe, mit meinem Federmesser? Nein, jetzt müssen wir gehen.

Sie erhob sich. Sie hatte mit einem Anflug von Traurigkeit gesprochen, ohne Verlegenheit und ohne Verstellung. Er war äußerst erstaunt. Sie wußte, daß sie sogar einen ihrer Anbeter in den Tod getrieben hatte, und sie machte weiter nichts daraus, spottete nicht darüber, nützte es aber auch nicht zu ihrem Vorteil aus, sprach nur davon wie von einer beklagenswerten Begebenheit und ließ es dann liegen. Die langen, hellen Nackenhaare fielen über den Kragen des Kleides, und ihre Wange hatte eine warme, frische Farbe, auf der vom Tau der Nacht eine Dunkelheit lag. Wenn sie ging, wiegte sie sich ein wenig in den hohen Hüften.

Sie waren aus dem Wald herausgekommen, eine helle Lichtung lag vor ihnen, ein Hund bellte, und Nagel sagte:

Dort ist schon der Pfarrhof. Wie behaglich das aussieht: diese großen, weißen Gebäude mit dem Garten und der Hundehütte und der Flaggenstange mitten im dichtesten Wald. Glauben Sie nicht, gnädiges Fräulein, daß Sie sich doch wieder hierher sehnen werden, wenn Sie jetzt einmal fortreisen, ich meine, wenn Sie sich verheiraten? Ja, es kommt ja darauf an, wo Sie wohnen werden.

Daran habe ich noch nicht gedacht, antwortete sie. Und sie fügte hinzu: Jeder Tag hat seine Sorge.

Jeder Tag hat seine Freude! sagte er.

Pause. Gewiß dachte sie nun über seine Worte nach.

Hören Sie, Sie dürfen sich nicht wundern, daß ich noch so spät in der Nacht mit Ihnen umhergewandert bin, nicht wahr? Wir pflegen das hier so zu tun. Wir sind schließlich hier alle nur Bauern, nur Naturkinder. Der Adjunkt und ich sind auf diesem Weg oft bis zum hellen Morgen umhergegangen und haben geschwätzt.

Der Adjunkt? Ich habe den Eindruck, daß der nicht sehr redselig ist.

Ja, meistens habe auch ich gesprochen, das heißt: ich habe gefragt, und er hat geantwortet … Was tun Sie jetzt, wenn Sie heimkommen?

Jetzt? antwortete Nagel. Wenn ich heimkomme? Ich lege mich hin und schlafe bis – ja, bis gegen Mittag, schlafe wie ein Stein, wie tot, ohne zu erwachen und ohne zu träumen. Was tun Sie?

Denken Sie nicht noch nach? Bleiben Sie nicht lange Zeit wach liegen und denken an verschiedenes? Können Sie denn gleich schlafen?

Augenblicklich. Sie nicht?

Hören Sie, da singt schon ein Vogel. Nein, es muß später sein, als Sie sagen; zeigen Sie mir bitte Ihre Uhr. Aber mein Gott, es ist ja drei Uhr, beinahe vier Uhr! Weshalb behaupteten Sie vor kurzem, es sei erst ein Uhr?

Verzeihen Sie mir! antwortete er.

Sie sah ihn an, ohne Mißvergnügen übrigens, und meinte:

Sie hätten mich nicht zu belügen brauchen. Ich wäre trotzdem so lange geblieben, ich sage das genau so, wie ich es meine. Ich hoffe, Sie legen in diese Worte nicht mehr, als Sie dürfen. Ich habe nicht viele Vergnügungen, und die wenigen, die sich mir bieten, ergreife ich mit beiden Händen. Ich bin es gewohnt, so zu leben, seit wir hierherkamen, ich glaube nicht, daß jemand daran Anstoß genommen hat. Ja, das weiß ich übrigens nicht, aber es ist auch gleichgültig. Papa sagt auf jeden Fall nichts darüber, und nach ihm richte ich mich. Kommen Sie, wir gehen noch ein kleines Stück weiter.

Sie gingen am Pfarrhof vorbei und in den Wald auf der anderen Seite der Lichtung. Die Vögel sangen, der weiße Tagesstreifen im Osten wurde breiter und breiter. Das Gespräch fiel ein wenig ab und drehte sich um gleichgültige Dinge.

Dann kehrten sie um und gingen zum Tor des Pfarrhofes zurück.

Ja, jetzt komme ich, Bisk, sagte sie zum Hunde, der an seiner Kette zerrte. Dank für die Begleitung, Herr Nagel; es war ein schöner Abend. Jetzt kann ich auch meinem Verlobten etwas erzählen, wenn ich schreibe. Ich werde sagen, daß Sie ein Mann sind, der mit allen wegen allem uneinig ist. Dann wird er sich schrecklich wundern. Ich sehe, wie er an dem Brief herumstudiert und es nicht begreifen kann. Nein. Er ist nämlich so herzlich gut, Gott, wie gut er ist! Er widerspricht niemand. Es ist nur schade, daß Sie ihn nicht treffen werden, während Sie hier sind. Gute Nacht!

Und Nagel erwiderte: Gute Nacht, gute Nacht, und sah ihr nach, bis sie im Hause verschwunden war.

Er nahm seine Mütze ab und trug sie in der Hand durch den Wald. Er war außerordentlich gedankenvoll; oft blieb er stehen und sah vom Weg auf, starrte einen Augenblick gerade vor sich hin und ging dann mit kleinen, langsamen Schritten weiter. Welche Stimme! Welch eine Stimme sie hatte! Hatte man jemals etwas Ähnliches gehört, eine Stimme, die wie von Gesang zitterte!


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